Rezension über:

Chiara Frugoni: Paure medievali. Epidemie, prodigi, fine del tempo, Bologna: il Mulino 2020, 395 S., ISBN 978-88-15-29064-9, EUR 40,00
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Rezension von:
Boris Röhrl
Hochschule RheinMain, Wiesbaden
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Boris Röhrl: Rezension von: Chiara Frugoni: Paure medievali. Epidemie, prodigi, fine del tempo, Bologna: il Mulino 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/36333.html


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Chiara Frugoni: Paure medievali

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Chiara Frugoni ist in Italien eine bekannte Autorin, deren Werke in vielen Buchhandlungen zu finden sind. Ihre Fähigkeit, das alltägliche Leben der Menschen des Mittelalters anschaulich zu schildern und interessante Aspekte darzustellen, hat der Sozialgeschichte der Kunst in Italien eine neue Leserschicht außerhalb der Universitäten erschlossen. [1] In Deutschland gibt es kein ähnliches Phänomen. Ihr neuestes Werk beschreibt die Paure medievali ("Die Ängste des Mittelalters"). Da dieses Werk im November 2020 in den Buchhandel kam, müssen die Vorarbeiten bereits 2019 abgeschlossen gewesen sein.

Das Werk gliedert sich in fünf große Kapitel und schildert die zahlreichen Bedrohungen - teilweise realer, teilweise religiöser Natur - denen sich die Menschen des Mittelalters ausgesetzt sahen. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Angst vor der Apokalypse, welche in der Bibel als zukünftiges Ereignis vorhergesagt wird und welche für die Menschen des Mittelalters eine ganz reale Gefahr darstellte. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts, die wir glauben, in einem aufgeklärten, rational orientierten Zeitalters zu leben, scheinen Befürchtungen wie diese auf dem irrationalen Denken einer "dunklen Epoche" zu beruhen. Wir schieben diese Vorstellung lächelnd beiseite, denn wir wähnen uns, anderen Epochen überlegen zu sein.

Im Folgenden werden drei interessante Aspekte des Buches vorgestellt, die in der modernen Literatur selten erörtert werden: Die Angst vor "andersartigen" Menschen, vor der Lepra und vor dem Hunger.

Die Menschen in den verschiedenen isolierten Regionen des ehemaligen weströmischen Reiches hatten eine tiefsitzende Furcht vor Menschen anderer ethnischer Herkunft und Religion. Dies betraf vor allem die Hebräer und Menschen des islamischen Glaubensbekenntnisses. Vor dem 11. Jahrhundert waren die Juden freie Menschen und vermischten sich mit der lokalen Bevölkerung. Sie wurden auf Bildern nicht anders dargestellt als der Rest der Bevölkerung. [2] Zu den ersten Massakern an der jüdischen Bevölkerung kam es 1096 entlang des Rheins und dann in anderen Gebieten Westeuropas. Ab diesem Zeitpunkt scheint sich eine gewisse Ikonographie zur Darstellung von Juden herausgebildet zu haben (Hakennase, dunkle Haare, Kennzeichnung durch Hüte, angenähte Zeichen an der Kleidung etc.). In einer ähnlich negativen Ikonographie wurden Schwarzafrikaner und Sarazenen dargestellt. Beispielsweise wurden der Teufel und seine Gehilfen stets "schwarz" dargestellt.

Ein Thema, das in der kunstgeschichtlichen Literatur selten behandelt wird, ist die Darstellung der Lepra. [4] Die Lepra wurde ab dem frühen Mittelalter als eine hochansteckende Krankheit angesehen. Selbst Familienangehörige von Leprakranken, die nicht infiziert waren, wurden zusammen mit den Kranken ausgestoßen und mussten sich zwischen 1150 bis 1250 in Gemeinschaften außerhalb der Dörfer und Städte isolieren. Das Kennzeichen der Leprakranken war eine Ratsche aus Holz, die aus drei Lamellen bestand, mit der sie ein akustisches Signal geben konnten, wenn sich ihnen ein Nichtinfizierter näherte. Es existieren einige Zeugnisse der Buchmalerei vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, in denen Figuren, die offenbar unversehrt sind, dieses Gerät in der der Hand halten. Vom damaligen Betrachter der Illustrationen konnten diese Personen als Leprakranke identifiziert werden. Auf anderen Bildern sind die Leprakranken mit roten Punkten übersäht dargestellt. Leider zieht Frugoni nicht den Vergleich zu den ostasiatischen Kulturen, der erhellend gewesen wäre. Dort gab es lange Zeit noch rigorosere Isolationsmaßnahmen. In Japan mussten sich Leprakranke noch im frühen 20. Jahrhundert auf Inseln von Rest der Bevölkerung isolieren, oftmals das ganze Leben lang. In Europa nahmen sich ab Mitte des 12. Jahrhunderts die Franziskaner der Leprakranken an und versuchten, durch eine bessere Hygiene und Kräuter das Los dieser Menschen zu verbessern. So existieren Tafelgemälde im byzantinischen Stil aus dem 12. Jahrhundert, in denen die Waschung von Leprakranken durch den Hl. Franziskus gezeigt wird. [3] Es sind dies erstaunliche Bildzeugnisse aus einer Zeit, in der ein absolutes Berührungsverbot für Leprakranke galt. Die Lepra ging am Ende des 13. Jahrhunderts zurück und verschwand aus einigen Gebieten ganz.

Den Menschen des 21. Jahrhunderts in den wohlhabenden Nationen ist die visuelle Darstellung des "Hungers" weitgehend fremd. Für die Menschen des europäischen Mittelalters war die Katastrophe des Hungers eine stets präsente, reale und furchtbare Bedrohung, denn in der Zeit nach 1000 hielt die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktionsmittel und die Erschließung neuer landwirtschaftlicher Produktionsflächen in einigen Jahrzehnten nicht Schritt mit dem Bevölkerungswachstum. Bezeichnenderweise konnte "Hunger" in der Ikonographie des Mittelalters nur symbolisch dargestellt werden. Darstellungen der Anthropophagie existieren. Diese Bilder scheinen auf realen Ereignissen zu beruhen, wenn man die Aufzeichnungen der mittelalterlichen Chronisten über die Hungersnöte der Zeit nach dem Jahr 1000 liest. [4]

Es hat in der hochentwickelten Malerei nach Giotto einige Darstellungen gegeben, in denen eine Hungersnot in einer komplexen Weise dargestellt wurde. In dem Libro del Biadaiolo aus der Zeit um 1340 wird die Hungersnot in Florenz im Jahr 1329 in Wort und Bild beschrieben. [5] Zwei Miniaturen zeigen das Land und die Stadt Florenz in den Zeiten des Überflusses, während in den zwei darauffolgenden Miniaturen die Auswirkungen der Hungersnot auf dem Land und in der Stadt drastisch vorgeführt werden. Diese Darstellungen kann man auf dem ersten Blick nicht deuten, da sie von der traditionellen Ikonographie gänzlich abweichen.

Die Hungersnot wird als der "gerechte Zorn Gottes" über das sündige Treiben der Menschen interpretiert. Auf einer Miniatur, die Frugoni Il mercato di Orsanmichele durante la carestia nennt, sieht man eine Menschenmenge, die wild durcheinander rennt und die nur teilweise von Bewaffneten in Schach gehalten werden kann. Da Orsanmichele der große Getreidespeicher von Florenz war, sammelten sich hier die Menschen aus der Stadt und dem Land in der Hoffnung, etwa Essbares zu ergattern. Das Bild zeigt deutlich, dass die Fässer des Speichers fast leer sind. Die Hungernden verüben brutale Gewalttaten gegen Andere: Ein Mann bedroht eine junge Frau und ihre zwei Kinder mit einem Messer; ein Dieb stiehlt einem Mann Geld; ein Wohlhabender wird im Gedränge von zwei Männern festgehalten, die versuchen, ihm den Holzstab zu entreißen, der ihm das Privileg sichert, vom Boden der Fässer einige Körner herauskratzen zu dürfen. Der Kampf um Nahrungsmittel vor Orsanmichele während der Hungersnot wird von einem zeitgenössischen Chronisten folgendermaßen beschrieben:

"Es war das Menschengedränge so gewaltig, dass einer an den anderen dicht an dicht stand und dass die Leute heftig und mit Gewalt aufeinander einschlugen. Das Jammern, das Weinen und die Schreie waren so groß, dass alles ein Ton zu sein schien." [6]

Paure Medievali ist sicherlich ein Hauptwerk von Chiara Frugoni. Welche Erkenntnis kann man aus dem Buch ziehen?

In der Folge von Epidemien oder Hungersnöten entwickelte sich ein gewisser Mechanismus, der weitere Ereignisse erzeugte. Diese Abfolge wird zwar von Frugoni geschildert, aber man hat den Eindruck, dass die Autorin diese Struktur nur teilweise erkennt oder keine weitergehende Interpretation liefern möchte. So schildert sie, dass man in der Folge von Epidemien oftmals nach Schuldigen suchte, die man als Verursacher zu erkennen glaubte. Es waren ethnische Minderheiten oder Andersgläubige, die bestraft wurden. Jedoch hatten Epidemien oder Hungersnöte oftmals einen verstärkenden Effekt, die eine Angst vor dem Weltende hervorriefen, welche die Massen vollends in Panik versetzte. So traten in der Folge von Epidemien oder Hungersnöten oftmals "Seher" oder gesellschaftliche Gruppen auf, welche vor der nahen Apokalypse warnten. Die Menschen sollten Einkehr und Buße tun und der weltlichen Dinge entsagen, nur so könnte die Apokalypse gestoppt werden. Wer möchte hier nicht Parallelen zur Gegenwart erkennen? Ein weiterer erhellender Punkt ist der Vergleich der ständig gefährdeten Existenz des mittelalterlichen Menschen mit unserer Epoche, in welcher der Anspruch gestellt wird, ein langes, ruhiges und ungefährdetes Leben durch permanente und drastische staatliche Maßnahmen zu garantieren.


Anmerkungen:

[1] In deutscher Übersetzung gibt es nur wenige Werke der Autorin, z.B. Das Mittelalter auf der Nase. Brillen, Bücher, Bankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters, München 2003.

[2] Chiara Frugoni: Paure medievali, Bologna 2020, 171.

[3] Francesco cura i lebbrosi, Florenz, Santa Croce, Cappella Bardi, um 1243, 270-298.

[4] Einen späten Reflex findet man noch in den europäischen Märchen und Sagen, z.B. bei "Hänsel und Gretel", wobei die italienischen Märchen in dieser Hinsicht wesentlich drastischer sind. Siehe hierzu die Anthologie klassischer Sammlung italienischer Märchen: Italo Calvino: Italienische Märchen, Zürich 1975.

[5] Siehe Kapitel "Firenze 1329, fame, violenza e disperazione", 147-164.

[6] "Era la calcha sì grande che stava l'uno sopra all'altro e percotevansi [mod. Italienisch: percuotevano] l'uno coll'altro fortemente, e la grida, pianto e urli v'era sì grande che pareva un tuono." Giuliano Pinto, Il libro del Biadaiolo, Florenz 1978, zit. nach Frugoni, 158.

Boris Röhrl