Alain J. Lemaître / Odile Kammerer (eds.): L'Alsace au XVIIIe siècle. L'aigle et le lys, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2022, 310 S., ISBN 978-3-503-20637-7, EUR 69,95
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Jüngere Forschungen zur Frühen Neuzeit haben sich verstärkt Problemen von Informationsakquise und Wissensgenerierung zugewandt. Dabei sind wegweisende Studien zur Rolle der Schriftlichkeit in "papierbasierten Informationssystemen" entstanden, um die von Markus Friedrich in seinen Arbeiten zum Jesuitenorden geprägte Begrifflichkeit aufzugreifen. [1] Die französischen Historiker Mathieu Stoll und Thierry Sarmant sprechen in ihren Untersuchungen zur Schriftlichkeit als Regierungspraxis in Frankreich von einem "royaume de papier". [2] Vor allem seit der Herrschaftszeit Ludwigs XIV. und der Amtszeit des für Finanzen und Wirtschaft zuständigen Ministers Jean-Baptiste Colbert wurden auf dem Wege schriftbasierter Informationen (neben dem regelmäßigen Korrespondenzfluss insbesondere Denkschriften) die einzelnen Provinzen des Königreichs erschlossen. Dabei galt eine besondere Aufmerksamkeit den neu erworbenen Territorien, namentlich dem Elsass. Die Praxis des Verfassens von Denkschriften durch landeskundige Amtsträger, die oftmals unter der Aufsicht des Intendanten an der Spitze der französisch-königlichen Verwaltungsstrukturen im Elsass arbeiteten, wurde nebst der kartographischen Erfassung im 18. Jahrhundert fortgesetzt. Dabei entstanden sehr aufschlussreiche, von der Forschung bislang im Vergleich zu den Quellen aus dem späteren 17. Jahrhundert weniger beachtete Dokumente.
Ein solches Memorandum wird der Forschung in dem hier rezensierten Band von den beiden französischen Historikern Alain J. Lemaître und Odile Kammerer bereitgestellt. Es handelt sich um das in den 1730er-Jahren, während des Polnischen Thronfolgekrieges, entstandene "Mémoire sur la province d'Alsace par M. Peloux, secrétaire de M. de Brou, intendant de la province". Sein Verfasser gehört zu den Personen aus der zweiten Riege der Verwaltung, über die wir (ähnlich wie bei Botschaftssekretären) nur sehr rudimentäre Kenntnisse besitzen. Von 1730 bis 1737 wirkte Peloux als Sekretär des königlichen Intendanten im Elsass. Seit 1732 arbeitete er an seiner Denkschrift, zeitweise von Italien aus, wohin er während des Polnischen Thronfolgekrieges mit Aufgaben in der französischen Militärverwaltung entsandt wurde.
Kontext, Genese, Überlieferung und Bedeutung des Quellentextes für die Forschung werden in der knapp 70 Seiten umfassenden Einleitung aus der Feder Alain Lemaîtres detailliert analysiert. Dabei trägt Lemaître auch die wenigen über Peloux und dessen Wirken verfügbaren Nachrichten unter Benutzung archivalischer Quellen zusammen, insbesondere aus den Beständen des französischen Verteidigungsministeriums. In der Einleitung werden schwerpunktmäßig Probleme der monarchischen Zentralisierung und der administrativen Durchdringung des Elsass behandelt, ferner die Konkurrenz zwischen französisch-königlichen Souveränitätsrechten und traditioneller Landeshoheit, die Sonderrolle des Elsass als in einigen Punkten, etwa dem Zollrecht, dem Ausland gleichgesetzter französischer Provinz (province à l'instar de l'étranger effectif), Steuerwesen und Kriegswirtschaft sowie die vor 1789 unabgeschlossene, aber vor allem in den Bereichen Konfessionsrecht und Sprachen vom Königtum offensiv vorangetriebene Politik der Angleichung des Elsass an das Kern-Königreich (francisation).
Das Quellendokument selbst wird nebst Apparat auf etwa 220 Druckseiten dargeboten. Als Druckvorlage wurde die einzig nachweisbare Überlieferung in der französischen Nationalbibliothek herangezogen (Manuscrit français 8152) und gemäß den in der Einführung notifizierten Kriterien in Bezug auf Interpunktion und Orthographie behutsam vereinheitlicht und modernisiert.
Die kritische Edition des Quellentextes ist als mustergültig zu betrachten. Mit Alain Lemaître und Odile Kammerer zeichnen ein ausgewiesener Experte der französischen Monarchie, ihrer Herrschaftsstrukturen, Institutionen und Territorien in der Frühen Neuzeit sowie eine deutschlandkundige Mediävistin, Absolventin der renommierten Archivhochschule École des Chartes und ehemals Konservatorin am Archiv des französischen Departements Oberrhein (Haut-Rhin), beide Elsass-Spezialisten und emeritierte Professoren der Universität Mülhausen (Mulhouse), verantwortlich.
Der Anmerkungsapparat erschließt im Quellentext erwähnte historische Begriffe, Personen, Orte, Texte und Sachverhalte unter vorbildlicher Benutzung der einschlägigen Hilfsmittel, von frühneuzeitlichen Druckwerken bis zur neuesten Forschungsliteratur. Der Quellenteil wird durch ein Personenregister und ein sehr hilfreiches Sachregister erschlossen, in dem punktuell auch Ortsnamen verzeichnet sind, etwa Städte bei den einzelnen Friedensverträgen oder als Gebirge (zugleich Wirtschafts- und Zollgrenze vor 1789) die Vogesen (Vosges), aber beispielsweise nicht der Rhein (Rhin), dafür generisch Flüsse (Rivières).
Der über eine breite humanistische und juristische Bildung verfügende Verfasser des Quellentextes eröffnet seine Denkschrift mit einer Einleitung, die insbesondere die einzelnen im Memorandum behandelten Themen aufführt. Im Anschluss werden vor allem die Geographie des Elsass, die Landwirtschaft, Gesellschaft und Kultur, Handel und Industrie, die Juden, königliche Domänen und Rechte, das Steuerwesen, religiöse und konfessionelle Fragen, Adel, Gerichtsbarkeiten und Amtsträger, freie und (ehemalige) Reichsstädte, Finanzen sowie Probleme der Landesverteidigung in der genannten Reihenfolge behandelt. Ein Schlussteil liegt nicht vor.
Der Quellentext und die Einleitung des Haupt-Herausgebers Alain Lemaître verdeutlichen, wie die sich über viele Jahrzehnte hinziehende Durchdringung der elsässischen Territorien durch die Herrschaftsansprüche und den Verwaltungsapparat der französischen Monarchie in steter Spannung zu internationalem Vertragsrecht und diversen konkurrierenden Rechtsansprüchen stand. Die königlichen Ansprüche ließen sich nur über einen permanenten Informationsfluss, in dem Denkschriften eine zentrale Rolle zukam, zielorientiert formulieren und vor Ort durchsetzen. Das edierte Memorandum illustriert aber auch höchst eindrucksvoll die Grenzen der französischen Herrschaftsdurchdringung, die vielfältigen Widerstände und die Probleme, auf die französische Amtsträger im Elsass trafen. Von einem homogenen Königreich, lässt sich, so konstatiert Lemaître zu Recht, vor 1789 nicht sprechen. Deutlich hervor treten auch die erst von der französischen Verwaltung geschaffenen Probleme, beispielsweise der durch das Verbot des Holzexports zusammengebrochene Verkauf von Wein und Seilwaren in die nördlichen Niederlande. Die Kappung des Handelsstroms in einem Warensektor ließen die beiden anderen wenig lukrativ erscheinen. Gelegentlich waren die Elsässer sogar schlechter gestellt als Kaufleute aus fremden Ländern. Bei der Ausfuhr von Textilwaren nach Kernfrankreich fielen Zölle an, von denen die benachbarten Schweizer durch ihre Verträge mit Frankreich befreit waren. Nicht nur auf dem Gebiet von Handel und Wirtschaft identifiziert Peloux die drängenden Probleme und unterbreitet eigene Lösungsvorschläge. Damit geht die Denkschrift über den Anspruch der Vermittlung von Informationen und Wissensbeständen einerseits weit hinaus, sofern die potentielle Behebung von Missständen auch der französischen Monarchie diente. Andererseits erscheinen elsässische Protestanten, die zu Beginn der französischen Herrschaft immerhin etwa ein Drittel der Landesbewohner stellten, fast ausschließlich als Objekte der königlichen Rekatholisierungspolitik und treten sonst unter Peloux' Feder kaum auf, sodass durchaus 'blinde Flecken' in seiner Denkschrift auszumachen sind. Elemente von Akkulturationspolitik, die sich im Elsass des 18. Jahrhunderts besonders im konfessionellen und sprachlichen Bereich finden, sind nicht zuletzt als politisch motivierte Maßnahmen vor dem Hintergrund der weiterhin bestehenden Verflechtungen mit dem Reich zu sehen; Peloux zufolge stand der Mehrheit der Elsässer noch in den 1730er-Jahren der Reichsadler ins Herz geschrieben, nicht die Lilien der französischen Monarchie.
Mit dieser sehr schönen Edition wird der Forschung ein aufschlussreiches Quellendokument bereitgestellt, das für die Geschichte sowohl des Elsass und des Oberrheingebietes als auch der französischen Monarchie, von der Verwaltungs- über die Wirtschafts- bis hin zur Umweltgeschichte, facettenreiche Materialien bereitstellt. Einige der im Text behandelten Probleme erweisen sich als bemerkenswert aktuell, etwa die Kritik des Verfassers an der fehlenden Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft.
Anmerkung:
[1] Markus Friedrich: 'Delegierter Augenschein' als Strukturprinzip administrativer Informationsgewinnung. Der Konflikt zwischen Claudio Acquaviva und den memoralistas um die Rolle von 'Information' im Jesuitenorden, in: Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich (eds.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände und Strategien (Pluralisierung und Autorität, 16), Berlin / Münster 2008, S. 109-135, Zitat 117.
[2] Thierry Sarmant / Mathieu Stoll: Régner et gouverner. Louis XIV et ses ministres, Paris 2019, Überschrift von Kapitel X, 437-491.
Guido Braun