Johannes Hürter / Tobias Hof (Hgg.): Verfilmte Trümmerlandschaften. Nachkriegserzählungen im internationalen Kino 1945-1949 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 119), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, VII + 335 S., ISBN 978-3-11-063273-6, EUR 24,95
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Die Zeichen stehen auf Entspannung: Geschichts- und Filmwissenschaft, die gerade im deutschsprachigen Raum lange wenig miteinander anfangen konnten, haben einen zarten Dialog begonnen, der mehr auf Komplementarität denn auf Konkurrenz setzt. Wichtige Voraussetzung dabei ist die Anerkenntnis von Spielfilmen als Artefakte und als historische Quellen.
Mit dem von Johannes Hürter und Tobias Hof herausgegebenen Band Verfilmte Trümmerlandschaften. Nachkriegserzählungen im internationalen Kino 1945-1949 setzt sich diese Entwicklung erfreulich fort. Der Band nimmt das Kino der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Blick. Die synchrone Perspektive bezieht sich auf die filmhistorische Entwicklung der "Übergangsjahre", den Wandel von Kriegs- zu Friedensgesellschaften, die nicht nur für die Achsenmächte, sondern auch für die alliierten Gewinner - USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich - eingenommen wird.
Auch wenn die Herausgeber in ihrer Einleitung bescheiden davon sprechen, dass "die geschichtswissenschaftliche Entschlüsselung bestimmter filmischer Narrative" zuungunsten "ästhetischer Fragen und künstlerischer Stilmittel" im Vordergrund stehe (4), ist damit schon ein methodisches Problembewusstsein formuliert, das im systematischen Aufsatz von Margit Szöllösi-Janze als Abkehr von der Aporie eines filmischen Abbildrealismus diskutiert wird. Die zentrale Frage danach, was es epistemologisch heißt, Spielfilme als historische Quellen zu verstehen, verbindet die Autorin mit einem theoriehistorischen Aufriss, der von Siegfried Kracauer ausgehend durch cultural und visual turn bis zum neu entstandenen historischen Problembewusstsein der Filmwissenschaft reicht. [1] Im Mittelpunkt steht dabei die Komplexität des Gegenstandes, die (nimmt man den für die Filmwissenschaft noch wichtigen emotional turn hinzu) dazu führt, dass die archäologischen Schichtungen der Quelle Spielfilm nicht nur historische Fakten und Narrative betreffen, sondern auch die Historizität der Wahrnehmungswelten selbst, in die die Filme die Zuschauenden einweben.
Der Band gliedert sich nach diesem programmatischen Auftakt in vier Teile. Teil I "Vergangenheiten" umfasst Beiträge, die sich jeweils mit der Intervention von Filmen in die Zeitläufe befassen. In Andrea Löws Beitrag geht es um den historischen Hintergrund des beim Publikum erfolgreichsten deutschen Nachkriegsfilms, Kurt Maetzigs Ehe im Schatten (D/SBZ 1948). Der Film macht, wie der in der britischen Zone uraufgeführte Morituri (D 1948, Eugen York), erstmals Judenverfolgung bzw. KZ zum zentralen Thema. [2] Harald Salomon zeigt an Akira Kurosawas Ich bereue meine Jugend nicht von 1946 auf, dass der Film zur Demokratisierung Japans durch eine katastrophale Überlieferung marginalisiert wird. Daniel Mollenhauer untersucht La bataille du rail von René Clément (F 1946) im Kontext seiner zeitgenössischen Produktionszusammenhänge. Den Anspruch des halbdokumentarischen Films auf Authentizität kann der Autor als geschickte Inszenierung spezifischer und allgemeingültiger Motive rund um die résistance aufzeigen.
In Teil II "Persönliche Beziehungen" geht es um die Darstellung der neu zu formierenden Bande in Familie und Gesellschaft sowie zwischen den Geschlechtern. Jörg Echternkamp beschäftigt der westdeutsche Liebe 47 (D 1949, Wolfgang Liebeneiner), der dem Autor Seismograph für den Wandel historischer Aufmerksamkeit ist. Scheint eine Verfilmung des erfolgreichen Theaterstücks Draußen vor der Tür 1947 noch Erfolg zu versprechen, wird die Uraufführung zum gewaltigen Flop. [3] Olaf Stieglitz fragt nach dem Realismus von William Wylers The best years of our lives (USA 1946). Der Film zeigt die zerstörten Lebensläufe der rückkehrenden weißen, männlichen, heterosexuellen Mittelschicht und deren (seinerzeit populäre) psychische Heilung. Bei The years between (GB 1946, Compton Bennett) handelt es sich laut James Jones um einen Film mit ähnlichem Sujet, der aber viel deutlicher den Kampf der Geschlechter um ihre (Nachkriegs-)Rollen betont. Film wird hier - Kracauers Medusenmetapher klingt an [4] - als Medium der Distanz verstanden, das die Wahrnehmbarkeit gesellschaftlicher Veränderung erlaubt. Annemone Christians ordnet die ersten beiden Nachkriegsfilme Yasujiro Ozus in dessen Gesamtwerk ein. Die Alltäglichkeit des Nachkriegslebens in Japan gestaltet Ozu mit neuen Techniken und neuer, am US-Melodrama orientierten Erzählstruktur. Hikari Nori widmet sich dem dritten großen japanischen Filmregisseur: Kenji Mizoguchi und seinem Film Women of the night von 1948, der die Ambivalenz des Geschlechterverständnisses Nachkriegsjapans aufzeigt.
Teil III "Identitäten" widmet sich der Identitätsfindung von Kriegsheimkehrern. Johannes Hürter verschränkt mit der Analyse von Irgendwo in Berlin (D/SBZ 1946) die Selbstfindung des Protagonisten und die des Regisseurs Gerhart Lamprecht, der an sein Œuvre vor 1933 anschließen will; er sieht es als seine Aufgabe, gerade Kinder vom Militarismus abzubringen. Der Realismus von Slatan Dudows Unser täglich Brot zeigt sich, so Andreas Kötzing, am Einsatz von Laiendarstellern sowie Originalschauplätzen und knüpft (erfolglos, weil zu schematisch) an Dudows Proletarierfilme der 1930er Jahre an. Tobias Hof legt den Fokus auf einen kaum beachteten Aspekt von Vittorio de Sicas Ladri di biciclette (IT 1948): Es sei das Fahrrad und das Fahrradfahren, die im Film Identität stiften. Thomas Raithel weist für Jour de fête von Jacques Tati (FR 1947) nach, dass es sich um eine Modernisierungsparodie handelt und nicht um einen reaktionären Film, wie von der Kritik behauptet. Helmut Altrichter/Lilia Antipow zeigen die Nachkriegssituation der UdSSR im Spiegel ihrer Spiel- und Dokumentarfilme auf.
Der identitäts- und sinnstiftenden Kraft der Religion widmet sich Teil IV des Bandes. Benjamin Städter begründet den Erfolg von Harald Brauns Nachwache (D 1949) durch die Verbindung existentieller Fragen mit der Ökumene. Michael Hochgeschwender macht schließlich in seiner luziden Analyse von Frank Capras It's a wonderful life (USA 1946) einsichtig, wie hochkomplex dieser unterschätzte Film katholische Gnaden- und Soziallehre mit genossenschaftlichen Ideen von Gemeinnutz (die an Thomas Jeffersons Demokratieverständnis orientiert sind) verbindet.
Der Band leistet durch seine close readings der Filme insgesamt einen wichtigen Beitrag dazu, Geschichts- und Filmwissenschaft als komplementäre Disziplinen zu verstehen. Wünschenswert wäre noch ein Beitrag zum französischen 'Religionsfilm' gewesen: Etwa zu Jean Delannoys La symphonie pastorale (FR 1946) oder Robert Bressons Journal d'un curé de campagne, der auch einen aufschlussreichen Vergleich zu Tatis Darstellung des Landlebens erlaubt hätte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Bernhard Groß: Filmgeschichte - Film, Geschichte und die Politik der Bilder, in: Handbuch Filmtheorie, hg. von dems. / Thomas Morsch, Wiesbaden 2021, 265-283; https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-08998-6_14.
[2] Zur historischen Poetik von Ehe im Schatten und Morituri siehe Bernhard Groß: Die Filme sind unter uns. Zur Geschichtlichkeit des frühen deutschen Nachkriegskinos, Berlin 2015, 346-360 und 388-406.
[3] Zur historischen Poetik von Liebe 47 siehe Bernhard Groß: Die Filme sind unter uns, a.a.O., 275-296.
[4] Siegfried Kracauer: Theorie des Films, Frankfurt / M. 2005, 395-397.
Bernhard Groß