Katarzyna Woniak: Zwangswelten. Alltags-und Emotionsgeschichte ponischer "Zivilarbeiter" in Berlin 1939-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, VI + 424 S., ISBN 9783506703101, EUR 68,00
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Katarzyna Woniaks am Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften entstandene Studie hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Woniak versucht, die Geschichte der Zwangsarbeit jenseits von lokal- und sozialgeschichtlichen Zugriffen zu erzählen. Sie verspricht eine Alltags- und Emotionsgeschichte und breitet ein vielfältiges Panorama der Zwangsarbeit von Polinnen und Polen in Berlin von 1939 bis 1945 aus. Dabei verwendet sie durchaus neue Blickwinkel. Insbesondere beschreibt Woniak die Zwangswelten der Zwangsarbeiter:innen sehr dicht als eine Belastung durch schwierige Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die ständige Bedrohung durch deutsche Gewalt oder Bombardierungen. Viel Platz widmet sie Sorgen wie Heimweh und Einsamkeit, aber auch zwischenmenschlichen Beziehungen.
Bei aller Kenntnis der Quellen stellt jedoch deren Auswahl eine Einschränkung für die Aussagekraft des Buches dar. Woniak nutzt ausschließlich zeitgenössische Dokumente, vorwiegend Justizakten und einige wenige Ego-Dokumente. Sie ist sich der Problematik dieser Auswahl durchaus bewusst und betont mehrfach, dass zum Beispiel Verhörprotokolle und deutsche Einschätzungen über verhaftete Zwangsarbeiter:innen nicht bedenkenlos belastbar seien. Mit genau dieser Begründung lehnt Woniak jedoch die Nutzung von lebensgeschichtlichen Interviews und Berichten ab - diese würden nicht das Erlebte wiedergeben, sondern seien von Erfahrungen überprägt (16). Einen Vorteil der nationalsozialistischen Überlieferung sieht sie darin, dass Sozialisation, materielle Lebensverhältnisse oder die Haltung der Zwangsarbeiter:innen zur Geltung kämen. Gerade solche Informationen liefern jedoch auch lebensgeschichtliche Zugänge der oral history. Genannt sei hier etwa die umfangreiche Interviewsammlung "Zwangsarbeit 1939-1945" der Freien Universität Berlin (https://www.zwangsarbeit-archiv.de/), die Woniak nicht in ihre Studie einbezieht.
In sieben thematischen Kapiteln folgt Woniak den klassischen Mustern der Geschichtsschreibung zur Zwangsarbeit. Das Buch hangelt sich an Themen wie Transport, Arbeit, Unterbringung, Versorgung, Alltag, Gefährdungen oder Kontakten in die Heimat und zu anderen Zwangsarbeiter:innen entlang. Das achte Kapitel zur Rückkehr der Zwangsarbeiter:innen umfasst erstaunlicherweise nur dreieinhalb Seiten. Verdienstvoll ist Woniaks Hinweis darauf, dass bereits die Erfahrungen im besetzten Polen die Zwangsarbeiter:innen entscheidend prägten.
Die Kapitelüberschriften sind jeweils Zitate aus den wenigen zeitgenössischen Ego-Dokumenten und betonen eine emotionale Dimension. "Für mich scheint keine Sonne mehr", ist etwa der Abschnitt zu den Rahmenbedingungen der Zwangsarbeit überschrieben. Angereichert werden die Kapitel zumeist mit Alltags- statt Emotionsgeschichte. Wie sich beide Zugriffe zueinander verhalten, bleibt in der Schwebe. Zum Gemütszustand von polnischen Zwangsarbeiter:innen trifft Woniak Annahmen, die durch Justizakten kaum gedeckt sein dürften: Einer amtsdeutschen Todesermittlung entnimmt sie, dass ein Pole aus Heimweh und weil ihn Erinnerungen an frühere Weihnachten quälten, Selbstmord beging (189f.). Bei einem während der Zwangsarbeit psychisch Erkrankten diagnostiziert sie, dass seine Erkrankung mit Entwurzelung, Sehnsucht und Angst vor der Zukunft zusammenhängen könnte (161).
Verwirrend wird es immer dann, wenn ein und derselbe Dokumentenfundus zwei unterschiedlichen Auslegungen dient. Unter der Überschrift "Euthanasie" führt Woniak den Polen Józef G. an, der verhaltensauffällig gewesen und deshalb eingewiesen worden sei - Woniak spekuliert, dass seine Erkrankung auf die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen zurückgeführt werden könnte (160). Unter der Überschrift "Sprache als Strategie" heißt es hingegen, G. sei in eine Heilanstalt überwiesen worden, weil er in einem Verhör vorgab, kein Deutsch zu verstehen.
Helena G. taucht dreimal im Text auf. Im Kapitel "Sprache als Option" gibt sie sich als Volksdeutsche aus, die wegen dieser Täuschung verhaftet wird (262f.). Unter "Loyalitäten" wird sie wegen eines Gesuchs um Urlaub angezeigt und kommt in ein Arbeitserziehungslager (274). Im Abschnitt "Freundschaften" wiederum nimmt die Geschichte ein besseres Ende: Helena G. kommt auf Empfehlung einer Freundin als Haushaltshilfe nach Berlin, ist mit der Arbeit sehr zufrieden und kann ihre Freundin häufig besuchen (300f.).
Dies sind leider nicht die einzigen Stellen im Buch, wo dieselben (Täter-)Dokumente - manchmal fast wortgleich - in unterschiedlichen Zusammenhängen und für abweichende Deutungen genutzt werden. Es ist durchaus plausibel, dass die Dokumente in sich widersprüchlich oder für verschiedene Lebensbereiche der Zwangsarbeiter:innen aussagekräftig sind. Jedoch macht Woniak weder die mehrfache Nutzung im Text kenntlich, noch versucht sie sich an biografischen Linien und Brüchen oder gar an Erklärungsversuchen für (scheinbare) Gegensätzlichkeiten. Deshalb ergibt sich der Eindruck eines willkürlichen Mosaiks von Deutungsversuchen.
Auch Zeit und Raum bleiben in Woniaks Studie diffus. Beispielsweise differenziert sie nicht zwischen den Jahren 1941, 1943 oder der Zeit nach dem Warschauer Aufstand, obwohl Dauer und Radikalisierung des Krieges auch für die Zwangsarbeit von großer Bedeutung waren. Sie schreibt über Berlin, doch die Stadt und ihre Milieus spielen eine untergeordnete Rolle. Wenn es etwa um Kontakte zwischen Zwangsarbeiter:innen und Deutschen geht, referiert Woniak zu katholischen Milieus im ländlichen Raum (248). Es wird nicht hinreichend deutlich, inwiefern Zwangsarbeit in Berlin Besonderheiten aufwies oder nicht: Was zeichnete die Arbeitsbedingungen oder Unterbringung in Berlin aus? War die Kontrolle von Zwangsarbeiter:innen in Berlin dichter oder konnte man in der Metropole abtauchen? Fielen in Berlin vergleichsweise mehr oder weniger Zwangsarbeiter:innen der Justiz in die Hände? Darauf und auf vieles mehr gibt das Buch keine Antworten. Auch Fragen danach, inwiefern Geschlecht, Alter, Bildung, Herkunft vom Land oder aus der Stadt, aus dem Generalgouvernement oder den eingegliederten Gebieten Polens die Zwangswelten beeinflussten, werden höchstens angedeutet, aber nicht überzeugend beantwortet.
Im Fazit kommt Woniak zu sechs Schlüssen: Die Besatzungserfahrung habe die Zwangsarbeiter:innen geprägt, Zwangsarbeiter:innen hätten Handlungsspielräume besessen, sie hätten (Überlebens-)Strategien entwickelt, sie seien eine heterogene Gruppe gewesen, ihre Lebenswelten seien Zwangswelten gewesen und ihre emotionale Perzeption und damit ihre Entscheidungen und Handlungen seien von den umgebenden Ordnungen geprägt gewesen. All dies ist zweifellos richtig. Aber ist es wirklich neu, beziehungsweise ändern Woniaks Ergebnisse das bisherige Bild von Zwangsarbeit?
So bleibt vor allem die Fleißarbeit von Woniak hervorzuheben, die unzählige Akten erschlossen hat. Doch am Ende stehen kaum wegweisende und neue Erkenntnisse, sondern nur eine weitere, immerhin dichte Quellenstudie. Deren Zuschnitt wird hoffentlich weitere Forschungen inspirieren.
Daniel Logemann