Mary E. Sarotte: Not one inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate (= The Henry L. Stimson Lecture Series), New Haven / London: Yale University Press 2021, XIII + 550 S., ISBN 978-0-300-25993-3, USD 35,00
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In ihrem neusten Buch präsentiert Mary Sarotte ein kompaktes und argumentationsstarkes Narrativ der internationalen Politik der 1990er-Jahre. Damit wird ein Jahrzehnt in den Blick genommen, das von der Autorin selbst als in sich widersprüchlich beschrieben wird: Was mit den Verhandlungen um die deutsche Wiedervereinigung und der verheißungsvollen Rhetorik von einem gemeinsamen europäischen Haus begann, endete mit Abkehr von Abrüstungstendenzen und einem steigenden Misstrauen zwischen Russland und den USA. Eine Dynamik, so die Autorin, deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart zu spüren seien.
Die Frage nach den Faktoren hinter dieser Entwicklung von einer verheißungsvollen Euphorie in der Zeit nach 1989 zu einem "Post-Cold War Stalemate" stellt dabei die Leitfrage des Werkes dar. Sarotte wählt die NATO-Osterweiterung als Fluchtpunkt ihrer Darstellung und versucht die Leitfrage durch eine Analyse der entscheidungsleitenden Motive hinter der Erweiterung sowie den korrespondierenden Reaktionen auf russischer Seite zu erfassen. Deshalb ist ihr Narrativ der internationalen Geschichte der 1990er-Jahre auch nicht als reine Institutionengeschichte zu verstehen, wie sie etwa von William Hill vorgelegt wurde [1], sondern eine der "strategic choices that American and Russian leaders made during their decade-long conflict over the start of its enlargement to Central and Eastern Europe" (2). Methodisch der internationalen Geschichte verschrieben, beschränkt sich Sarottes Darstellung primär auf zentrale politische Akteure, hochrangige Diplomaten und zwischenstaatliche Interaktionen. Dieser Fokus spiegelt sich auch in der Quellenbasis wider, die mehrheitlich aus institutionellen Beständen britischer, deutscher, amerikanischer, französischer und russischer Provenienz, aber auch Memoiren und umfangreichen Interviews besteht. Dieser institutionelle und personelle Zugriff wird dabei stets eingebettet in den breiteren Kontext der internationalen Politik, wie etwa die verschiedenen Etappen der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, sowie in die innenpolitischen Entwicklungen der USA und Russland.
Die Monografie gliedert sich in drei Teile. Sarotte folgte dabei einer chronologischen Logik, die mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Machtverlust der kommunistischen Parteien in Osteuropa anhebt und dem Jahr 1999, in dem Ungarn, Tschechien und Polen vollwertige NATO-Mitglieder wurden, schließt. Arrondiert wird dieses Narrativ von abschließenden Bemerkungen, welche die Nachwirkungen des Jahrzehnts bis in die Gegenwart nachzuzeichnen versuchen.
Der erste Teil ist den Veränderungen des internationalen Systems und des europäischen Machtgefüges von 1989 bis 1992 gewidmet. Die Autorin zeichnet dabei prägnant die Verhandlungen um die deutsche Wiedervereinigung nach und deutet die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands als zentrale strategische Entscheidung für ein Fortbestehen der NATO als dominierenden Aspekt der europäischen Sicherheitsarchitektur. Damit schließt sie argumentativ an ihre früheren Arbeiten und neuere Beiträge zu diesem Themenfeld, wie etwa von Kristina Spohr, an. [2] Das Kapitel schließt mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Abwahl des amerikanischen Präsidenten George H.W. Bush und bietet so die Grundlage für die folgenden Kapitel, in denen die Politik des neuen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, die innen- und außenpolitische Rolle der ost- und zentraleuropäischen Staaten sowie die Neupositionierung der NATO in den Vordergrund rücken.
Der zweite Teil behandelt die kurzzeitige Stabilisierung der amerikanisch-russischen Beziehungen in den Jahren 1993/94 und den amerikanischen Versuch, sowohl die Sicherheitsbedürfnisse der mittel- und osteuropäischen Staaten zu erfüllen als auch die Beziehungen mit Russland zu priorisieren. Zwei Zielvorstellungen, die - hier stimmt Sarotte mit James Goldgeier überein - rückblickend nahezu unvereinbar gewesen sind. [3] Das Ergebnis dieses strategischen Dilemmas war das NATO-Programm "Partnerschaft für Frieden", das die mögliche Erweiterung in den Osten verzögern und eine schrittweise Kooperation ermöglichen sollte. Dieser Ansatz fand jedoch bereits schon 1994 ein jähes Ende, als die Mitgliedschaft der Visegrád-Staaten in den Vordergrund der strategischen Überlegungen in Washington und Brüssel rückte. Sarotte erklärt diesen Wechsel mit einem Bündel aus mehreren Faktoren, unter anderem dem (ersten) russischen Krieg in Tschetschenien (1994-1996), dem steigenden Einfluss einzelner amerikanischer Beamter und dem innenpolitischen Druck, dem sich Bill Clinton zunehmend ausgesetzt sah. Damit zeigt Sarotte nicht nur geschickt auf, inwieweit richtungsweisende strategische Entscheidungen auf innenpolitische Entwicklungen zurückgehen, sondern synthetisiert auch eine Reihe von Erklärungsversuchen, die in den letzten Jahren vorgebracht worden sind. Die Nachwirkungen dieser Entscheidungen werden in dem dritten und letzten Teil bis in das Jahr 1999 verfolgt, wo die Autorin ihr Narrativ mit dem Rücktritt Boris Jelzins abschließt.
Für die Autorin stellen die strategischen Entscheidungen, die in den Kapiteln analysiert werden, wichtige Wegmarken dar, die Alternativen ausgeschlossen haben und somit kumulativ und in Verbindung mit den Reaktionen auf russischer Seite eine Pfadabhängigkeit erzeugt haben, an deren Ende die Erweiterungsdynamik der NATO, aber auch zunehmende westlich-russische Spannungen standen.
Die Stärken von Sarottes Buch sind vielfältig: Zum einen gelingt es ihr, trotz der amerikanisch-russischen Beziehungen als Bezugsrahmen zahlreiche Stimmen anderer Länder und Institutionen in ihre Untersuchung einzuflechten. So erhalten beispielsweise das wiedervereinigte Deutschland, aber auch die sowjetischen Nachfolgestaaten eine zentrale Rolle in ihrer Darstellung der Auseinandersetzung um die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur nach 1989. Fundiert ist dieser multiperspektivische Zugriff durch eine Vielzahl von Interviews und Quellen, deren Deklassifizierung in weiten Teilen auf die langjährige Arbeit der Autorin selbst zurückzuführen ist. Damit bietet die Lektüre auch Kennern der Materie immer wieder neue Perspektiven auf bekannte Probleme und Ereignisse.
Auch wenn die vereinzelten Thesen weitestgehend dem Forschungskonsens entsprechen, bietet Sarottes Werk eine nuancenreiche, fundierte und umfassende Interpretation der amerikanisch-russischen Beziehungen und der europäischen Sicherheitsarchitektur nach 1989. Die Autorin verknüpft ihren Forschungsgegenstand dabei geschickt mit gegenwärtigen Entwicklungen, wodurch die Lektüre auch über das Fachpublikum hinausgehend auf Anklang stoßen wird.
Anmerkungen:
[1] William H. Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989, New York / Chichester 2018.
[2] Vgl. Mary E. Sarotte: 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, 3., erweiterte Aufl., Princeton / Oxford 2014; Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989, München 2019.
[3] Vgl. James Goldgeier: NATO Enlargement and the Problem of Value Complexity, in: Journal of Cold War Studies 22 (2020) H. 4, 146-174.
Lukas Baake