Anne-Simone Rous: Geheimdiplomatie in der Frühen Neuzeit. Spione und Chiffren in Sachsen 1500-1763 (= Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 18), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 812 S., 51 Abb., 29 Tbl., ISBN 978-3-515-13052-3, EUR 110,00
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Frühneuzeitliche Spionage und die an sie angrenzenden Gebiete sind schwer zu erforschen. Eine diffuse Quellenlage, eine große Grauzone zwischen offizieller und "inoffizieller" Diplomatie, zeitgenössische Geheimhaltung und schwankende zeitgenössische wie heutige Kategorien (von "Spionage" über "Geheimdienst" bis "Geheimdiplomatie") stellen den Historiker und die Historikerin hier vor große konzeptionelle wie empirische Schwierigkeiten. Anne-Simone Rous unternimmt nun in ihrer Erfurter Habilitationsschrift zur sächsischen Geheimdiplomatie in der Frühen Neuzeit den lobenswerten Versuch, eine "eher theoretische Analyse des Phänomens" mit einer regionalen Fallstudie in der longue durée, nämlich einer "sächsische[n] Geschichte der Geheimdiplomatie von der Reformation bis zum Wiener Kongress" (5) zu verbinden. Ihr geht es also einerseits um die begriffliche und systematische Durchdringung dessen, was sie als "frühneuzeitliche Geheimdiplomatie" bezeichnet, und andererseits um die Bedeutung dieses Phänomens für die sächsischen Außenbeziehungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.
Rous' Definition von Geheimdiplomatie lautet: "Geheimdiplomatie umfasst eine diffuse Menge von inoffiziellen Handlungen in den unterschiedlichsten Kontexten der Politik. In ihrem Kern steht einerseits die Zurückhaltung von Informationen und Meinungen sowie die gesteuerte und gezielte Preisgabe derselben. Andererseits beinhaltet sie die Sammlung von relevanten Informationen und Meinungen, jeweils in Verbindung mit dem konkreten Zweck der eigenen Bevorteilung" (16). Im Mittelpunkt der Darstellung stehen drei Bereiche, nämlich Spionage, Kryptologie/Steganographie (das Verschlüsseln und Verbergen übermittelter Informationen) sowie Interzeption (das Abfangen von Briefen). Geheimdiplomatie unterscheidet sich mittels dieser Praktiken deutlich von öffentlicher/offener Diplomatie, aber auch von der höfischen, informellen Variante diplomatischen Agierens. Während in Kapitel 2 ("Aspekte der Geheimdiplomatie") generelle Beobachtungen etwa zu Motiven der Geheimdiplomatie, zu den Akteuren (von den Fürsten über Verwaltung, die Diplomaten und das Militär bis hin zu "Hofjuden" oder "Abenteurern"), zur Finanzierung, zur Geschlechtergeschichte der Spionage und vielem anderen mehr gemacht werden, bemüht sich Kapitel 3 um eine Typologie der Geheimdiplomatie. Rous entwirft drei Typen: eine defensive Form der Geheimdiplomatie (die sich um Praktiken des Verbergens und Verschlüsselns herum organisiert), einen offensiven Typus (hier spielt Interzeption der Post eine große Rolle) und einen aggressiven Typus, der sich um Informationsmanipulation und Doppelspionage dreht. Die sächsischen Regierungen, dies zeigt das sehr lange Kapitel 4, das chronologisch von der Reformation bis ans Ende des 18. Jahrhundert führt, nutzten meist defensivere Formen der Geheimdiplomatie. Auch wenn in Sachsen wie anderswo die Komplexität der Spionageorganisation und auch der Chiffrierung im 18. Jahrhundert deutlich zunahm (dies wird v.a. auf die Initiative Augusts des Starken zurückgeführt), unterlag doch Sachsen auch in diesem Punkt Preußen; der Siebenjährige Krieg erwies sich als Höhe- wie Wendepunkt der sächsischen Geheimdiplomatie.
Rous' Buch hat vor allem eine Stärke: Sie hat in einer sehr großen Zahl von Archiven große Mengen an spionagerelevantem Material entdeckt, das sie in ihrem Buch präsentiert. Damit stellt das Buch einen Steinbruch und eine Materialsammlung für die sächsische Geheimdiplomatie und darüber hinaus dar. Dass es aber kaum mehr ist als eine Materialsammlung, hängt mit den Schwächen und Problemen des Buches zusammen, die deutlich gravierender sind als die Stärken.
Zuerst einmal ist der Gegenstandsbereich nicht klar genug abgegrenzt: Es geht Rous zwar zentral um Spionage, Kryptographie und Interzeption, aber sie greift, manchmal sinnvoller-, oft überflüssigerweise in tausend andere Bereiche aus. Vor allem ist die Definition von Geheimdiplomatie fragwürdig: Man könnte nämlich legitimerweise zur Geheimdiplomatie auch den Bereich der "négotation", des Verhandelns zählen (geheime Friedensverhandlungen etwa waren im Ancien Régime oft geübte Praxis), und en passant kommt auch bei Rous die diplomatische Aufgabe des Verhandelns in den Blick, auch wenn sie sich auf die Informationsgewinnung konzentrieren möchte. Insofern ist es nicht überraschend, dass, manchmal synonym, manchmal mit bestimmten Akzenten, neben dem Begriff der Geheimdiplomatie auch die Begriffe Spionage, Geheimpolitik, intelligence etc. vorkommen. (Rous benutzt auch die Begriffe "Nachrichten-" bzw. "Geheimdienst", was mir angesichts der oft eben nicht institutionalisierten Organisation von Spionage anachronistisch erscheint.) Die begriffliche Erfassung des Materials gelingt also letztlich nicht.
Zweitens ist das Buch in seiner Materialpräsentation ziemlich diffus. Der Text ist redundant, die Argumentation mäandert, die Autorin kommt immer wieder vom Hundertsten aufs Tausendste. Warum was wo behandelt wird, bleibt oft unklar. Zudem liebt Rous Schaubilder und Tabellen, die wissenschaftliche Präzision hier aber mehr suggerieren als tatsächlich ergeben. Insgesamt ergibt sich der Eindruck mangelnder analytischer Durchdringung des Materials. Wenn Rous einen Spionagehistoriker mit den Worten kritisiert, er unternehme "den Versuch, aus seinen Beobachtungen allgemeine Prinzipien abzuleiten, aber die einzelnen Aspekte bleiben unsortiert und teilweise unvollständig reflektiert nebeneinander stehen" (47), so trifft dieser Vorwurf voll und ganz auf Rous' eigene Arbeit zu, die damit in einer zweifelhaften Tradition steht. Bereits das Buch, das am Beginn der jüngeren Spionagegeschichte zur Frühen Neuzeit steht (Lucien Bélys "Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV" von 1990) zeichnet sich weniger durch klare Begrifflichkeiten und strukturelle Analysen als durch eine ungeheure Menge von additiv angehäuftem Material aus. Rous hat allerdings - anders als Bély und viele ihm folgende Arbeiten - den Ehrgeiz einer systematischeren Behandlung des Themas. Aber genau diese gelingt nur in Ansätzen.
Drittens scheint mir sowohl das hier abgedeckte Sachthema (das durch die genannten begrifflichen Unschärfen noch größer ist als nötig) als auch der anvisierte Zeitraum (1500-1763) unnötigerweise so riesig, dass alle Beobachtungen notgedrungen oberflächlich bleiben. Hätte Rous ein Buch mit engerem sachlichen und zeitlichen Fokus geschrieben, etwa zum Einsatz der Kryptographie in der diplomatischen Praxis Sachsens im 18. Jahrhundert, wäre der Forschung damit viel mehr gedient gewesen.
So muss man das Fazit ziehen, dass trotz aller Quellenfunde und trotz allen Fleißes das Buch nicht das erreicht, was es sich vornimmt: eine Verbindung empirischer Befunde mit einer theoretischen Systematisierung - eben weil es sachlich wie begrifflich zu unscharf ist.
Matthias Pohlig