Rezension über:

Lisa Regazzoni: Geschichtsdinge. Gallische Vergangenheit und französische Geschichtsforschung im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Wissenskulturen und ihre Praktiken / Cultures and Practices of Knowledge in History; Vol. 5), Berlin: de Gruyter 2020, XV + 508 S., 42 Abb., ISBN 978-3-11-067449-1, EUR 94,95
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Rezension von:
Joëlle Weis
Center for Digital Humanities, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Joëlle Weis: Rezension von: Lisa Regazzoni: Geschichtsdinge. Gallische Vergangenheit und französische Geschichtsforschung im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 11 [15.11.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/11/36713.html


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Lisa Regazzoni: Geschichtsdinge

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Seit einigen Jahren erfreuen sich praxeologische Ansätze bei der Erforschung frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung großer Beliebtheit. Dazu trägt nicht zuletzt die Reihe "Cultures and Practices of Knowledge in History" maßgeblich bei, in der auch die vorliegende Studie von Lisa Regazzoni erschienen ist. In ihrem Buch widmet sich die Autorin dem Umgang mit Denkmälern in der französischen Geschichtsforschung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und fragt danach, welche Funktionen den "monuments" (Denkmälern) in der Geschichtsschreibung ihrer Zeit jeweils zukamen.

In der Einleitung schildert Regazzoni die "epistemische Grenzsituation" (4), in der sich Artefakte zu Beginn des 18. Jahrhunderts befanden. Geschichtsforscher mussten erst Methoden entwickeln, um mit Objekten umzugehen. Eben diese methodischen Ansätze und konkreten Forschungspraktiken nimmt sie in den Blick, um Abstand von der Idee zu gewinnen, dass die Beschäftigung mit der gallischen Vergangenheit Frankreichs zentraler Teil der Nationenbildung gewesen sei. Auf theoretischer Ebene rückt sie dabei das Denkmal als epistemisches Objekt in den Vordergrund. Dazu arbeitet sie im "Prolog" zunächst die Historiografiegeschichte exemplarisch an Johann Gustav Droysen, Alois Riegl und schließlich Arnaldo Momigliano auf und legt damit die Denktradition offen, der ihre Arbeit entspringt.

Im ersten und grundlegenden Kapitel gelingt es der Autorin, die Vielschichtigkeit des Begriffs monument und den Umgang mit dem Denkmal als epistemischem Objekt herauszuarbeiten. Die monuments können im Wesentlichen in drei Klassen unterteilt werden: Einerseits handelt es sich dabei um Urkunden und literarische Quellen, andererseits um "Sachquellen", also Artefakte, sowie, drittens um mündliche Tradition (38). Darüber hinaus lässt die Begriffsgeschichte erkennen, dass das monument im Frankreich des 18. Jahrhunderts zwei Arten von Objekten bezeichnete: die Objekte, die zum bewussten Gedenken geschaffen wurden und diejenigen, denen erst im Nachhinein ein epistemischer Wert zugesprochen wurde. Regazzoni führt für diese Kategorien die argumentativ sehr gut nachvollziehbaren Begriffe "Gedenkdinge" und "Geschichtsdinge" ein (43). Ein Artefakt wird dann zum Geschichtsding, wenn es als solches wahrgenommen wird. Erst das Interesse an einem bestimmten Thema, einer bestimmten Fragestellung macht das Ding als solches sichtbar. Folglich entsteht das Geschichtsding stets a posteriori und verändert sich abhängig vom Interesse, das ihm entgegengebracht wird (52-55). Die gestiegene Beachtung von Geschichtsdingen seit dem späten 17. Jahrhundert interpretiert Regazzoni als einen Aspekt eines neuen Geschichtsverständnisses, das als Reaktion auf den historischen Pyrrhonismus vermehrt nach gesicherter historischer Erkenntnis suchte.

Das zweite Kapitel ist den gallischen Denkmalen und dem forschenden Umgang mit ihnen im 18. Jahrhundert gewidmet. Regazzoni stellt fest, dass von gelehrter Seite zunächst wenig Interesse daran bestand, sich mit der gallischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Erst mit aufkommender Legitimierungsfunktion, vor allem im religions- sowie provinzgeschichtlichen Kontext, gewann die Beschäftigung mit gallischen Denkmälern an Bedeutung. Die Autorin zieht eine Reihe an Fallstudien - vor allem aus dem monastischen Kontext - heran, um zu zeigen, wie die gelehrten Praktiken im Umgang mit den Denkmälern sich änderten und folglich auch andere Ergebnisse produzierten. Sie schlussfolgert, dass das hermeneutische Potenzial der materiellen Zeugnisse abhängig von den Absichten war, mit denen die Gelehrten "ihre jeweiligen apologetischen Gründungserzählungen bei dem alten gallischen Volk ansetzen ließen" (203).

Das dritte Kapitel entfernt sich von den Zentren der Gelehrsamkeit und wirft einen Blick auf die Beschäftigung mit den gallischen Denkmälern in der Provinz. Aus der Perspektive von lokalen Gelehrten, die die Denkmäler vor Ort besichtigen konnten, wurden die Objekte zu anderen Geschichtsdingen. Auch die Erforschung der Vergangenheit durch Etymologie erfährt in diesen Kreisen einen Höhepunkt. Regazzoni schafft es hier, sich in komplexe zeitgenössische Diskurse hineinzuversetzen und so den Blick auf bisher weitestgehend unbekannte Gelehrte zu richten, was der Geschichte der Gelehrsamkeit eine neue Dimension hinzufügt.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich, so die Prämisse des vierten Kapitels, kommen mit der Bildung immer spezifischerer Disziplinen auch diversifizierte Perspektiven auf die Denkmäler auf. Von der monarchischen Vergangenheit zeugende Denkmäler hatten nun ihren Platz in der Geschichte und Kunstgeschichte, zu pädagogischen Zwecken wurden sie in Museen ausgestellt. Mit der Französischen Revolution stand die Forschung aber vor allem vor der Herausforderung, eine französische Nation zu konstruieren, die jenseits der Monarchie Gemeinsamkeiten hatte. Gallische Denkmäler, nun erforscht von der Académie celtique, bekamen in diesem Zusammenhang eine neue Funktion: Sie dienten als Ursprungsmythos für alle Franzosen.

Im Epilog schließlich zieht Regazzoni ihr Fazit: Im 18. Jahrhundert spielt, anders als gemeinhin angenommen, der Aspekt der Konstruktion einer Nationalgeschichte für die Beschäftigung mit gallischen Denkmälern kaum eine Rolle. Erst im postrevolutionären Frankreich blüht die nationale Lesart der gallischen Vergangenheit auf. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die monuments vorher unbeachtet geblieben wären; für den Erkenntnisprozess und das gelehrte Arbeiten mit den Denkmälern war das 18. Jahrhundert wegweisend. Die Académie celtique war damit nur ein vorläufiger Höhepunkt der Beschäftigung mit den Denkmälern, nicht jedoch ihr Anfang. Die Geschichtswissenschaft, so die Autorin, habe diese Entwicklung lange nicht als Teil der eigenen Disziplinengeschichte wahrgenommen, da die Quellengattung monument an andere Nachbardisziplinen, beziehungsweise "Hilfswissenschaften" abgegeben worden sei. Regazzonis Arbeit wird damit zum Appell, die zeitgenössisch als genuine Geschichtsforschung betrachtete Beschäftigung mit den Denkmälern heute als Teil der Historiografiegeschichte ernst zu nehmen.

Das vorliegende Buch reiht sich mit dieser Schlussfolgerung in eine Reihe von Arbeiten ein, die seit den frühen 2000ern ein neues Licht auf die Historiografiegeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts geworfen haben. Etwas mehr Bezugnahmen auf diese Arbeiten, exemplarisch erwähnt seien hier nur Stefan Benz und Thomas Wallnig, hätten dabei geholfen, diese Traditionslinie expliziter zu machen. Ein kleines Manko auf textlicher Ebene sind die inhaltlichen Wiederholungen, die sprachlich nicht als solche gekennzeichnet sind. Dies ändert aber nichts daran, dass die Arbeit von Lisa Regazzoni ein großer Gewinn für die Historiografiegeschichte ist. Einerseits schafft sie es, eine Perspektivenerweiterung vorzunehmen, indem sie unbekannte Gelehrte und ihre konkreten Forschungspraktiken in den Blick nimmt. Sie zeigt so, wie die Beschäftigung mit einer "gallischen" Vergangenheit mehr ist als die bloße Konstruktion einer Nationalgeschichte. Andererseits gelingt es der Autorin, einem deutschen Publikum auf anschauliche Art und Weise Traditionen französischer Gelehrsamkeit näher zu bringen. Man kann nur hoffen, dass dies in den kommenden Jahren zu einer größeren gegenseitigen französisch-deutschen Rezeption führt, was ein großer Gewinn für beide Seiten wäre.

Joëlle Weis