David Bordiehn: Manfred Gerlach, LDP(D). Eine politische Biographie, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2022, 458 S., ISBN 978-3-631-86605-4, EUR 79,95
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Nach Gründung der DDR verloren die ursprünglich selbstständigen Parteien CDU und LDP(D) ihre Autonomie, passten sich an den von der SED vorgegebenen Kurs an und wurden zu gefügigen Blockparteien. [1] Manfred Gerlach, der spätere LDPD-Vorsitzende, scheint hier eine besonders erklärungsbedürftige Rolle gespielt zu haben: Nach bisherigem Kenntnisstand war er in den 1950er-Jahren als Generalsekretär ein strenger Zuchtmeister, der die Partei auf SED-Linie brachte, während er in den späten 1980er-Jahren wider den Stachel löckte und als Reformer hervortrat. Nun hat David Bordiehn eine Biographie dieses Mannes aus der zweiten Reihe verfasst, die diesem scheinbaren Widerspruch auf den Grund geht.
Auf der Basis der Akten der LDPD, der SED und des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik möchte Bordiehn Gerlach "in seiner Eingebundenheit in das Herrschaftssystem der SED verstehen und zugleich zu einem besseren Verständnis der Herrschaftsmechanismen der Diktatur beitragen" (34). Ebenfalls herangezogen wurden seine Schriften, Memoiren und ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel "Wortmeldung" von 1979, dessen Entstehung und Relevanz allerdings in der Einleitung hätte erläutert werden müssen.
Gerlach, Jahrgang 1928, trat nach Kriegsende direkt in die LDP und in die FDJ ein. Bereits 1946 gab er seinen Beruf als Rechtspfleger auf und wurde von nun an hauptamtlicher FDJ- und vor allem LDP-Funktionär. In der Partei stieg er rasch auf und entwickelte sich zu einem "SED-orientierten Hardliner" (70). Bereits Anfang der 1950er-Jahre zählte er zum Führungszirkel der Partei, der nach Absetzung von Generalsekretär Herbert Täschner 1954 zu dessen Nachfolger berufen wurde. Während Täschner sich offen marxistisch positioniert und damit bei der Basis diskreditiert hatte, ging Gerlach, an dessen Treue zur SED kein Zweifel bestand, geschickter vor, indem er "die 'Parteispezifik' der LDPD" besser berücksichtigte (78).
Am Kurs der Parteiführung änderte das freilich wenig, so dass auch Gerlach daran arbeiten musste, den Graben zwischen Basis und Funktionären zu überwinden. Er setzte auf "Überzeugungsarbeit". Bordiehns Antwort auf die Frage, inwieweit er damit Erfolg hatte, ist etwas widersprüchlich. Auf der einen Seite hielten die kritischen Diskussionen an der Basis bis nach dem Mauerbau an und die Partei verlor Mitglieder. Auf der anderen Seite habe sich die Partei danach stabilisiert und ihre Mitgliederzahl von 67.000 (1961) auf 80.000 (1967) steigern können. Die SED jedenfalls war zufrieden, so dass sie Gerlach weiter gewähren ließ, der sich im "Einklang mit seinen Prinzipien [...] die Forderungen der SED zu eigen gemacht" hatte (155).
Gerlach, der 1967 Parteivorsitzender wurde (das Amt des Generalsekretärs entfiel), kam offensichtlich ab den 1960er-Jahren bei der Basis immer besser an. Das überrascht, da die LDPD-Führung nur noch bedingt die Interessen von Handwerkern und Mittelständlern vertrat und 1972 sogar die Überführung der "halbstaatlichen" Betriebe in Volkseigentum verteidigte. Aber Gerlach suchte, anders als etwa der Parteivorsitzende der Ost-CDU Gerald Götting, den Kontakt zu den Mitgliedern. Er kam an, nicht nur, weil er frei sprechen konnte, sondern weil er viele persönliche Gespräche führte, öffentliche Kritik an der Herzlosigkeit des Apparats übte und den einfachen "Parteifreunden" vermittelte, dass er von ihren Bedrängnissen wisse und diese abzustellen versuche. Wenngleich er damit dem Auftrag der SED-Führung in jeder Hinsicht gerecht wurde, sah er sich benachteiligt, als nach dem Tod seines Parteifreunds Johannes Dieckmann 1969 dessen Posten als Volkskammerpräsident nicht auf ihn, sondern auf Götting überging und er auch nicht mit einem anderen Staatsamt entschädigt wurde. Mitte der 1970er-Jahre erkannte er, dass er das Ende seiner Karriereleiter erreicht hatte.
In dieser Zeit arbeitete er an einem 400-seitigen Manuskript, das eine Selbstdarstellung und Reformvorschläge enthielt. In dieser 1979 beendeten "Wortmeldung zur Zeitgeschichte" forderte er einen größeren Informationsfluss, mehr Bürgerbeteiligung, regelmäßige Blockzusammenkünfte auf allen Ebenen sowie eine Stärkung der Volkskammer und der örtlichen Volksvertretungen. Als die für die Blockparteien zuständige Abteilung beim ZK der SED eine Veröffentlichung ablehnte, war er überrascht und verärgert, musste sich aber letztlich fügen. Dass Gerlach an der LDPD-Spitze nicht unumstritten war, wird daran deutlich, dass zwei Mitglieder des Politischen Ausschusses das Manuskript mit kritischen Stellungnahmen an das MfS sandten. Seine Autorität im Sekretariat der Partei war nun geschwächt, und Gerlach musste Personaländerungen an der Spitze durchsetzen, um sich zu halten. Allerdings konnte er Erich Honecker 1981 davon überzeugen, die Präsenz der LDPD im Staatsapparat und bei den gesellschaftlichen Organisationen zu erhöhen. Dieser gestand auch eine verstärkte Aktivität von LDPD-Mitgliedern auf der kommunalen Ebene zu - allerdings alles im Rahmen des bestehenden Systems. Dabei verdeutlicht Bordiehn, dass Gerlachs Strategie der "Bürgerbeteiligung" - die de facto nicht viel bewirkte - der SED entgegenkam. Denn auch dort registrierte man zunehmende Kritik aus der Gesellschaft und hoffte, über die Blockparteien die Bevölkerung besser zu erreichen.
Gerlach hatte sich in dieser Zeit nie mit der SED angelegt, sondern es verstanden, immer im Einklang mit ihr zu handeln. Das galt letztlich auch in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, als an der Parteibasis vor dem Hintergrund der Politik Michail Gorbatschows die Kritik an der Staatsführung lauter wurden. Gerlach wagte sich nun auch weiter vor, indem er etwa Gewaltenteilung und mehr Entscheidungskompetenzen für die Volksvertretungen forderte und sogar das SED-Monopol infrage stellte. Innerparteilich kritisierte er sogar die Kommunalwahl vom Mai 1989 und legte im Sommer 1989 einen weiteren Reformkatalog vor. Im September 1989 thematisierte er öffentlich die Ausreisewelle, äußerte sich zu deren Ursachen und zeigte Verständnis für die Flüchtlinge. Die SED ließ ihn gewähren, da sie wusste, dass Gerlach weiterhin an der Zusammenarbeit mit ihr festhielt. Das galt auch noch, als er Mitte November 1989 beantragte, den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung zu streichen. Bei alldem stand für ihn der Sozialismus nicht zur Disposition. Er wollte diesen nicht abschaffen, sondern reformieren - gemeinsam mit den vermeintlichen SED-Reformern Egon Krenz und Hans Modrow. Gerlach gewann an Ansehen im Herbst 1989, je mehr er sich von Honecker absetzte; als er sich aus Furcht vor Anarchie und einem Ende des Sozialismus jedoch zögerlich zeigte, wurde er als Reformer immer unglaubwürdiger. Auch in der Endphase des SED-Staates blieb er ein "systemimmanenter Reformer" (404). Daher war es nur folgerichtig, dass er mit dem Untergang der DDR nicht weiter politisch tätig blieb.
Bordiehn kann überzeugend zeigen, dass Gerlach keine politische Wandlung durchmachte, sondern seit den späten 1940er-Jahren seiner politischen Linie treu blieb. Seine Position zwischen der SED-Führung und der LDPD-Parteibasis konnte er dadurch halten, dass er gegenüber ersterer stets loyal blieb und letztere durch persönliche Ansprache und begrenzte, systemimmanente Reformvorschläge für sich gewinnen konnte. Weniger überzeugend sind die ausschweifenden Ausführungen über Begrifflichkeiten: Bordiehn legt ausführlich dar, warum Gerlachs Verhalten nicht als Widerstand, Opposition oder Resistenz verstanden werden kann, und lehnt es aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen auch ab, sein Verhalten gegenüber der SED mit Loyalität zu umschreiben. Vielmehr spricht er für die Jahre 1945 bis 1963 von "antizipierender Folgsamkeit", für 1963 bis 1979 von "Fügsamkeit" und für 1979 bis 1990 vom "systemimmanenten Reformer". Nur der letzte Begriff ist auf Anhieb einleuchtend. Insgesamt kommt der Mensch Manfred Gerlach in dem bisweilen etwas weitschweifigen Werk zu kurz. Zwar macht Bordiehn geltend, dass der Nachlass für ihn noch nicht verfügbar war; aber das wenige, was man über sein Privatleben weiß, hätte auch in einer "politischen Biographie" erwähnt werden müssen.
Anmerkung:
[1] Bis 1951 trat die Partei unter dem Kürzel LDP auf; danach nannte sie sich LDPD.
Hermann Wentker