Rezension über:

Elisabeth Lobenwein: Ein Fürstenleben zwischen Alltag und Aufruhr. Die französische Korrespondenz (1772-1801) des letzten Salzburger Fürsterzbischofs Hieronymus Colloredo mit seinem Bruder Gundaker. Eine historisch-kritische Edition (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs; Bd. 121), Wien: Böhlau 2021, 1198 S., 7 Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-205-21462-5, EUR 150,00
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Rezension von:
Philip Steiner
Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Philip Steiner: Rezension von: Elisabeth Lobenwein: Ein Fürstenleben zwischen Alltag und Aufruhr. Die französische Korrespondenz (1772-1801) des letzten Salzburger Fürsterzbischofs Hieronymus Colloredo mit seinem Bruder Gundaker. Eine historisch-kritische Edition, Wien: Böhlau 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/36823.html


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Elisabeth Lobenwein: Ein Fürstenleben zwischen Alltag und Aufruhr

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Kenner der gegenwärtigen österreichischen Geschichtswissenschaft wissen, dass in der jüngeren Generation an Frühe Neuzeit-Historikerinnen und Historikern dezidiert religions- und kirchengeschichtliche Forschungsschwerpunkte wohl dem allgemeinen Zeitgeist entsprechend tendenziell im Rückgang begriffen sind. Eine erfreuliche Ausnahme stellt hierbei die an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt tätige Historikerin Elisabeth Lobenwein dar, die mit ihrer umfangreichen historisch-kritischen Quellenedition über die französische Korrespondenz des letzten Fürsterzbischofs von Salzburg mit seinem Bruder Franz de Paula Gundaker von Colloredo (1731-1807) aus der Zeit zwischen 1772-1776, 1783-1784 und 1789-1801 abermals ihr besonderes Interesse und ihre Expertise zu Person und Wirken von Hieronymus von Colloredo (1732-1812) unter Beweis stellt. Der Quellenband ist das Endprodukt eines bereits anlässlich des 200. Todestages von Hieronymus von Colloredo im Jahr 2012 an der Universität Salzburg lancierten FWF-Projekts unter der Leitung des Salzburger Historikers Gerhard Ammerer, welches aufgrund des abrupten beruflichen Wechsels von Elisabeth Lobenwein nach Klagenfurt unter erwähnenswerter Aufopferung ihrer Freizeit erst jetzt fertiggestellt werden konnte.

Der enorme und äußerst verdienstvolle Aufwand, den Lobenwein für die in den "Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs" erschienene 1198-seitige Publikation auf sich nahm, wird allein schon angesichts der konsultierten Archive deutlich. So recherchierte die Historikerin nicht nur im tschechischen Staatlichen Gebietsarchiv in Zámrsk, wo die relevanten Briefe im Familienarchiv Colloredo-Mannsfeld aufbewahrt werden, sondern auch im Archiv der Erzdiözese Salzburg, im Salzburger Landesarchiv, im Archiv St. Peter, im Archivio Segreto Vaticano, im Österreichischen Staatsarchiv, im Archiv der Diözese Gurk, im Archiv der Domkirche St. Stephan und im Diözesanarchiv Wien.

Da die betreffenden Briefe von Gundaker offenbar nicht erhalten geblieben sind, beinhaltet der Quellenband allein die französischsprachigen Briefe von Hieronymus von Colloredo an seinen Bruder Gundaker (55). Daher interpretiert Lobenwein ihr Werk, wie sie in der Einleitung der Publikation zu verstehen gibt, vornehmlich als eine Quellenedition über Hieronymus von Colloredo. Die Briefe, so Lobenwein, würden dessen "Selbstverständnis als aufgeklärter Herrscher" illustrieren und erfahrbar machen, wie dieser "die radikale Umbruchphase der 1790er-Jahre miterlebt, analysiert, reflektiert und aktiv mitgestaltet" (13) hätte. Diese konzeptionelle Einengung auf die Person des Salzburger Fürsterzbischofs erscheint angesichts der Überlieferungssituation zunächst allzu verständlich, birgt aber die Gefahr, das Potential der Quellenedition, mit der eben auch Gundaker von Colloredo, nicht erst seit 1789 als amtierender Reichsvizekanzler politisch sehr bedeutend, besonders unter dynastischen und politischen Gesichtspunkten zumindest indirekt in den Fokus hätte rücken können, unbeabsichtigt nicht voll auszuschöpfen. Immerhin handelt es sich hierbei um eine Edition einer Adelskorrespondenz zweier politisch einflussreicher Brüder mit einem Sender (Hieronymus) und einem Empfänger (Gundaker).

Die Quellenedition ist - ein kurzes Vorwort vorangestellt (7-9) - übersichtlich in drei Hauptkapitel unterteilt, welche wiederum mehrere Unterkapitel aufweisen. Der erste Teil des ersten Hauptkapitels "Editionsvorbemerkung" (11-66) besteht vornehmlich aus einer von Elisabeth Lobenwein und dem ausgewiesenen Salzburger Colloredo-Experten Alfred Stefan Weiß verfassten Biographie über Hieronymus von Colloredo, die profund und präzise den aktuellen Forschungsstand über diese bemerkenswerte Persönlichkeit zusammenfasst (15-47). Im Zentrum stehen dabei Familie und Ausbildung, Colloredos Aufstieg bis zum Fürsterzbischof von Salzburg, dessen Regierungsantritt und Reformprogramm in den 1770er- und 1780er-Jahren, die Zeit des Ersten Koalitionskrieges und der drohenden und tatsächlichen Säkularisation. Während die Autoren dem Werdegang von Hieronymus von Colloredo umfangreiche Aufmerksamkeit schenken, wird Gundakers (beruflicher) Vita bedauerlicherweise nur ein knapper Absatz gewidmet (16). Der betont biographische Ansatz und die Beleuchtung von Hieronymus von Colloredo aus dem "Salzburger Blickwinkel" heraus hat zur Folge, dass teilweise auf eine Einbindung von neuerer Literatur zum Josephinismus verzichtet wird und die Rolle des Fürsterzbischofs als Reichsfürst des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erst am Ende deutlicher hervortritt. Dies schmälert die Qualität und den Kenntnisreichtum der Ausführungen jedoch keineswegs.

Im zweiten Abschnitt des ersten Hauptkapitels bietet Lobenwein eine informative Einführung in die Colloredo-Korrespondenz (48-66). Die Historikerin liefert zunächst einen sehr guten allgemeinen Exkurs über Briefe als Kommunikationsmedium, ehe sie konzise auf Überlieferungslage, Wesen und Beschaffenheit der Quellen, die Briefgestaltung sowie Wege und Inhalte der Korrespondenz eingeht.

Das zweite Hauptkapitel "Editionsteil" (67-1096) beginnt mit einer transparenten Darlegung der Editionsgrundsätze, die den Leserinnen und Lesern neben allgemeinen Anmerkungen und Kriterien der Quellenauswahl Informationen über Textgestaltung, Editionseinheiten und Texterschließung zur Verfügung stellt. Besonders hervorzuheben ist das abschließende vorbildliche Verzeichnis der insgesamt 655 Briefe und Deperdita mit den entsprechenden Archivsignaturen (67-92). Darauf folgt die eigentliche chronologisch aufgebaute Edition der Briefe (93-1096), die sorgfältig durch deutschsprachige Inhaltsangaben und einen Anmerkungsapparat erschlossen werden. Die Inhaltsangaben zeichnen sich durch Anmerkungen zu in den Briefen genannten Personen und Inhalten aus. Der Anmerkungsapparat besteht zum einen aus einem mit den Inhaltszusammenfassungen verknüpften Sachanmerkungsapparat, der dem Textverständnis zuträglich ist, und zum anderen aus einem auf Elemente der Quellentexte bezugnehmenden textkritischen Anmerkungsapparat, welcher die Bearbeitung und Analyse von diesen wesentlich erleichtert.

Das dritte Hauptkapitel "Verzeichnisse und Register" (1097-1198) präsentiert ein Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Kürzungs- und Siglenverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis, ein Tabellenverzeichnis und jeweils ein für die Nutzung sehr hilfreiches Personen-, Orts- und Sachregister.

Im Großen und Ganzen hat Elisabeth Lobenwein mit ihrer Quellenedition eine beeindruckende Leistung vorgelegt, die für die zukünftige Erforschung von Leben, Wirken und Zeit von Hieronymus und Gundaker von Colloredo einen hohen Stellenwert besitzen wird. Die Briefe ermöglichen einen personenzentrierten politik-, kirchen-, religions-, adels-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Einblick in eine Zeit eines sich immer mehr zuspitzenden radikalen Wandels. Die Herausgeberin bezieht sich hinsichtlich der Forschungsmöglichkeiten auf Mareike Menne, wonach derzeit im Trend liegende Leitmotive wie "Gender", "Spatial Turn" und "Governance" auch auf geistliche Fürsten anwendbar seien (13). Dies mag je nach Quelle partiell durchaus stimmen, solange dabei das Vetorecht der Quellen nicht untergraben wird. Dennoch sollten auch althergebrachte und bewährte adelsspezifische Analysekategorien wie "Dynastie" nicht vergessen werden.

Philip Steiner