Irene Dingel (Hg.): Einheit und Vielheit - Europa pluralisieren? Ordnungsmodelle und Pluralisierung (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Beiheft 135), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 102 S., ISBN 978-3-525-57145-3, EUR 65,00
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Luise Schorn-Schütte: Predigen über Herrschaft. Ordnungsmuster des Politischen in lutherischen Predigten Thüringens/Sachsens im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021
Daniel Gehrt / Kathrin Paasch (Hgg.): Friedrich Myconius (1490-1546). Vom Franziskaner zum Reformator, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Lothar Graf zu Dohna / Richard Wetzel: Staupitz, theologischer Lehrer Luthers. Neue Quellen - bleibende Erkenntnisse, Tübingen: Mohr Siebeck 2018
Irene Dingel (Hg.): Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548-1549), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hgg.): Georg Major (1502-1574). Ein Theologe der Wittenberger Reformation, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005
Irene Dingel / Herman J. Selderhuis (Hgg.): Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Theologen und Historiker aus verschiedenen europäischen Ländern behandeln hier ein aktuelles Thema unter geschichtlichen und grundsätzlichen Perspektiven. Der Band geht zurück auf eine Vortragsreihe im November 2020, veranstaltet vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte.
Das heutige Europa steht vor der Herausforderung, Einheit und Vielfalt zu verbinden, wobei es aktuell sowohl Kräfte gibt, die mehr Einheit wollen, als auch Kräfte, die unbedingt Vielfalt wahren oder sogar bereits aufgegebene Vielfalt wiederherstellen wollen. So gesehen, ist der zweite Teil des Haupttitels auf die Gegenwart nicht ganz zutreffend, denn es geht ja aktuell nicht um die Pluralisierung eines einheitlichen Europas, Europa ist ja immer noch und weiterhin plural. Mit Blick auf die Geschichte jedoch lässt sich sagen, dass sich das christliche Abendland - der Vorläufer von Europa - im Laufe der Geschichte, vom Mittelalter in die Neuzeit, pluralisiert hat, zunächst im Bereich der Religion, später dann durch die aufkommenden und sich durchsetzenden Nationalismen. Europa ist - und bleibt? - ein, wie es der zweite Reihentitel formuliert, "Europa der Differenzen" (3).
Von den sechs Beiträgen im Band behandeln fünf die Neuzeit und einer, der erste, die Geschichte des Christentums im Allgemeinen. Die evangelische Kirchenhistorikerin Irene Dingel, die Herausgeberin des Bandes, steuert ein Vorwort bei.
Der evangelische Kirchenhistoriker Christian V. Witt weist einführend darauf hin, dass "Pluralität und Konflikt" von Anfang an zum Christentum gehörten, dass sie, wie er sagt, "Grundsignaturen" dieser Religion sind. Dem ist zuzustimmen. Das Christentum war von Anfang an durch eine Vielfalt theologischer Ansichten und eine Vielfalt religiöser Praktiken gekennzeichnet. Durch "Amt", "Doppelkanon" und "Bekenntnis" (14) versuchten die maßgeblichen Akteure, mit begrenztem Erfolg, die Pluralität in Grenzen zu halten bzw. einzudämmen. Erst von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an - durch Pietismus und Aufklärung - begann man, "die spannungsreiche Fülle des geschichtlichen Christentums" (22) wirklich positiv zu sehen.
Christopher Voigt-Goy, ebenfalls evangelischer Kirchenhistoriker, thematisiert verschiedene "Religionsfrieden" seit der Reformation als "[r]echtliche Ordnungsbildungen konfessioneller Koexistenz im frühneuzeitlichen Europa" (25). Konkret behandelt werden aber nicht, wie man hätte erwarten können, der Augsburger Religionsfriede 1555 und der Friede von Münster und Osnabrück 1648, sondern, die gängigen Perspektiven erweiternd, religiöse Friedensschlüsse in der oberlausitzischen Stadt Bautzen 1583 und 1599, in Polen-Litauen 1573 und in Frankreich 1686. Voigt-Goy kommt zu dem Ergebnis: "Ein auf konfessionelle Koexistenz ausgerichtetes politisch-rechtliches Ordnungshandeln wurde durch solche Vorgaben begünstigt, die bereits ein normativ-institutionelles Gefälle zugunsten weltlicher Herrschaftsträger auswiesen" (45).
Die Tragfähigkeit des - vor Jahrzehnten - in der deutschen Reformationshistoriographie gängigen, inzwischen allerdings kaum mehr verwendeten Konfessionalisierungsparadigmas wird von der Historikerin Tijana Krstić für den sunnitischen Islam in der frühmodernen ottomanischen Epoche untersucht. Sie fasst zusammen, dass "the engagement with the notion of confessionalization and historiography it generated in the European context has helped Ottomanists to meaningfully integrate religion into the study of Ottoman history, which has until recently been dominated by socio-economic approaches" (60).
Auf die jüdischen Gemeinden Europas blickt der Judaist Dean Phillip Bell. Er untersucht einen Rabbinatsvertrag aus Friedberg im Jahre 1574, Gemeindekonflikte in Gailingen (Baden) im Jahre 1751 und die Deutung von Hochwasserkatastrophen in Worms in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts und kommt zu dem Schluss: "Early modern Jewish communities were complex, despite their size, with internal hierarchies and dynamics" (72).
Die katholische Kirchenhistorikerin Urszula Pękala behandelt die deutsch-polnische Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der theologischen Kategorie der "Versöhnung". Obwohl deutsche und polnische Katholiken als Christen dieselben Grundwerte teilten, ließ sich lange Zeit keine Übereinstimmung "bezüglich der praktischen Umsetzung von Versöhnung" erzielen (81). Während die deutschen Bischöfe bereit waren, auf Polen zuzugehen, sperrten sich insbesondere die deutschen Katholiken, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Gebiet des heutigen Polen vertrieben worden waren.
Der Sammelband schließt mit einer grundsätzlichen Reflexion über Ökumene von der katholischen Theologin Friederike Nüssel. Sie stellt die von der "Konferenz europäischer Kirchen" (KEK) und dem "Rat der Europäischen Bischofskonferenzen" (CCEE) erarbeitete, 2001 verabschiedete "Charta Oecumenica" vor, ein durchaus interessanter Text, der in Theologie und Kirche aber nur wenig Beachtung gefunden, geschweige denn Wirkungen nach sich gezogen hat. Aus Nüssels Sicht gelingt es hier "Ordnungsstreben und Pluralisierung in einen Ausgleich zu bringen" (98).
Der kleine Band bietet auf gut 100 Seiten vielschichtige und interessante Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart. Die im Titel ausdrücklich formulierte Frage - "Europa pluralisieren?" (3) - wird aber nicht wirklich beantwortet, sondern bleibt als Frage stehen. Sinnvoll wäre es gewesen, auch eine freikirchliche Stimme einzubeziehen.
Martin H. Jung