Nikolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe, Berlin: Verbrecher Verlag 2022, 366 S., ISBN 978-3-95732-519-8, 30,00
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Deutsche arbeiten viel, gut und gerne - eine Vorstellung, die das deutsche Selbstbild bis heute prägt. Nikolas Lelle knüpft an diese Beobachtung an und widmet sich in der vorliegenden Studie den Schattenseiten dieser verklärten Arbeitsauffassung. Dabei rückt er den Nationalsozialismus und den Topos der "deutschen Arbeit" in das Zentrum seines Buches, das die leicht gekürzte Version seiner an der Humboldt-Universität Berlin eingereichten Dissertation ist. Lelle nähert sich diesem Gegenstand zwar historisch, spürt Kontinuitäten bis zurück in das 19. Jahrhundert nach und nimmt über die Zäsur 1945 hinaus auch die frühe Bundesrepublik in den Blick. Als Sozialphilosoph verbindet er mit seiner Studie jedoch gleichfalls politische Ziele im Sinne einer Aufklärungsarbeit und versucht darüber hinaus, "Bausteine zu einer kritischen Theorie von Arbeit" (Epilog) zu liefern.
Für Lelle ist der Nationalsozialismus im Anschluss an die kritische Theorie "nicht die Aufhebung der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft, sondern der Versuch einer rechten Überformung" (15). Gesellschaftliche Widersprüche der industriellen Moderne sollten nicht abgeschafft, sondern antisemitisch transformiert werden. Von dieser Standortbestimmung ausgehend fragt er, welche Rolle der nationalsozialistische Arbeitsbegriff beim Ausschluss, bei der Verfolgung und bei der Vernichtung von als anders Definierten spielte und wie die Arbeitsauffassung den Nationalsozialismus attraktiv machen sollte. Insofern kann Lelle an neuere geschichtswissenschaftliche Forschungen zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft anschließen.
Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil rekonstruiert die Genese der "deutschen Arbeit", ausgehend von Schriften des 19. Jahrhunderts und versucht, die nationalsozialistische Arbeitsauffassung systematisch zu erfassen. Ausgangspunkt der Vorgeschichte ist Martin Luthers Konzept "'deutsche[r] Arbeit' avant la lettre" (28). Lelle arbeitet ideengeschichtlich heraus, dass die Autoren, die das Konzept "deutsche Arbeit" seit der Reformation entwickelten, es stets unbestimmt ließen. Sie definierten weniger, was für sie "deutsche Arbeit" ausmache, sondern sie stellten ihr Fremd- und Gegenbilder anderer Nationen entgegen - seit Luther war hierfür insbesondere die jüdische Nicht-Arbeit die Kontrastfolie. Erstaunlich stabil blieben die Charakteristiken, die von Autoren wie Gustav Freytag Mitte des 19. Jahrhunderts prototypisch angelegt wurden. "Deutsche Arbeit" sei demnach von einem Pflichtgefühl bestimmt, an eine (Betriebs-)Gemeinschaft gebunden und werde nicht wegen des Verdienstes, sondern zum Wohle des Ganzen geleistet. Anhand der Frühschriften des Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg zeigt Lelle in einer Analyse einzelner Texte von Anton Drexler, Dietrich Eckart und Gottfried Feder, dass diese die im 19. Jahrhundert gesponnenen Fäden "deutscher Arbeit" aufnahmen und daraus ein antisemitisches politisches Programm woben. Sie führten die Gegenüberstellung von "Mammonismus" und (deutschem) Sozialismus in die völkische Debatte ein. Hitler wiederum konnte hieran anknüpfen. Entlang seiner Rede "Warum sind wir Antisemiten" von 1920 zeigt der Autor, wie er in dieser "Gründungsrede der nationalsozialistischen Arbeitsauffassung" (51) ein irrationales, aber konsistentes Programm entwickelte, dessen Zentrum die antisemitische Arbeitsauffassung war. Weiterhin wird das Selbstbild allein ex negativo durch das Feindbild konstruiert. Hitler führt nun Begriffe wie "Gemeinnutz" die Pflicht zur Arbeit und die "Ehre" entlang rassischer Zuschreibungen ein. Die vermeintliche jüdische Nicht-Arbeit wurde noch stärker zum Feindbild, während "deutsche Arbeit" in das Zentrum der Integration und "Gefolgschaft" der Deutschen und zum Ausschluss der "Anderen" in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft rückte. Diese Grundgedanken wurden von Hitler selbst und anderen Nationalsozialisten immer wieder aufgenommen, variiert und waren eingeschrieben in die institutionelle Praxis von In- und Exklusion der nationalsozialistischen Gesellschaft. Dies skizziert Lelle anhand wichtiger Institutionen wie der Deutschen Arbeitsfront, in der performativen Dimension von Aufmärschen und Ausstellungen. Schließlich verdeutlicht er eindrücklich, wie zentral die Arbeitsauffassung in die Verfolgungs- und Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus eingeschrieben war.
Im zweiten Teil analysiert Lelle, wie der Topos in die Arbeitswelt übersetzt wurde. Dabei diskutiert der Autor einzelne Begriffe wie "Gefolgschaft" und wie diese die Grundlage bildeten, die Volksgenossen in ihrer Arbeit zu aktivieren. Ab hier wird die Analyse philosophischer, Begriffe der politischen Theorie rücken zunehmend ins Zentrum: von Thomas Hobbes' "Leviathan" und dessen Aneignung bei Carl Schmitt und Helmut Schelsky bis hin zu Franz Neumanns Gegenkonzept des "Behemoth". Es folgt die Analyse der Texte nationalsozialistischer Experten wie Reinhard Höhn, die versuchten, die ideologischen Modelle von "Führer" und "Gefolgschaft" für die betriebliche Arbeitspraxis praktisch nutzbar zu machen und die Arbeitenden für die leistungsbereite "deutsche Arbeit" zu aktivieren. Im "Arbeitsordnungsgesetz" von 1934, sieht Lelle ein wichtiges "Scharnier" zwischen Ideologie und Arbeitspraxis (156). Dieser Praxis nähert er sich in der Folge in zwei Unterkapiteln an, in denen er "Leistung und Eigenverantwortung" (175) im Zusammenhang des nationalsozialistischen "Kriegsfordismus" (Rüdiger Hachtmann) diskutiert. Entlang des Fallbeispiels der Menschenführung in den Klöckner-Humboldt-Deutz-Werken zeigt Lelle, dass der Nationalsozialismus sich mit Blick auf die "deutschen Arbeiter" nicht allein auf autoritäre Betriebsführung beschränkte, sondern gleichfalls auf partizipative Momente setzte und dabei die Arbeiter zu selbstständigen "Mitarbeitern" erziehen wollte.
Der abschließende dritte Teil stellt sich insbesondere sozialphilosophische Fragen zum Fortleben des Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik entlang seiner Arbeitsauffassung. Er zeigt Brüche und Kontinuitäten am Beispiel von Reinhard Höhns sogenanntem Harzburger Modell, einem im Nachkriegsdeutschland bis in die 1970er Jahre hinein erfolgreichen Management-Konzept für Führungskräfte. Diese in den 1930er und 1940er Jahren entwickelte Methode der Menschenführung konnte - von offenen antisemitischen und völkischen Bezügen befreit - ihre Karriere fortsetzen.
Lelle liefert insgesamt einen guten Überblick zur Geschichte der "deutschen Arbeit", der inhaltlich und zeitlich über die bestehende Forschung hinausweist. Er kann insbesondere zeigen, wie zentral die Arbeitsauffassung für die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspraxis war, über welch lange Kontinuitäten der auch heute noch im politischen Diskurs bemühte Topos "deutscher Arbeit" verfügt. Dabei spannt der Autor einen zeitlich und thematisch weiten Bogen, der zwischen Disziplinen und ihren Darstellungsweisen changiert. Lelle selbst nennt seine Studie folglich auch eine "grenzgängerische Arbeit" (277). Die negative Seite dieser Herangehensweise ist, dass die Argumentation bisweilen sprunghaft ist und einen roten Faden im Sinne einer historischen Erzählung vermissen lässt, während die gut geschriebene Darstellung argumentativ ein wenig in ihre Einzelteile zerfällt. Nichtsdestotrotz liefert Lelle eine Fülle an Denkanstößen und Anknüpfungspunkten für eine (Vor-)Geschichte der Arbeit im Nationalsozialismus. Eine solche hat zwar jüngst einen gewissen Auftrieb erfahren, dennoch ist dem Autor zuzustimmen, wenn er auf "bislang weitgehend vernachlässigte Kontinuitäten" - insbesondere für die Zeit nach 1945 - verweist (14). In seinem Ausblick markiert er mit der Geschlechtergeschichte "deutscher Arbeit" eine wichtige Leerstelle der Forschung. Zu ergänzen ist, dass es außerdem einer transnationalen Vergleichs- und Verflechtungsperspektive bedarf, um das Besondere an der "deutschen Arbeit" herausstellen zu können. Alles in allem ist zu hoffen, dass Lelles wichtige Studie in der Geschichtswissenschaft Anklang findet und weitere Forschungen anregt.
Torben Möbius