Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche, 2. Auflage, München: Carl Hanser Verlag 2023, 831 S., ISBN 978-3-446-27839-4, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940, Göttingen: Wallstein 2020
Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz: UVK 2017
Ingo Wuttke: Ernst Poensgen (1871-1949). Biographie eines Stahlunternehmers, Essen: Klartext 2022
Karl Schlögel ist ein ausgewiesener Kenner der sowjetischen Moderne, die er in seinen Werken aus kulturhistorischer Perspektive ausgeleuchtet hat. Im vorliegenden Buch, widmet sich Schlögel nun der Geschichte "Amerikas" im 20. Jahrhundert und zielt dabei auf eine "Neuvermessung des amerikanischen Jahrhunderts". (13) Für dieses Vorhaben verzichtet Schlögel auf eine Einleitung, in der er bestehende Forschungsthesen diskutiert oder sein eigenes Werk verortet. Vielmehr greift der Autor auf seinen bekannten raumtheoretischen Ansatz "Im Raume lesen wir die Zeit" zurück, den er in seinem kurzen Vorwort darlegt. [1] "Vermessung" und "Besichtigung" sind hierbei wörtlich zu verstehen: Schlögel schreibt die Geschichte der räumlichen Prägung Amerikas, möchte dabei mit Hilfe von Ortsbeschreibungen eine "Topographie des Wandels" erstellen. Dies bedeute, "sich auf der Oberfläche zu bewegen, durch den Raum zu navigieren, Landschaften zu erschließen, sich auf Schauplätzen umzusehen, Zeitschichten freizulegen und lesbar zu machen". (13) Diese "American Matrix" wird verstanden als "räumliche Prägung, die sich nicht nur in den Grundrissen von Städten und Kartenbildern von Landschaften niedergeschlagen hat", sondern auch in der "Transformation des kontinentalen Raums". (14) Daher rücken Infrastrukturen, Netzwerke, Knotenpunkte und Verkehrskorridore in den Fokus, während die eigene Zeitzeugenschaft bei den Erkundungen des Raums stets mitreflektiert wird. Schlögel hat die Vereinigten Staaten als politischer Aktivist, Tourist und im Rahmen seiner Forschungen über die Jahrzehnte immer wieder bereist. Außerdem bringt Schlögel nicht systematisch, aber zumindest schlaglichtartig immer wieder die Sowjetunion als Vergleichsfolie ein, sodass auch Austauschbeziehungen sichtbar werden.
Es folgen nicht weniger als 28 inhaltliche Kapitel, zu jeweils rund 20-25 Seiten. Die einzelnen Kapitel behandeln meist Planung, Umsetzung sowie soziale Auswirkungen und kulturelle Prägungen eines Großprojekts. Die Kapitel bauen nicht chronologisch aufeinander auf, sondern sollen für sich genommen, gewissermaßen als Essays funktionieren. Die verhandelten Themen sind äußerst vielfältig: Schlögel widmet sich Transport und Infrastrukturprojekten (Hoover-Damm, Greyhound Bus, Eisenbahn, Highways, Passagierluftfahrt), ikonischen Orten (Campus, Motel, Museum, Grand Canyon/Tourismus, Los Angeles/Santa Monica als Zuflucht für verfolgte europäische Intellektuelle, Baseballstadion, Mall), dem Städtebau/der Architektur (Rockefeller Center, Navigieren in Los Angeles, Detroit, Frank Lloyd Wright), der Geografie (Vermessung/Kolonisierung des Kontinents), der Weltausstellung in New York 1939/40, dem Werkstoff Stahl, der Ausgrenzung ("Color Line", "Indianerland"), dem Raumverhalten von US-Amerikanerinnen und Amerikaner ("Verhaltenslehre der Distanz"). Zwei deutlich kürzere Kapitel fallen ein wenig aus diesem thematischen Rahmen ("free speech", "Nachruf als amerikanische Erzählung"). Damit liegt der Fokus eindeutig auf monumentalen Projekten, dem Träumerischen und Traumartigen, dem gerade noch Menschenmöglichen.
Schlögel vertraut bei seiner "Neuvermessung" in erster Linie bekannten, vor allem zeitgenössischen Stimmen. Es sind Amerika-Erfahrungen und Reisebeschreibungen bekannter Protagonisten wie Alexis De Tocqueville, Gustave de Beaumont, Max und Marianne Weber, Friedrich Ratzel und weniger bekannter sowjetischer Journalisten (Ilja Ilf, Jewgeni Petrow). Neben den immer wieder einfließenden eigenen Beobachtungen während des Flanierens entlang der diskutierten Orte, ist die Re-Lektüre von zeitgenössischen und Primärtexten zentral. Insbesondere kommen Planer und Ingenieure zu Wort, werden Beobachter (Soziologen und Geographen, Künstlern, Romanciers) sowie Reiseführer und Werbetexter befragt.
Neben der Planungs- und Baugeschichte sowie der jeweils hervorgerufenen Raumerfahrung werden die soziale Funktion und die kulturelle Prägekraft der besprochenen (Groß-)Projekte betont. Bauwerke wie der Hoover-Damm sind "nicht nur spektakuläre Bauwerke", sondern "Ikonen, um die herum sich die amerikanische Nation gebildet hat". (162) Schlögel stellt mit Blick etwa auf Highways, Motels oder Malls immer wieder den engen Zusammenhang von Konsum und Raumbewältigung als "Aspekt einer Lebensform, verstanden als Verbrauch oder Genuss von Lebenszeit" heraus (268). All diese Projekte sind eingebunden in ein kulturelles Gewebe, nicht zuletzt aus Werbung und Kunst in ihren fließenden Übergängen. Das titelgebende Kapitel zeigt, dass die "American Matrix" auf den homogenisierenden Grundprinzipien des "Grid" und der "Main Street" beruht und diese Raumbewältigung und -erschließung eng verbunden ist mit Kolonisierung und Gewalt. Die kapitalistische Landnahme, die Parzellierung und Privatisierung habe dabei im Stacheldrahtzaun seinen symbolischen Ausdruck gefunden. Immer wieder betont Schlögel die Paradoxien, wenn er mit Blick auf Los Angeles vom Zusammenhang "von Untergangsszenarien und von fröhlichem Weitermachen in eine offene Zukunft" (282) schreibt. Der in den Nationalparks eingeschriebene Mythos der "reinen Natur" stehe etwa die Vertreibung und die Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen Indigenen gegenüber (347). Dennoch überwiegt insgesamt eine fast schon euphorische Sichtweise, die insbesondere umwelthistorische Erkenntnisse und Perspektiven ausblendet.
Das Ganze ist in seiner Breite sehr souverän und stilistisch brillant dargestellt. Dabei gibt der Autor den zeitgenössischen Texten breiten Raum. Sehr ausführliche, mitunter über mehrere Seiten gehende und nicht eingerückte Langzitate prägen das Buch, sodass manches Mal nicht mehr ganz klar ist, wer das Wort führt. Das wird dadurch verstärkt, dass Schlögel die Quellen häufig für sich sprechen lässt. Überdies sind Schlögels Interpretationen zur US-amerikanischen Moderne in der Regel nicht neu. Er zeichnet Amerika als Palimpsest, als vorweggenommene Zukunft für den Rest der Welt, als Sinnbild und Modell einer verwirklichten Moderne samt aller Paradoxien. Dabei zielt Schlögel eindeutig auf ein breiteres historisch interessiertes Publikum. Der geschichtswissenschaftliche Mehrwert des Werks mag vor diesem Hintergrund begrenzt erscheinen. Die Anwendung seiner spezifischen raumtheoretischen Perspektive führt jedoch zu einer fundierten und breit angelegten, stets spannend zu lesenden Darstellung des US-amerikanischen Jahrhunderts.
Anmerkung:
[1] Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
Torben Möbius