Jörg Deuter (Hg.): Festschrift Matthias Koeppel zum 85. Geburtstag. Vier biographisch verkettete Essays über Werner Heldt, Matthias Koeppel, Armin T. Wegner, Karl Alfred Wolken, Laugwitz-Verlag 2022, 170 S., 25 Farb-, 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-933077-66-0, EUR 25,00
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Ein methodisches Problem heutiger Kunstgeschichtsschreibung beruht auf der Tatsache, dass die Leben der damals oder heute handelnden Akteurinnen - ihre Affekte, Ansprüche und Aktivierungen immer wieder neu erinnert und gleichsam retro-aktiv zur Sprache gebracht werden müssen. KunsthistorikerInnen sind heute eben nicht mehr nur Beschreibende, sondern immer auch Schreibende. Diesem vergleichsweise hohen Selbstanspruch ist Jörg Deuter nicht ausgewichen. Im Gegenteil: Er hat einen in mancher Hinsicht autobiographischen Forschungsbericht über vier Lebensschicksale von Künstlern veröffentlicht, dessen Ergebnisse teilweise auf Jahrzehnte langen, miteinander verketteter Spurensicherungen beruhen und am Rande auch die eigene Bildungsgeschichte als passionierter Kunsthistoriker nicht verschweigt.
Kunst(geschichte) erscheint in diesem Zugriff in einem fast personalisierten Format einer erzählenden Form der Annäherung an (Kunst-)geschichte: ein Anlass, um die Lebensstationen von KünstlerInnen im Spiegel heutiger Erfahrungen zu reflektieren. Als eine jetzt in bestimmten Momenten einer Lebensgeschichte erzählbar gewordene, biographisch reflektierte Form erscheinen Kunstwerke mehr denn je als jetzt erinnerte soziale Konstellationen unserer Gegenwart und innerhalb eines historischen Raums, deren Werke rückwirkend geradezu zu Neuinterpretationen auffordern.
Jede heutige Beobachtung einer vergangenen Lebensgeschichte zwingt uns Stellung zu uns selbst zu beziehen. Wie eigensinnig kann oder muss ein Leben verlaufen sein, um deren Bedeutung heute wiederzuerkennen? In den sehr unterschiedlichen, voneinander abweichenden Biographien der beiden Schriftsteller Karl Alfred Wolken und Armin T. Wegner und den bildenden Künstlern Werner Heldt und Matthias Koeppel versucht Deuter als Kunsthistoriker und Germanist ein Spagat zwischen den Polen von möglicher Vergegenwärtigung und drohendem Vergessen, der Erinnerung an ungelebte Zukunft und Trauer über vergangenes historisches Leid - verdrängte Erfahrungen, die heute am ehesten im Modus ästhetischer Distanzierung von Leid und Barbarei des 20. Jahrhunderts erfahrbar geworden sind. Vieles, was Deuter in der Rekonstruktion der vier Lebensläufe anklingen lässt, erschließt sich vor allem dem aufmerksamen Auge oder Ohr der Mitlesenden.
Es handelt sich bei diesem Band im Grunde um vier vielfach miteinander verschlungene Lebenswege, die vier Künstler ebenso eigensinnig wie auch lebendig unternommen haben, um ihrem Leben einen ästhetischen Sinn zu geben - so schmerzhaft, enttäuschend und letztlich möglicherweise sinnerfüllt den Akteuren zu Lebzeiten dieses wohl erschienen sein mag. Wie auch immer: Deuters Annäherungen interpretieren Kunst jeweils im Wissen um deren utopisch gelebten Möglichkeitshorizonte. Er befragt vergangene Zusammenhänge ohne die eigenen gegenwärtig immer noch quälend gewesenen Bedrängnisse zu verschweigen - eine eher ungewöhnliche Form einer engagierten Autorhaltung. Deuter widmet sich in vier Essays seinen Protagonisten, die in ihren höchst unterschiedlichen Nachgeschichten (bzw. in ihrer heutigen relativen Vergessenheit) durchaus miteinander in Beziehung gesetzt werden können.
Karl Alfred Wolken
Deuter beschreibt in einem Kurzdurchlauf Lebensstationen eines Lyrikers, der, aus Norddeutschland stammend, zunächst mit alltagsbezogener Lyrik unerwartete Erfolge feierte, später aber von der Literaturkritik vergessen wurde. Hierin erinnert Wolken an die bekannte Tragik nicht weniger KünstlerInnen, die sich früh einen Namen machten und später umso mehr gegen eben dieses Vergessenwerden ankämpften. Als Deuter 1989 Wolken in der Villa Massimo besucht, sind es genau die Verlusterfahrungen, die im Hintergrund seines Gesprächs nur indirekt zur Sprache kommen. "[...] ich will in kein Haus, das den Toten gehört" heißt es in dem Gedicht "Abschreibung" (1974/78), das Deuter vielsagend prominent abdruckt. Die heute Mitlesenden sind aufgefordert, sich von der Bedeutung dieser erschreckenden Zeile ein eigenes Bild zu machen - ein sprachlicher "Trick", den beide, Wolken und Deuter, auf jeweils eigene Art beherrschen.
Armin T. Wegner
Mit Wegner, dem heute noch ungleich bekannteren expressionistischen Autor, politischen Aktivisten, aktivem und aktiv verfolgten NS Gegner und Emigranten, erinnert Deuter an die innere und äußere Heimatlosigkeit vieler Künstler, die im frühen 20. Jahrhundert zwischen die Räder der Weltgeschichte gerieten und sich dieser nicht selten wehrlos ausgesetzt sahen. Wegner, der "ständig neue Lebensentwürfe ausprobierte" (29), bekannte am Ende in einem Brief an Gert Schiff:
"Es geht gar nicht um Heimkehr, sondern um Umkehr, um Wiedergeburt, um Auferstehung, welche die wahre Heimkehr des Vertriebenen ist." Wegners abenteuerliches Leben, dessen Hauptstationen - Zürich, Berlin, Anatolien, England, Schottland, Italien - Deuter sensibel nachzeichnet, liest sich wie eine Irrfahrt durchs beginnende 20. Jahrhundert.
Matthias Koeppel
Koeppel, ein Gründungsmitglied der Berliner "Schule der Neuen Prächtigkeit", widmet Deuter den längsten und auch - neben dem Text zu Werner Heldt - kunsthistorisch ergiebigsten Essay seines Bandes, der zu dessen 85. Geburtstag als Festschrift publiziert wurde.
Die "bunte" Lebensgeschichte bzw. Karriere des Berliner Malers und Hochschulprofessors bildet, so Deuter in seiner Einleitung, eine Art verspieltes Menuett, vergleicht man den gesamten Band wie eine Sonate mit ihren verschiedenartigen Sätzen. Der an der realistischen Malerei orientierte Koeppel arbeitet bis heute an einer neoromantischen Form von sozialkritischen Wirklichkeitsverdichtungen. Deuters Text analysiert wichtige Traditionslinien und Vorbilder im Werk Koeppels (so etwa die ketzerische Malerei Signorellis), aber auch biographische Eigenarten wie etwa den reflektierten Umgang mit optischen Verfremdungen scheinbar bekannter Wirklichkeitsdetails - wie Deuter am Beispiel der Verfremdung einer Coladose nachweist. Die Tatsache, dass Koeppel einen demonstrierenden Aktivisten ins Bild setzt, der symbolisch gegen den Abbruch von Erich Mendelsohns Schaubühne Stellung bezieht, klingt heute nach sozialkritischem Pathos - erhält aber im Kontext heutiger Klimaaktivisten, die gegen die globale Zerstörung zu Felde ziehen, durchaus aktuelle utopische Dimensionen.
Werner Heldt
Das Schicksal des Malers Werner Heldt, der 1954 mit gerade 50 Jahren krank und vereinsamt auf Ischia starb, ist reich an Tragik. Warum ausgerechnet ein so puristisches und unpolitisches Stillleben wie "Fensterausblick mit totem Vogel" (1943/1945) zur Ikone des erklärten NS-Gegners und Kriegsgefangenen werden konnte, stellt Deuter mit Recht zur Diskussion. Im Gegensatz zur bisherigen Heldt-Forschung schlägt der Autor mit einigem Recht 1943 als Entstehungsjahr vor.
Nur ein Jahr nach dem Tode Helds, der nach Kriegsende besitzlos war, sich aber auch nicht mit dem Kunstbetrieb arrangieren wollte, erschien, so Deuters Recherche, die avantgardistische Zeitschrift "Texte und Zeichen" mit fünf Illustrationen des Künstlers - nach Ansicht des Autors der Beginn einer seitdem andauernden kunsthistorischen Rückversicherung, die bis heute hin andauert und durch relativ umfangreiche Texte zu seinem Oeuvre dokumentiert ist. Deuters Rekonstruktion vor allem der letzten Lebens- und Werkgeschichte Werner Heldts umfasst dabei so unterschiedliche Dimensionen wie detaillierte persönliche Recherchen des Autors, eine teilweise Neuinterpretation zu einzelnen Werken Heldts, eine biographisch und zeitgeschichtlich überzeugende Deutung der Ikonographie des Fenster- und Meeresmotivs sowie vor allem den erstmaligen Abdruck von mehreren ergreifend authentischen Fotografien Fritz Eschens, die Werner Heldt 1950 vor einzelnen seiner Werke zeigen. Dass Deuter auch auf das offensichtlich wohl verschollene - und vom Künstler selbst später erfolglos gesuchte - Gefangenschaftsbild "Tote Krähe im Fenster" ausführlich Bezug nimmt, unterstützt dabei nur den Eindruck tiefer Ambivalenz, die diesen ungewöhnlich persönlich anmutenden Band insgesamt durchzieht.
Indem sich Deuter am Ende seines Buches an das Jahr 1970 in Oldenburg erinnert, erweist sich diese Autor-Reflexion als gelungener Schlussakkord seiner - immer auch autobiographischen - Spurensicherungen. In der dortigen "literarischen Buchhandlung" Paul Meskempers - eines, wie der Autor notiert, "Buchhändlers, Wilhelm Busch-Forschers und Kulturvermittlers" - wurde offenbar die geistige Neugierde auf Kunst und Literatur des damals jugendlichen Autors geweckt. In diesem höchst farbigen Schlusskapitel erzählt Deuter lebendig und anschaulich von der Netzwerker-Rolle dieses Oldenburger Buchhändlers und Regionalforschers und wie ganz nebenbei von Personen, die heute längst in die bundesdeutsche Nachkriegskulturgeschichte eingegangen sind - so etwa vom heute renommierten Kunsthistoriker Gert Schiff (dem Deuter vor einiger Zeit eine umfangreiche Biographie widmete), dem Grafiker und Kunstaktivisten Klaus Staeck, der 1956 nach seiner Flucht aus der DDR in Meskemper einen geistigen Mentor fand oder der späteren RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Deuter schildert in dieser Figur des Buchhändlers eine Person, deren lebendige Neugierde und wacher Spürsinn für vergessene Persönlichkeiten und deren Lebensgeschichten ihm offenbar später selbst zu einem Vorbild wurden. Deuters 170seitiger, sorgfältig gestalteter Band macht in vielerlei Beziehung "neugierig auf die Neugierde der anderen" - zitiert Deuter am Ende Klaus Staecks Erinnerung an den einflussreichen Oldenburger Buchhändler und verweist dabei wohl auch auf sich selbst.
Michael Kröger