Yuri Kostenko: Ukraine's Nuclear Disarmament. A History (= Harvard Series in Ukrainian Studies; 78), Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2020, 350 S., 89 Abb., ISBN 978-0-6742-4930-1, EUR 86,50
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Mit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 zerbrach eine nukleare Supermacht, deren Nuklearwaffen über die gesamte eurasische Landmasse verteilt waren. Ein Drittel dieses Arsenals befand sich auf dem Territorium der Ukraine. Der Umgang mit diesem nuklearen Erbe der Ukraine steht im Mittelpunkt des 2020 in englischer Übersetzung erschienen Werkes von Yuri Kostenko. Der Autor sieht in dieser sowjetischen Hinterlassenschaft nichts weniger als "one of the greatest opportunities in modern history" (23) und macht früh deutlich, dass diese Möglichkeit nicht vollumfänglich genutzt wurde. Seiner Meinung nach habe die Ukraine nicht allein vor der Wahl zwischen einem nuklearen oder nicht-nuklearen Status gestanden, sondern zahlreiche Möglichkeiten gehabt, die Denuklearisierung umzusetzen.
Kostenko vertritt die Position, dass interner Dissens, fehlende Expertise sowie eine amerikanisch-russische Interessenkonvergenz zu einem für die Ukraine suboptimalen Ergebnis in Form von geringen wirtschaftlichen Kompensationen und fehlenden Sicherheitsgarantien geführt haben. Die Folge dieser Entscheidung sei ein regionales Ungleichgewicht gewesen, dessen Konsequenzen bis in die Gegenwart nachwirken.
Kostenko tritt dem Leser dabei nicht allein als Autor entgegen, sondern auch als ein zentraler Akteur, der die Positionierung der Ukraine am Vorabend der Unabhängigkeit im Jahr 1991 bis hinzu zu den entscheidenden Verhandlungen vor dem Budapester Memorandum im Dezember 1994 mitgeprägt hat. Kostenkos politische Karriere begann als Mitglied der oppositionellen Rukh-Bewegung und führte ihn als langjährigen Abgeordneten der Rada zum Amt des Ministers für Umweltschutz (1992-1998). Darüber hinaus war er federführend bei den ukrainisch-russischen Verhandlungen zur Denuklearisierung. Dieser Umstand macht Kostenkos Werk, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Paul D'Anieri in seinem Vorwort pointiert bemerkt, zu einer "mixture of memoir, history, and polemic" (9) und als solche zugleich zur Primär- und Sekundärquelle.
Es ist folglich nicht überraschend, dass Kostenkos Darstellung von der internen Diskussion und Dynamik um die Frage der ukrainischen Denuklearisierung bestimmt ist. Auch wenn dieser Zugriff Gefahr läuft, sich zu sehr in der Beschreibung der institutionellen Eigenlogik zu verlieren, bietet Kostenko auf diese Weise einen direkten Einblick in die internen Debatten der ukrainischen Politik. Dabei greift er auf eine Fülle von Korrespondenzen, Gedächtnisprotokollen, Interviews und Parlamentsakten zu, von denen eine Auswahl in Übersetzung im Anhang des Werks abgedruckt ist.
Kostenko wählt eine stringente chronologische Darstellung, an deren Ende die Unterzeichnung des Budapester Memorandums steht, und nutzt das erste Kapitel, um die konkurrierenden nationalen und internationalen Interessen darzustellen. Dabei charakterisiert er die Position der unabhängigen Ukraine mit Blick auf den Einfluss der USA und Russland als "infant in a grownup's game" (32).
Während sich eine Zentralisierung der ehemaligen sowjetischen Nuklearwaffen in Russland sowohl für Moskau als auch für Washington bereits 1991 als strategisches Ziel herauskristallisiert hatte, war die ukrainische Debatte von zwei konkurrierenden Vorstellungen bestimmt. Sah eine Gruppe in den Nuklearwaffen eine gefährliche Erblast, die es schnell zu beseitigen galt, sprach sich eine andere Gruppe dafür aus, den Transfer der Nuklearwaffen zu nutzen, um angemessene finanzielle Kompensationen, Sicherheitsgarantien und die Integration der Ukraine in das europäische Staatengefüge zu erreichen. Kostenko war Teil der letztgenannten Gruppe und zeichnet nach, wie seine Position in der innenpolitischen Auseinandersetzung zunehmend an Gewicht verlor.
Kostenko setzt sein Narrativ 1992 mit der ersten Ausarbeitung einer ukrainischen Position zur Frage des nuklearen Erbes im Rahmen einer Arbeitsgruppe an. Diese Gruppe habe festgehalten, dass im Prozess der Denuklearisierung auch die nationalen Sicherheitsinteressen verteidigt werden müssten (93), die spätestens mit der ersten Ukrainischen Verteidigungsstrategie im Jahr 1993 ausformuliert waren. Kostenko erzählt damit auch die Geschichte, wie aus der ehemaligen Sowjetrepublik ein eigenständiger Staat auf der internationalen Bühne wurde, der eigene strategische Ziele und Interessen zu formulieren begann. Zugleich wird bereits hier deutlich, dass Kostenkos Argumentation und Bewertung weitestgehend mit einem strategischen Nutzenkalkül operiert, mit Hilfe dessen verschiedene Positionen und deren Konsequenzen verglichen werden. Außen vorgelassen werden die Rolle der öffentlichen Meinung und die Bedeutung der Nuklearfrage für das ukrainische Selbstverständnis der frühen 1990er Jahre, die von Christopher Stevens beispielsweise hervorgehoben wurden. [1]
In den nachfolgenden Kapiteln erarbeitet Kostenko verschiedene Argumentationsmuster, warum es der Ukraine nicht gelang, die nationalen Interessen im Rahmen der Verhandlungen zur Denuklearisierung durchzusetzen. Kostenko unterstreicht regelmäßig die bestehende Asymmetrie der technischen und diplomatischen Expertise zwischen Kyiv und Moskau. Während die Russische Föderation auf bestehende Institutionen und Experten in Moskau zurückgreifen konnte, fehlte den Entscheidungsträgern in Kyiv zunächst "realistic knowledge about the subject of this landmark event" (98). Diese Asymmetrie identifiziert der Autor auch in der Fähigkeit, die eigene Position in der Öffentlichkeit argumentativ bekräftigen zu können. Hier hat Russland bestehende Strukturen nutzen können, um einen zügigen Transfer der Nuklearwaffen aus ukrainischem Territorium weltweit zu bewerben. Dieses Ungleichgewicht hat laut Kostenko dazu geführt, dass die USA und die westeuropäischen Staaten die Frage um die ukrainische Denuklearisierung zunehmend durch ein russisches Prisma bewertet hätten. Da die USA bereits nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow versucht hatten, die Ukraine zu einer Denuklearisierung zu verpflichten, ergab sich in der Folge eine Konvergenz der amerikanischen und russischen Interessen. Auch wenn die Beobachtung, die USA hätten die Beziehungen mit Russland in den frühen 1990er Jahren priorisiert, zutreffend ist, überschätzt Kostenko die Homogenität der westlichen Position, die durchaus umstritten war. [2] Darüber hinaus klammert er aus, dass der auf die Ukraine ausgeübte Druck zu einem großen Teil auf das bestehende Nonproliferationsregime zurückzuführen ist, wie Mariana Budjeryn argumentiert hat. [3] Ein weiteres durchgängiges Motiv ist der Konflikt zwischen dem ukrainischen Parlament und den ukrainischen Präsidenten Krawtschuk und Kutschma, die nach Kostenkos Darstellung die Denuklearisierung schnellstmöglich abwickeln wollten und dadurch Verpflichtungen eingegangen seien, die nicht durch Entscheidungen des Parlaments legitimiert waren.
Die Art und Weise, wie die ukrainische Denuklearisierung umgesetzt wurde, ist für Kostenko entscheidend für die langfristige Instabilität im östlichen Europa. Damit stand am Ende eine Entscheidung, von der keine Seite langfristig profitieren konnte. Auch wenn sich Teile des Werkes eher als polemische Apologie des Autors lesen, machen die Fülle von Quellen und die präzise Darstellung der innenpolitischen Debatte Kostenkos Arbeit zu einem wichtigen Beitrag zum genauen Verständnis des Umgangs mit dem nuklearen Erbe in der Ukraine.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Christopher A. Stevens: Identity Politics and Nuclear Disarmament. The Case of Ukraine, in: The Nonproliferation Review 15 (2008), 43-70.
[2] Vgl. John J. Mearsheimer: The Case for a Ukrainian Nuclear Deterrent, in: Foreign Affairs 72 (1993) H. 3, 50-66; Vladislav M. Zubok: Collapse. The Fall of the Soviet Union, New Haven / London 2021, 343.
[3] Vgl. Mariana Budjeryn: The Power of the NPT. International Norms and Ukraine's Nuclear Disarmament, in: The Nonproliferation Review 22 (2015), 203-237; dies.: Non-Proliferation and State Succession. The Demise of the USSR and the Nuclear Aftermath in Belarus, Kazakhstan, and Ukraine, in: Journal of Cold War Studies 24 (2022) H. 2, 46-94.
Lukas Baake