Faruk Ajeti: Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1986-1999 (= Historische Europa-Studien - Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft; Bd. 26), Hildesheim: Olms 2022, 430 S., ISBN 978-3-4871-6208-9, EUR 68,00
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Der Autor dieser Wiener Dissertation vertritt den jüngsten europäischen Staat, die Republik Kosovo, seit 2021 als Botschafter in Berlin. Viele kosovarische Diplomaten sind publizistisch oder wissenschaftlich tätig: Ajetis Vorgänger Beqë Cufaj ist ein auch durch deutsche Übersetzungen bekannter Schriftsteller; Sylë Ukshini, ehemals Botschafter in Tirana, promovierte 2020 über die Kosovopolitik der EU. [1]
Die Autoren dieser Arbeiten argumentieren selbstverständlich zugunsten der Unabhängigkeit Kosovos, wozu sich Ajeti bekennt; das muss aber nicht im Widerspruch zur wissenschaftlichen Qualität stehen. Die Literatur über die politischen, juristischen und humanitären Implikationen dieser Staatswerdung ist heute kaum noch überschaubar, wie das Literaturverzeichnis belegt.
Die meisten Analysen gelten der Rolle größerer Staaten oder überstaatlicher Institutionen (EU, NATO, UN) in diesem Konflikt. Dass Ajeti die Politik eines minor players untersucht, ist etwas Neues und zugleich sehr Traditionelles. Österreich-Ungarn war zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus machtpolitischer Konkurrenz zu Russland und Italien so sehr an einem unabhängigen Albanien interessiert, dass die These aufgestellt wurde, Albanien sei als Staat wie als Nation nur ein Kunstprodukt der k.u.k.-Außenpolitik. [2]
Die Periodisierung ergibt sich aus den Entwicklungen beider Länder: 1986 endete die politische Hegemonie der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ), die der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) in einer Großen Koalition das Außenministerium überlassen musste; zudem begann der aufhaltsame Aufstieg der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Zugleich formierte sich der serbische Nationalismus gegen die Kosovo-Albaner unter Slobodan Milošević. 1999 war das Jahr des Kosovo-Krieges, der das Gebiet de facto aus Rest-Jugoslawien herauslöste, und des Abstiegs der SPÖ in die Opposition, während Wolfgang Schüssel die erste, äußerst umstrittene ÖVP-FPÖ-Koalition bildete.
Ajeti widmet der Vorgeschichte, den Beziehungen zwischen Österreich(-Ungarn) und Kosovo seit den Türkenkriegen des 17. und 18. Jahrhunderts über das Kultusprotektorat für die albanischen Katholiken und die unterschiedlichen Konzepte in der Führung der Doppelmonarchie für Albaniens Staatswerdung bis zu seiner Rolle als Besatzungsmacht in Kosovo, Nord- und Mittelalbanien, ein eigenes Kapitel. Er kritisiert, Wien habe 1913 den Anspruch St. Petersburgs, Kosovo an Serbien fallen zu lassen, nicht abgewehrt.
Die Nachkriegs-Republik brauchte lang, um ihre völkerrechtlich vorgegebene Neutralitätspolitik aktiv zu gestalten. Diesen Aufbruch ab 1970 verbindet Ajeti mit dem SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky, der eine dynamische Politik gegenüber Osteuropa betrieb und Österreichs internationales Gewicht als neutrales Land stärkte, wobei er in Tito einen Partner fand. Nach Kreiskys Ausscheiden 1983 orientierte sich Österreich auf die Europäische Gemeinschaft und trat ihr 1995 bei.
Keiner Regierung, ob in Österreich oder anderswo, war die Sprengkraft der nationalen Gegensätze innerhalb Jugoslawiens verständlich, die Tito auch mit der Verfassung von 1974 und einer Reihe von konkreten Verbesserungen in Kosovo nicht aufgehoben, sondern nur eingefroren hatte. Die internationale Jugoslawienpolitik konzentrierte sich zunächst auf Kroatien und Slowenien, dann auf Bosnien-Herzegowina. Die Lage der Kosovo-Albaner stand nicht ganz oben auf der Agenda.
Ajeti weist Österreich für die frühen 1990er Jahre eine Vorreiterrolle in der internationalen Kosovo-Politik zu, besonders der rot-schwarzen Koalitionsregierung Vranitzky-Mock. In der Kosovo-Politik gab es weitgehende Einigkeit zwischen den Regierungsparteien ÖVP und SPÖ und der Opposition aus FPÖ und Grünen. Politiker aller Lager suchten das Gespräch mit den Wortführern der Kosovo-Albaner.
Die EU-Mitgliedschaft hat nach Ajetis Einschätzung Österreichs außenpolitischen Spielraum nicht gemindert, sondern erweitert. Die jugoslawische Führung wehrte sich allerdings weiter gegen jede Internationalisierung der Kosovo-Frage. Gleichzeitig wurde das Scheitern des von Ibrahim Rugova vertretenen zivilen, gewaltfreien Widerstands immer klarer, 1996 trat der bewaffnete Widerstand in Gestalt der UÇK auf den Plan. Darauf fanden die Politiker und Diplomaten Österreichs ebenso wenig eine klare Antwort wie die in den anderen westlichen Ländern.
Ajeti zeichnet die Positionierung der österreichischen Regierung in ihrer Dynamik detailliert nach. Dazu gehörte auch die Einsicht, dass man um direkte Gespräche mit der UÇK nicht mehr herumkam. Diese Kontakte wurden unter anderem von dem österreichischen Diplomaten Wolfgang Petritsch wahrgenommen, den die EU zu ihrem Sonderbeauftragten für Kosovo berufen hatte. Die Eskalation 1998 fiel in das Jahr, in dem Österreich erstmals die EU-Ratspräsidentschaft und damit die Leitung von EU-Beobachtungsmissionen in Kosovo innehatte.
Der Autor weist die These zurück, die Operation "Hufeisen", der Plan des serbischen Militärs zur systematischen Vertreibung der Kosovo-Albaner, sei eine Geheimdienst-Mystifikation. Der österreichische militärische Nachrichtendienst, das Heeresnachrichtenamt, habe korrekt recherchiert, was durch den Gang der Ereignisse bewiesen sei.
Das Massaker von Reçak im Januar und die Konferenz von Rambouillet im Februar waren 1999 die letzten Marksteine auf dem Weg zur NATO-Intervention. Das belastete das innenpolitische Klima in Österreich zwischen den Verteidigern der Neutralität und den Befürwortern eines NATO-Beitritts. Das Land verweigerte der NATO Überfluggenehmigungen und engagierte sich stattdessen (unter Einsatz des Bundesheeres) humanitär zugunsten der vertriebenen Albaner.
Im Schlusskapitel skizziert Ajeti die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Wien und Prishtina bis 2010. Die Fortsetzung der humanitären Hilfe, die Unterstützung von Projekten und die Vermittlung zwischen Prishtina und Belgrad standen im Mittelpunkt der österreichischen Politik (der österreichische Diplomat Albert Rohan war Stellvertreter des finnischen Expräsidenten Martti Ahtisaari als Vermittler). Österreich gehörte zu den ersten Staaten, die 2008 Kosovos Unabhängigkeitserklärung anerkannten.
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse, eine Chronologie und sechs Interviews mit österreichischen Politikern und Diplomaten, darunter Rohan und Petritsch, schließen das Buch ab. Ein Register fehlt leider.
Faruk Ajetis Studie ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der internationalen Politik der 1990er Jahre hinsichtlich Jugoslawiens und Kosovos - auch über Österreich hinaus. Es gelingt ihm, die Entwicklungen innerhalb der österreichischen Politik und ihre Folgen für Wiens balkanpolitisches Engagement als Mitglied der EU, aber nicht der NATO verständlich zu machen.
Anmerkungen:
[1] Beqë Cufaj : Projekt@Party. Wien 2012; Sylë Ukshini: Die Kosovo-Frage als Herausforderung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Vom Zerfall Jugoslawiens bis zur Unabhängigkeitsklärung des Kosovo. Wien 2020.
[2] Vgl. Teodora Toleva: Der Einfluss Österreich-Ungarns auf die Bildung der albanischen Nation 1896-1908. Klagenfurt 2013.
Michael Schmidt-Neke