Andreas Gayda: Katholische Milieubildung im Oberschlesischen Industriegebiet, Münster: Aschendorff 2021, 612 S., ISBN 978-3-402-10186-5, EUR 58,00
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Seit Jahrzehnten wird die Region Oberschlesien von einem regen Forschungsinteresse begleitet, das sich in Form von Spezialstudien oder interdisziplinär auf ihre Geschichte und insbesondere Kultur konzentriert. Somit erscheint es nur folgerichtig, in diesem Kontext auch Fragen nach der oberschlesischen Religiosität beziehungsweise Kirchlichkeit in den Blick zu nehmen. Drei jüngst erschienene Publikationen behandeln dieses Forschungsfeld, mit überwiegend vergleichender Schwerpunktsetzung. [1] Die vorliegende Untersuchung von Andreas Gayda über die katholische Milieubildung im oberschlesischen Industriegebiet im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat den Charakter einer Überblicksdarstellung. Sie versteht sich als Aufarbeitung eines bislang vernachlässigten, aber für das Verständnis der oberschlesischen Katholizität wesentlichen Aspekts: der Genese und Ausformung eines regionalen katholischen Milieus.
Den Ausgangspunkt bildet der Vertrauensverlust eines Großteils der katholischen Bevölkerung Oberschlesiens gegenüber dem preußischen Staat im Schatten des Kulturkampfes. Der Verfasser lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Konfliktfelder, die eine milieugestaltende Wirkung unter den Katholiken Oberschlesiens entfalten konnten. Neben dem Schulwesen und der staatlichen Sprachpolitik rechnet Gayda dazu den Kirchenbau, das Wallfahrtswesen, den regionalen Altkatholizismus sowie den Pfarrklerus als Milieuelite. Hauptschauplätze der Arbeit sind die Städte Gleiwitz und Beuthen, die sich auf eine bis ins Mittelalter zurückgehende städtische Tradition stützen konnten. Den Kontrast dazu bilden die zwei neuzeitlichen "Gründungen" Kattowitz und Königshütte, die erst infolge der Industrialisierung zu urbanen Großräumen wurden.
Doch so schlüssig sich dieser Ansatz darzustellen scheint, so prekär verhält es sich mit der dafür herangezogenen archivalischen Überlieferung. Gayda standen nur wenige Quellen zur Verfügung; insbesondere das Archivgut kirchlicher Provenienz lag nur spärlich erschlossen vor und ist damit in seiner Interpretation kaum präsent. Lediglich ein Pfarrarchiv sowie einige wenige Rundschreiben der Erzbischöflichen Kurie in Breslau wurden zur Auswertung herangezogen. Dieses Quellenproblem kompensiert der Verfasser durch einen ausführlichen Literaturapparat, der im Detail aber dazu beiträgt, dass die genannten Konfliktfelder im Umfang und im Erkenntnisgewinn recht unterschiedlich ausfallen. So nimmt die Schul- und Sprachpolitik einen sehr breiten Raum ein und enthält durchaus wertvolle Erkenntnisse: Durch gezielte Maßnahmen der preußischen Ministerialbürokratie, etwa die vorgeschriebene Erteilung des Religionsunterrichts nur in deutscher Sprache, sollte zum einen das Polnische gänzlich aus den Schulen verdrängt und zum anderen die katholische Kirche direkt getroffen und ihr gesellschaftlicher Einfluss zurückgedrängt werden. Der dekretierte Verlust der religiösen Unterweisung in der Muttersprache manifestierte den Vorrang des Staates und seiner Partikularinteressen. Die Entfremdung der polnisch sprechenden katholischen Schuljugend gegenüber tradierten ethischen Orientierungen, Normen und Werten nahm die preußische Obrigkeit billigend in Kauf. Die Breslauer Bistumsleitung opponierte offen gegen diese staatliche Schulpolitik, da sie das Szenario einer tiefen Sinnkrise in einer zunehmend säkularisierten Industrieregion heraufziehen sah und die damit verbundene schleichende religiöse Identitätsdiffusion fürchtete.
Die Haltung der höheren Geistlichkeit wirkte unter den oberschlesischen Katholiken einheitsstiftend und trug wesentlich zur Entwicklung einer Milieumentalität bei. Allerdings verlief dieser Prozess nicht frei von Spannungen. So gelang es der Provinzialversammlung der schlesischen Katholiken nicht, auf die preußische Ministerialbürokratie einzuwirken und den Religionsunterricht in polnischer Sprache wieder zu erlauben, was zu Resignation und tiefen Rissen innerhalb des oberschlesischen Katholizismus führte. Trotz dieser immer stärker sichtbaren nationalen Tendenzen wendet sich Gayda gegen eine generalisierende Betrachtung, in der die Religion als vorrangiges Mittel zur patriotischen Gesinnungsbildung gesehen wird. Auch lehnt er das Interpretament einer assimilierenden Germanisierung ab, da außerhalb der staatlichen Schul- und Sprachpolitik den Katholiken Oberschlesiens genügend Raum zugestanden worden sei, um einer regional verankerten, multiplen Identität Ausdruck zu verleihen.
Eine milieufördernde Wirkung identifiziert Gayda insbesondere in den Konfliktfeldern Wallfahrten und Kirchenbau. Positiv hervorzuheben ist, dass der Verfasser alle oberschlesischen Wallfahrtsorte einbezieht, an denen die Katholiken ihrem Glauben und ihrer Kirchlichkeit öffentlich Ausdruck verleihen konnten. Diese religiösen Großveranstaltungen waren gerade in der Zeit des Kulturkampfes sichtbare Zeugnisse kirchlicher Loyalität und Selbstvergewisserung. Öffentlich manifest war der katholische Selbstbehauptungswillen auch durch seine Kirchenbauten, die selbst ohne finanzielle Unterstützung seitens des preußischen Staates von den Gläubigen durch ihre Spenden- und Opferbereitschaft realisiert wurden. Selbst wenn sich Projekte dieser Art vor allem auf eine Pfarrei bezogen, so handelte es sich doch - wie im Fall von Beuthen - zumeist um Repräsentativbauten, die als Landmarken auf die städtische Region und Gesellschaft ausstrahlten.
Gerade bei den Konfliktfeldern Wallfahrten und Kirchenbau hätte der Blick noch mehr an Tiefenschärfe gewinnen können. Die Wallfahrtsorte waren Orte nicht nur der Glaubensmanifestation, sondern auch der Vergemeinschaftung, an denen eine spezifisch regionale religiöse Identität ausgeformt und zum Ausdruck gebracht werden konnte. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den katholischen Industriearbeitern nicht nur um gebürtige Oberschlesier, sondern zu einem erheblichen Teil auch um Zugezogene aus benachbarten Regionen, unter anderen aus dem russischen Königreich Polen, handelte, hätte eine solche Erweiterung der Fragestellung sich durchaus als lohnend erweisen können. Auch die zeitgenössischen Kirchenbauten, hier vor allem Stil und Sprache ihrer Architektur, wiesen dezidiert regionale Charakteristika auf. So überragten in Industriegebieten die Türme neuerrichteter Kirchen nicht selten die Fördertürme und Schlote von Zechen und Fabriken. "Kreuz über Kohle und Eisen", das war eben nicht nur ein pastorales Leitwort, sondern stellte auch vor Ort, für alle sichtbar, einen Ordnungsrahmen dar, der einer schleichenden Säkularisierung der Bevölkerung entgegenwirken sollte und den kirchlichen Anspruch auf Präsenz und religiöse Mitgestaltung im sozial-kulturellen Lebensraum erhob.
Weniger ertragreich fällt dagegen die Darstellung der regionalen geistlichen Milieueliten aus. Sie erschöpft sich vornehmlich in einer Reihung von Biogrammen einzelner Kleriker. Diese hätte der Verfasser besser straffen und die soziologische Auswertung direkt mit dem Kernthema der Untersuchung in Beziehung setzen sollen. Insgesamt schmälert dies aber den Wert der Arbeit nicht. Gayda verschafft nicht nur einem bisher weitgehend vernachlässigten Forschungsgegenstand größere Aufmerksamkeit. Er bietet zugleich auch eine fundierte Basis für weitere Forschungen zum katholischen Milieu in Oberschlesien, nicht zuletzt für die Zeit nach dem Kulturkampf.
Anmerkung:
[1] Thies Schulze: Katholischer Universalismus und Vaterlandsliebe. Nationalitätenkonflikte und globale Kirche in den Grenzregionen Ostoberschlesien und Elsass-Lothringen, 1918-1939, Paderborn 2021; Matthäus Wehowski: Deutsche Katholiken zwischen Kreuz und Fahne. Konfessionelle Mobilisierung und nationale Aushandlungsprozesse in Slawonien und Ost-Oberschlesien (1922-1926), Marburg 2020.
Severin Gawlitta