Agostino Paravicini Bagliani / Francesco Santi (a cura di): Medioevo latino e cultura europea. In ricordo di Claudio Leonardi (= mediEVI; 32), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2021, XLII + 436 S., ISBN 978-88-9290-082-0, EUR 58,00
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Die Bedeutung des 2010 verstorbenen Claudio Leonardi erkennt man schon daran, dass der hier anzuzeigende Band mittlerweile der dritte Gedenkband ist. Diese Gedenkschrift ist aber die vermutlich persönlichste, da nur in ihr das unmittelbar persönliche Band zwischen Beiträgern und Geehrtem zum Tragen kommt (VII). So eröffnen diesen Band - nach programmatischen Ausführungen - zwei 'Epitaphien' auf Claudio Leonardi, bevor die weiteren Aufsätze folgen, die alle Themen betreffen, die dem Geehrten wichtig waren.
Die insgesamt 18 Beiträge werden auf fünf Abschnitte verteilt, von denen wiederum drei 'Entdeckungen' gewidmet sind. Um konkreter zu werden versammelt der erste Abschnitt drei Aufsätze über den Beginn oder den Weg zur neuen Kultur des Mittelalters; drei Aufsätze betreffen die erste Entdeckung, nämlich den Mythos und die Realität der Übereinstimmung im 9. und 10. Jahrhundert. Die zweite Entdeckung ist mit 'Libertas' überschrieben und betrifft das 11. und 12. Jahrhundert; dieser Entdeckung sind vier Aufsätze gewidmet. Ebenfalls vier Aufsätze befassen sich mit der dritten Entdeckung, der 'Autohagiographie' von Franz von Assisi bis zu den Mystikerinnen. Drei Beiträge bilden die letzte Gruppe über ewig offene Probleme, wobei hier so verschiedene Dinge versammelt sind wie Erörterungen über Meister Eckhart und weibliche Mystik (A. Bartolomei Romagnoli, 363-382), die Pflege des Körpers und Lothars von Segni De miseria humanae conditionis (A. Paravicni Bagliani, 383-395) und schließlich eine Vorstellung der technischen Infrastruktur im Wandel der Zeit hinter der von Claudio Leonardi maßgeblich mit geprägten Bibliographie Medioevo Latino und den sich nach und nach entwickelnden Projekten der SISMEL (L. Pinelli, 397-408). Und wenn auch die 'offiziellen' Würdigungen bereits zu Anfang des Bandes platziert sind, so tragen doch viele Aufsätze eine entschieden persönliche Note, die das enge Verhältnis zum Geehrten zum Ausdruck bringen. Drei Indizes beschließen den Band. Jeder Beitrag wird von einem englischen Titel mit englischer Kurzzusammenfassung begleitet.
So breit gefächert die Themen sind, die über das beginnende bis zum ausgehenden Mittelalter behandelt werden, so schwierig ist es, eine andere Herangehensweise für eine Rezension zu finden, als durch die einzelnen Aufsätze zu laufen. Jedoch sind auch quer durch die eher chronologisch orientierte Komposition des Bandes übergeordnete Themen zu erkennen: Poesie oder Literatur allgemein und Theologie oder Exegese, Komposition und Stil, Mystik, Heiligkeit und Hagiographie. Innerhalb dieses Versuches eines Ordnungsschemas sind vielleicht die Beiträge von G. Cremascoli (La lessicografia tra XI e XII secolo come esperienza letteraria, 257-270) und D. Frioli (La cultura del nuovo monachesimo, 219-256) am schwierigsten einzuordnen. Allein mit Blick auf den zur Verfügung stehenden Umfang werden nicht alle Aufsätze Erwähnung finden können.
Mit einem sehr persönlich gehaltenen Ansatz geht F. Santi (La poesia dei Dialoghi di Gregorio Magno, 3-19) der Frage nach, ob es im Mittelalter überhaupt Poesie gegeben hat, was er exemplarisch an den Dialogen Gregors des Großen verhandelt. Er bietet hier eine anregende Meditation, die von zwei Definitionen, nämlich der Definition von Poesie und der von Theologie abhängt. Eine andere Position nimmt F. Stella (Sperimentazione poetica e consapevolezza intellettuale nella cultura carolingia, 95-109) ein, der einer Idee des Geehrten nachgeht, dass experimentelle Poesie gerade im Zusammenhang mit der Theologie und nicht als Ausdruck des Selbst entstanden sei. Die Poesie ist die Sache von J.-Y. Tilliette (Scrittura letteraria e sacra scrittura, 187-204) nicht, dafür aber das Spannungsverhältnis von Literaten allgemein und Exegese, für die gemeinhin im 12. Jahrhundert ein scharfer Schnitt gesehen wird. Tilliette zeigt auf, dass die Auffassung eines scharfen Schnitts vereinfacht. Alle bislang angesprochenen Beiträge haben zumindest in gewissem Maße die Exegese berührt, bei R. Guglielmetti (L'esegesi secondo gli esegeti, 111-141) rückt diese endgültig in den Mittelpunkt. Um das Selbstverständnis der Exegeten zu untersuchen, schreitet sie die Vorworte von etwa 50 Arbeiten ab, deren Entstehungszeitraum von den Autoren Ambrosius Autpertus und Paschasius Radbertus abgegrenzt wird. Vor allem der Poesie widmet sich R. Gamberini (Tra secolo XI e XII: Transizioni poetiche, 167-185), der anhand von Handschriften aus Tegernsee Froumund als Beispiel für Neuerungen in der Poesie zwischen Überlieferung und neuen Einflüssen vorstellt.
L. Castaldi (Beda e Papa Agatone, 21-37) geht Kompositionstechniken Bedas nach, die auch zu editorischen Kontroversen geführt haben. Sie liefert dabei eine Deutung, wie der häufig unklare Rückverweis bei Beda cuius supra meminimus an einer Stelle zu verstehen ist. L. G. G. Ricci (Aspetti della prosa d'arte latina nell'alto medioevo, 39-91) teilt sich in gewissem Maße seinen Protagonisten, Angelomus von Luxeuil mit Guglielmetti (118). Aber was tut er selbst? Ricci bettet Angelomus in mehrfacher Hinsicht in das literarische Erbe und zeitgenössische Bezüge ein, um anhand von einigen Beispielen den Stil von Angelomus hervortreten zu lassen. Er kommt dabei zum Schluss, dass Angelomus' Schaffen in Kontinuität mit vorhergehenden Jahrhunderten steht (90). P. Chiesa (Scansioni della storia e retorica della storica nel mondo carolingio e post-carolingio, 143-164) hat ebenfalls Kompositionen zum Gegenstand, wenn er Wendepunkten der (nach-)karolingischen Historiographie nachgeht, die zu politischen Zwecken durchaus unterschiedlich bewertet wurden. E. Paoli (Il De vetula e Ruggero Bacone: retorica e scienza nel XIII secolo, 289-307) greift bereits zuvor geäußerte Thesen von Kolleginnen und Kollegen auf und spricht sich dafür aus, in Roger Bacon mit einiger Wahrscheinlichkeit den Anonymus hinter De vetula zu sehen.
Den Wandlungen, denen die Heiligkeit im 12. Jahrhundert unterworfen war, geht A. Degl'Innocenti (Nuovi ideali di santità, 205-218) nach, was sie besonders am Beispiel des Rainer von Pisa festmacht.
Von einem rein bibliophilen Standpunkt her wäre für eine Gedenkschrift ein fest gebundener Band wohl die bessere Wahl gewesen. Dem stand aber wohl das Erscheinungsbild der Reihen der SISMEL entgegen. Angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Themen, die Behandlung finden, werden vermutlich nur wenige den Band in seiner Gesamtheit lesen. Gehaltvolle Ausführungen und Anregungen wird ein punktueller Leser aber allemal finden. Für eine Bibliothek, die einen ordentlichen Vorrat an Literatur zur lateinischen Literatur des Mittelalters vorhält, wird das Buch gewiss ein lohnender weiterer Baustein sein. Für den universitären Unterricht wird es wegen der Sprachbarriere nur sehr punktuell zu benutzen sein.
Andreas Kistner