Peter J. Lucas: Rome 1450. Capgrave's Jubilee Guide. The Solace of Pilgrimes (= Textes vernaculaires du Moyen Âge; Vol. 28), Turnhout: Brepols 2021, XCV + 442 S., eine Farb-, 63 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-59467-5, 90,00
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Die "Heiligen Jahre", auch "Jubeljahre" genannt, führten große Menschenmassen nach Rom. Erstmalig von Bonifaz VIII. für das Jahr 1300 ausgerufen, sollten sich die Heiligen Jahre ursprünglich im Abstand von 100 Jahren wiederholen. Doch bereits Clemens VI. verkürzte diesen langen Zeitraum auf 50 Jahre und rief für 1350 ein neues Jubeljahr aus. In der Folge wurden diese Abstände immer weiter reduziert, zunächst auf 33, dann schließlich auf 25 Jahre. Man argumentierte damit, es müsse jedem Menschen innerhalb seines Lebens möglich sein, einmal der Segnungen und Verheißungen eines solchen Jubeljahres teilhaftig zu werden. Worin bestand der Mehrwert? Es war der vollständige Ablass, den jeder gewinnen konnte, der Rom mit seinen Hauptkirchen besuchte. Nicht vergessen werden sollte freilich, dass neben dem spirituellen Gewinn für den einzelnen Gläubigen ein handfester ökonomischer Gewinn für die Stadt Rom, ihre Bewohner und die Kurie winkte.
Im Jahr 1450 begab sich der englische Augustinermönch John Capgrave (1393-1464) in die Ewige Stadt. Capgrave gehört ohne Zweifel zu den hellsten Sternen am englischen Augustinerhimmel, bekannt vor allem für seine historiographischen und hagiographischen Schriften. Der Bericht über seine Teilnahme am Heiligen Jahr 1450, Solace of Pilgrims, "the most ambitious description of Rome in Middle English" (LV), ist als Führer für zukünftige Pilger und Rombesucher konzipiert. In drei Teilen werden die antiken Monumente (I), die sieben Haupt- und sämtliche Stationskirchen (II) und andere wichtige Kirchen, insbesondere diejenigen mit Marienpatrozinium (III) beschrieben. Die von Peter Lucas verantwortete Neuedition des Textes ersetzt diejenige von C. A. Mills aus dem Jahr 1911. [1] Sie beruht auf dem autographen Autorexemplar, heute in der Oxforder Bodleian Library verwahrt (Ms Bodley 423, fol. 355-414). Eine Teilabschrift, entstanden im Skriptorium des Autors, aber von ihm verworfen, hat als Einbandmaterial zweier anderer Handschriften die Zeiten überdauert (Oxford, All Souls College, ms 17, fol. I-ii, S. 221-224; Oxford, Balliol College, ms 190, fol. 116-119). Nicht nur die englischen Leser werden eine ausgesprochen gelungene Übersetzung ins Englische zu schätzen wissen, die der mittelenglischen Edition beigefügt ist.
Eine ausführliche Einleitung liefert das zum Verständnis des Textes nötige Hintergrundwissen. In ihr wird nicht nur ein knapper Abriss der Vita Capgraves, sondern auch eine Darstellung der Geschichte und der theologischen Implikationen der sog. "Heiligen Jahre" dargeboten. Ergänzt wird das Ganze durch eine Beschreibung der Überlieferungszeugen und der von Capgrave verwendeten Quellen.
John Capgrave, "the most learned member of an order that was itself an important source of learning in England at the time" (XXXIII), verfasste eine Fülle von Werken auf Mittelenglisch, die, z.T. im Autograph überliefert, nicht nur sprachgeschichtlich von großem Interesse sind, sondern tiefen Einblick in die Welt von Autorschaft, Publikationswegen und Patronage geben. Hinweise zur Vita finden sich verstreut in seinen eigenen Werken, in der offiziellen Archivüberlieferung der Augustiner (heute im Zentralarchiv in Santa Monica, Rom, verwahrt) und in bio-bibliographischen Abrissen von John Leland (gest. 1552) und John Bale (gest. 1563). Innerhalb der englischen Augustinerprovinz, die die vier Distrikte Cambridge, Lincoln, Oxford und York mit im Jahr 1387 insgesamt 34 Häusern umfasste, stand Capgrave lange dem Konvent in Lynn (King's Lynn) vor, der im Jahr 1446 nicht weniger als 46 Brüder zählte, und damit zu den größten auf der Insel gehörte. Bibliothekskataloge aus Lynn haben die Zeitläufte nicht überdauert. Die Gelehrsamkeit, die sich in Capgraves in Lynn entstandenen Werken offenbart, ist jedoch ohne Zugriff auf reiche Bibliotheksbestände vor Ort undenkbar. Die Regale scheinen in Lynn gut gefüllt gewesen zu sein. Die 1453 erfolgte Wahl zum Provinzialprior der englischen Augustinerprovinz markiert den Höhepunkt der innermonastischen Karriere Capgraves.
In den Jahren zuvor entstand sein Bericht über den Aufenthalt in Rom anlässlich des Heiligen Jahres 1450. Möglich wurde diese Reise durch das finanzielle Engagement von Sir Thomas Tuddenham - und Capgrave verfasste seinen Pilgerführer sicherlich auch aus Dankbarkeit für seinen Patron. Gleichzeitig zielte er aber auf eine sehr viel breitere Leserschaft, auf "all men of my nacioun", wie es im Prolog unmissverständlich formuliert wird. Capgrave war wohl seit Weihnachten 1449 in Rom präsent und wohnte dort höchstwahrscheinlich in einem der drei Augustinerkonvente der Stadt (Santa Maria del Popolo; Santa Susanna; San Trifone), die er kurz vor Einbruch des Winters wieder verließ.
In seinem Solace of Pilgrims beschreibt er (mitunter ausgesprochen oberflächlich) die antiken Monumente und mittelalterlichen Kirchen und hat erkennbare Freude daran, bloße Information mit farbigen Berichten über einzelne, mit den jeweiligen Stätten verbundene Personen oder Ereignisse zu verknüpfen. Dazu schöpft er aus dem mare magnum der Mirabilia urbis Romae-Literatur. Das war bisher durchaus bekannt, erstaunlich jedoch, auf welche Quellen er zusätzlich zurückgriff. Sie wurden von Peter J. Lucas in mühevoller Detailarbeit identifiziert. Neben Autoren der klassischen Antike wie Livius, Lucan, Ovid oder Sueton finden sich die die Weltchroniken eines Gottfried von Viterbo oder Martin von Oppeln ebenso wie die Libri indulgentiarum mit ihren Informationen zu den mit einzelnen Kirchen verbundenen Ablässen. Bei der einzigen volkssprachlichen Quelle, die sich mit Sicherheit nachweisen lässt, handelt es sich um "De Geestis of Grete Alisaundre", eine mittelenglische Versfassung des Alexander-Romans.
Capgrave verfasst den Solace of Pilgrims als "coumfort onto our devocion that whan we rede of hem [gemeint sind die heiligen Stätten] we may remember that we sey hem" (Prolog). Und tatsächlich präsentiert sich vieles, was aus seiner Feder fließt, als ausgesprochen anschaulich. Capgrave beobachtet genau und zuverlässig. Von antiker Baukunst zeigt er sich durchaus beeindruckt und lobt Architektur nebst prachtvoll-künstlerischer Ausgestaltung der Monumente in höchsten Tönen. Am stärksten zeigt er sich von denjenigen Dingen beeindruckt, die ihm selbst fremd waren, so etwa von der Kuppel des Pantheon mit ihrer enormen Spannbreite. Wer allerdings eine Beschreibung des "razzamatazz of street life" (LXVIII) erwartet, dürfte enttäuscht werden. Für Capgrave existiert ein "altes" Rom, dessen Pracht zwar noch spür- und sichtbar ist, dessen Ruhm freilich zusehends verblasst. Daneben steht das "neue", christlich geprägte Rom, Sitz der Kirche, das von einem neuen, besseren Zeitalter kündet. Das "neue" hat das "alte" überwunden - wovon im Übrigen nicht zuletzt auch die Wiederverwendung antiken Baumaterials zeugt: "But this werk ... and many moo is distroyed ... be chaunge onto bettir use" (Solace I.ii, 54).
Edition und Übersetzung präsentieren sich nahezu fehlerfrei. Da auf eine ungeschlachte Wort-für-Wort-Übertragung verzichtet wurde, gerät die Übersetzung streckenweise zu einem großen Lesevergnügen. Von unschätzbarem Wert ist der umfangreiche Kommentar zu den einzelnen Büchern und Kapiteln (355-409). Ein Anhang mit einer alphabetischen Auflistung der römischen Kirchen, die im Solace of Pilgrims mit einem eigenen Kapitel gewürdigt wurden, und ein Index der Namen und Orte erschließen den Band zusätzlich.
Die Neuedition des Solace of Pilgrims ist ein großer Gewinn nicht nur für den engeren Bereich der Romforschung, sondern für die Geistes- und Kulturgeschichte des späten Mittelalters.
Anmerkung:
[1] Charles A. Mills (ed.): Ye Solace of Pilgrims. A Description of Rome, circa A.D. 1450, by John Capgrave, An Austin Friar of King's Lynn, with an introduction note by Henry M. Bannister. London 1911. Die von Peter Lucas erstellte Auswahlbibliographie verzeichnet auf den Seiten LXXXIII-LXXXIV die Übersetzungen ins Italienische und Englische.
Ralf Lützelschwab