Rezension über:

Léon Poliakov: St. Petersburg - Berlin - Paris. Memoiren eines Davongekommenen (= Critica Diabolis; 266), Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2019, 288 S., ISBN 978-3-89320-243-0, EUR 24,00
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Rezension von:
Frank M. Schuster
Gießen
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Frank M. Schuster: Rezension von: Léon Poliakov: St. Petersburg - Berlin - Paris. Memoiren eines Davongekommenen, Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2019, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37675.html


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Léon Poliakov: St. Petersburg - Berlin - Paris

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Léon Poliakov (1910-1997) war zu Lebzeiten in Deutschland bestenfalls denjenigen bekannt, die sich intensiver mit der Shoah oder dem Antisemitismus befassten. Er wollte nämlich schon während des Zweiten Weltkriegs wissen, "warum man mich umbringen wollte, mich und Millionen andere unschuldige Menschen" (263). Aus diesem Grund wurde er zu einem der ersten Wissenschaftler, die man heute üblicherweise als Holocaustforscher bezeichnet. Seine auf Französisch verfassten Werke erschienen meist erst in jüngster Zeit in deutscher Übersetzung, wie nun auch seine Memoiren. [1]

Mit der begrüßenswerten Übersetzung des Tiamat Verlags wird die Überlebensgeschichte des zu Unrecht weitgehend unbekannten Holocaustforschers einem deutschsprachigen Publikum nahegebracht. Verlag und Herausgeber stellen das Werk, dem ein lesenswertes, biographisches Vorwort der französischen Holocaustforscherin Annette Wieviorka vorangestellt ist, damit in eine Reihe mit den Memoiren Raul Hilbergs und Saul Friedländers. Auch Poliakov selbst hielt den schon 1946 noch unter dem direkten Eindruck des Erlebten verfassten Mittelteil (77-178) über die Jahre 1940-1944 für den wichtigsten. Dreißig Jahre später machte er sich zwar daran, das Manuskript um "ein 'Davor' und ein 'Danach' zu ergänzen" (15). Er hielt diese Teile aber für weniger bedeutsam, denn seine Kindheit und Jugend sei "denkbar gewöhnlich" (17). Nur wer weiß heute noch etwas über das Leben jüdischer und nichtjüdischer bürgerlicher Familien in St. Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder als russischer Emigrant nach 1917 in Berlin und Paris, wenn er nicht etwa die Autobiographie des Schriftstellers Vladimir Nabokov (1899-1977) gelesen hat?

Poliakovs Familie war längst nicht mehr orthodox, wie die Mehrheit der russischen Juden, sondern hatte sich in Odessa und dann in Sankt Petersburg kulturell assimiliert. Was die Erinnerungen an seine Jugend und Kindheit interessant macht, ist seine prägende Sozialisation zwischen den Kulturen und Religionen. Seine Biographie ist eben nicht die eines typischen Ostjuden. Mit diesen, den kulturell verwurzelten religiösen Juden, hatte er nämlich in Russland bis zu seiner Auswanderung nach Paris 1917 kaum Kontakt.

In Paris fühlte sich Poliakov auf dem Lyzeum als Fremder ausgegrenzt. In Berlin dagegen fand er anschließend ausgerechnet im Sport- und Gemeinschaftsgeist des Goethe-Gymnasiums Halt. Weder die kulturellen 'Russifizierungsbemühungen' der Mutter noch der jüdische Religionsunterricht "vermochten die Fluten des germanischen Patriotismus [zu bändigen], die mich wie alle meine Mitschüler überspülten" (41). Rückblickend fragte er sich daher, ob der Kontrast zwischen seinen schulischen Erfahrungen in Paris und Berlin nicht "die Verwerfungen und das Unheil Europas in den darauffolgenden Jahrzehnten" erhelle (41). Es sind solche fast schon beiläufig eingestreuten Überlegungen, die den ersten Teil des Buches besonders lesenswert machen.

Während der erste Teil der durchgehend in einem leichten, selbstironischen, manchmal sogar geradezu heiteren Ton geschriebenen Erinnerungen an einen Schelmenroman erinnert, liest sich der zweite Teil (77-178) keineswegs zufällig wie ein Abenteuerroman. Durch Zufall wurde nämlich ausgerechnet Poliakov, den eigentlich erst die Nationalsozialisten zum Juden gemacht hatten, zum Sekretär des chassidischen Rabbis Salman Schneerson (1898-1980). Dieser war das Oberhaupt einer der wichtigsten ultraorthodoxen religiösen Strömungen in Frankreich, die sich immer mehr zu einer jüdischen Widerstandsbewegung entwickelte; auch dank der tatkräftigen Hilfe Poliakovs, der sich schließlich aktiv im Widerstand betätigte. Zeitweilig operierte er von einem Dorfgasthof eines Freundes aus, der "Musikantenwirtschaft" - ein Begriff, den er ironisch auf die gesamte damals in Frankreich herrschende, chaotische Situation übertrug und deshalb als Titel des zweiten Teils seiner Memoiren verwendete.

Gegen Kriegsende fand er schließlich seine lebensentscheidende Aufgabe als Leiter der Forschungsabteilung eines schon 1943 noch halb im Untergrund von dem Industriellen Isaac Schneersohn (1879/1881-1969) gegründeten Forschungszentrums zur Dokumentation der Verbrechen an den Juden. Ein Zufallsfund von Akten von SS, Gestapo und deutscher Botschaft ermöglichte es Poliakov schließlich, nicht nur die französische Anklagebehörde beim Nürnberger Prozess 1946 mit entscheidenden Informationen zu versorgen, sondern war auch der Beginn seiner akademischen Karriere, die im Mittelpunkt des dritten Teils des Buches steht.

Da dieser Teil (179-249) nur anfangs "von einigen weiteren Abenteuern" (179) handelt, empfahl Poliakov einleitend selbst das Buch nun wegzulegen, es sei denn man interessiere sich für Psychoanalyse, das Phänomen des Antisemitismus oder die "akademischen Sitten in Frankreich" (179). Tatsächlich sind die Erfahrungen mit der Psychoanalyse durchaus lesenswert, genauso wie das, was der Autor zu der Entstehung seiner "Geschichte des Antisemitismus" [2] sagte. Selbst das, was er über seine akademische Karriere berichtet, dürfte zumindest etlichen Außenseitern unter den deutschen Akademikern bekannt vorkommen.

So interessant das Buch ist, die von Herausgeber und Verlag geweckten Erwartungen werden allerdings nicht erfüllt. Spezialisten werden kaum auf Unbekanntes stoßen und sicherlich einiges vermissen. Nur handelt es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Studie, sondern um Memoiren, in denen viel mehr thematisiert wird als die Vernichtung der Juden. Deshalb wirkt auch das ausführliche Nachwort etwas deplatziert, in dem der Herausgeber Alexander Carstiuc sich detailliert und auf teils nicht immer nachvollziehbar polemische Weise mit der deutschen Holocaustforschung auseinandersetzt. Wer sich von der Lektüre neue Erkenntnisse zum Antisemitismus oder zum Holocaust erhofft, dürfe enttäuscht sein. All jenen sei die (erneute) Lektüre von Poliakovs durch seine persönlichen Erfahrungen angeregten, inzwischen auch übersetzten, wissenschaftlichen Studien empfohlen.

Durch den Fokus des Herausgebers auf die Shoah wirken auch seine eingefügten erklärenden Anmerkungen etwas willkürlich. So erwähnte Poliakov zum Beispiel nebenbei "die berühmten Zionisten Jabotinsky oder Sliosberg" (44). Während es zu Zeev (Wladimir) Jabotinsky (1880-1940) eine Anmerkung gibt, erfährt man nicht, dass es sich bei dem anderen um den Juristen Heinrich Sliosberg (1863-1937) handelt, dessen Name zumindest denjenigen bekannt sein dürfte, die sich mit einem antisemitischen Schlüsseltext, den sogenannten 'Protokollen der Weisen von Zion' und dem Gerichtsprozess dazu befasst haben. An anderer Stelle erkannte Carstiuc nicht, dass es sich bei dem "Baal-Schem-Tov" (215), dem legendären Gründer des Chassidismus Israel ben Elieser (um 1700-1760), und dem bereits zuvor erwähnten Israel Becht (97) um dieselbe Person handelt. Becht ist nämlich nichts weiter als die französische Version der Abkürzung des Beinamens: B-Sch-T.

Es wäre wünschenswert gewesen, der Herausgeber hätte sich bei der Kommentierung des Buches eher am Wissen eines interessierten, aber nicht unbedingt umfassend gebildeten Leserkreises orientiert, statt sich von seinen eigenen Interessen und seinem Fachwissen leiten zu lassen, zumal die meisten Personen, Orte und Ereignisse schon mit Hilfe einschlägiger Lexika zu identifizieren gewesen wären. Dies ist umso bedauerlicher, da das Buch leicht lesbar ist und ihm eine breite Leserschaft zu wünschen wäre.

Wer sich für die vielfältige jüdische Geschichte, aber auch die russische, die Geschichte des Antisemitismus oder die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Frankreich, die Geschichte des Exils, der Exilliteratur und des Zeitungswesens oder für den jüdischen Widerstand interessiert, dem bietet das tatsächlich sogar unterhaltsame Buch viele Denkanstöße, interessante Sichtweisen und vermutlich immer noch auch das ein oder andere Neue.


Anmerkungen:

[1] Léon Poliakov: L'Auberge des musiciens. Mémoires, Paris 1981. 1999 erschien eine erweiterte Fassung, die der deutschen Übersetzung zu Grunde liegt: Léon Poliakov: Mémoires, Paris 1999. Die deutsche Ausgabe enthält allerdings nicht das darin ergänzend publizierte Material.

[2] Léon Poliakov: Histoire de l'antisémitisme, 4 Bde., Paris 1955-1977, deutsche Ausgabe: Geschichte des Antisemitismus, 8 Bde., Worms 1977-1988.

Frank M. Schuster