Uwe Walter: Hellas und das große Ganze. Die alten Griechen in »Weltgeschichten« zwischen Geschichtswissenschaft, Buchverlagen und historischer Bildung (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 36), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 166 S., ISBN 978-3-949189-72-2, EUR 50,00
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Michael Silk / Ingo Gildenhard / Rosemary Barrow: The Classical Tradition. Art, Literature, Thought, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell 2014
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Jakob von Falke: Hellas und Rom. Eine Culturgeschichte des klassischen Altertums. Mit einer Einführung von Kai Brodersen, Heidelberg: Lambert Schneider 2014
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Uwe Walter: Politische Ordnung in der römischen Republik, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
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Wie präsentierten die beauftragten Althistoriker in der Ullstein Weltgeschichte (1910: Julius Beloch, *1854), in der Neuen Propyläen Weltgeschichte (1940: Hans Erich Stier, *1902), in der Fischer Weltgeschichte (5, 1965: Hermann Bengtson, *1909; 3/4, 1966/67: Moses Finley, *1912), in der Herder Weltgeschichte (1971: Jochen Bleicken, *1926) und der Holle Universalgeschichte (1976: Gerhard Wirth, *1926) die antike griechische Geschichte? Sie taten das, so Walters Antwort, aus professioneller Kompetenz mit unterschiedlichen Gewichtungen im Rahmen des traditionellen Altertums-Narrativs (154) ohne "besondere Sensibilität gegenüber oder gar Affinität zu einer welt- und universalgeschichtlichen Perspektive" (151); leichter hatten sich Spezialisten finden lassen als Autoren, die "intellektuelle Wagnisse eingehen" (14). Auch die jüngste, hoch ambitionierte "Geschichte der Welt" bei C. H. Beck und Harvard UP lasse, was das Altertum angeht (2017), eine "Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit erkennen" (15 Anm. 17; 154).
Ausgangspunkt des Projekts war ein Seminar Walters 2022 zu "Grundproblemen der griechischen Geschichte", aus dem studentische Arbeiten zu den Weltgeschichten bei Fischer, Holle und Herder hervorgingen, die Walter den entsprechenden Kapiteln zugrunde legte. Es macht Nachdenken, dass ein solches studentisches Engagement gerade einem Thema der Rezeptionsgeschichte galt, wie noch deutlicher eine Untersuchung zur "Altertumswissenschaft an der Universität Frankfurt 1914-1950" (2019). Den "Probebohrungen" (29; 150) in repräsentativen Weltgeschichten zwischen Kaiserreich und den 1960er/70er Jahren geht eine Einführung voraus (9-32) und folgt eine knappe "Schlussbetrachtung mit Ausblick" (147-157). Auf allen Ebenen seines Zugriffs macht Walter zuverlässig antiquarische Mitteilungen zum Personal, zu den angedeuteten wie den ausgeführten Kontexten. Um einordnende Formulierungen und glückliche Begriffsprägungen ist er aus breiter Beherrschung des Faches nie verlegen. Dabei ist ihm ein zurückhaltend ironisch angedeutetes, besser wissendes Bewusstsein nicht fremd. Heute läge der "Akzent auf der sogenannten Globalisierung, die als 'Sehepunkt' auch ältere Epochen aufschließen soll. Neu ist diese Ausrichtung indes nicht" (9; meine Hervorhebungen). Die Einführung blickt kursorisch auf 'Weltgeschichte' seit Ranke, auf andere Weltgeschichten aus der Zeit seiner Beispiele, auf Alternativen wie den chronikalischen Ploetz oder Peters "Synchronoptische Weltgeschichte" von 1952. Die Einführung beschließt ein Beobachtungsraster aus der Arbeit im Seminar mit Fragen zum Zeitkontext, dem angezielten Publikum, den Autoren, inhaltlich zum Stellenwert von "Ereignisfakten", der Sinnbildung, den Modi historischen Wandels (31f). Derartige Probebohrungen erschienen "nicht ganz überflüssig" in Zeiten, da der "sensible Umgang mit komplexen Texten [...] zunehmend [...] eingeübt werden muss" (30).
Seinen Gegenstand bestimmt Walter als "Weltgeschichten zwischen den Stühlen" (9-19). Aber sie fallen nicht zwischen diese, die Autoren haben etwas zu sagen. Seine Fragen richten sich auf das Verhältnis zwischen den Autoren, den Erwartungen der Herausgeber und Verlage, den Käufern auch als den möglichen Lesern, dem aktuellen 'Zeitgeist', auf die Resonanz in Rezensionen. Er verspricht sich eine Praxeologie, die "Praxisformen der Geisteswissenschaften im Alltag" (148f.) zwischen Fachwissenschaft und Geschichtskultur; zu deren Eigenschaften gehörte eine Öffentlichkeit, in der die Verlage für ihre aufwendigen weltgeschichtlichen Vorhaben hinreichend Käufer fanden. Die jeweiligen griechischen Geschichten befragt Walter nach Epochenbegriffen und Periodisierungen, den Entwicklungsdynamiken, der Rolle von Einzelgestalten, dem Duktus der Sprache, dem Quellen- und Forschungsbezug, der Ausstattung mit Karten, Abbildungen und Übersichten. Ullsteins Weltgeschichte (1907-1910) wie darin Belochs "nach den damaligen Maßstäben 'moderne'" griechische Geschichte (36), ohne Pathos vorgetragen (51), gilt Walters Sympathie für deren angesichts der Weltpolitik ihrer Zeit weiten Horizont und ihre wissenschaftliche Modernität dank einer Pluralisierung der Kategorien und einer Öffnung gegenüber den Kulturwissenschaften (25f., 39) - Züge, die von der Zunft nicht aufgegriffen wurden; diese "zog sich auf ein verengtes Verständnis von Politikgeschichte zurück" (26).
"Hellas" in Fischers Weltgeschichte (1965-1983) repräsentiert "Aufklärungsvorstöße und Frontbefestigungen" (85-120). Viele ihrer 36 Bände zeigen sich "als von der szientifischen Wende in der Geschichtswissenschaft seit den späten 1960er Jahren beeinflusst" (17). Sie geben Außereuropa viel Raum, nutzen "für die Weltgeschichte Spielräume in der Disposition" (154 Anm. 24). Als Taschenbücher sind sie erfolgreich dank einer wachsenden studentischen Käuferschicht. Bengtsons Geschichte des klassischen Griechenlands charakterisiert Walter als eine Bastion von Konzepten der 1930er Jahre (17), Finleys frühe Griechen als "moderne Grundlagengeschichte" in einem "im Fluss befindlichen Feld" (93) und Zeugnis eines emanzipatorischen Zeitgeistes (17). Dagegen bieten die einbändigen Weltgeschichten von Herder und Holle kompaktes Wissen für eine wiederum neue Käuferschicht, die Bildungsaufsteiger in den 1960/70er Jahren, "die sich konzentriert fundiertes Wissen ohne literarisch-ästhetische Schnörkel anzueignen bestrebt waren - oder das zumindest suggerieren wollten" (121).
Aufwändige Vorhaben mit einer Vielzahl von Autoren wie bei C. H. Beck/Harvard UP (2012-2023) werde es wohl nicht mehr geben, so Walters Ausblick (155f.). Erkennbar sei vielmehr ein "Trend zum Großwerk aus einer einzigen Feder" zu einzelnen Epochen oder Großräumen, wo ein einzelner Autor das Konzept verantworte, wie Jürgen Osterhammel zum 19. Jahrhundert (2009) oder Mischa Meier zu "Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert" (2019). Was die Antike angeht, ist mit ihrer "(bürgerlichen) Leserschaft" auch "der humanistische Humus", wie Walter das nennt, verschwunden (155). In der Tat blicken wir für das Altertum zurück in die abgesunkene Zeit einer inzwischen erodierten Fülle dichter Bezüge zwischen Universitäten, Lehrerbildung, Schulen und einem traditionell akademisch orientierten Teil der Gesellschaft, dem die "Weltgeltung" griechischer Städte oder die Geburt der griechischen Philosophie als "Revolution von welthistorischem Ausmaße" stets vor Augen stand (67f. aus Neue Propyläen 1940); Holles "Welt der Griechen" steht "im Brennpunkt der Weltgeschichte" (125: 1976). Die jüngsten der behandelten Althistoriker, Walters Lehrergeneration, repräsentierten das Fach noch aus dieser Perspektive einer Fülle, die auch das Programm der älteren Wissenschaftlichen Buchgesellschaft spiegelte (Walter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.10.2023).
Die Leerstelle des Unternehmens ist "das große Ganze". Sie zu füllen stellte freilich mehr dar als eine "(kleine) Forschungslücke" (7; 24) an der Nahtstelle von Spezialistentum und Geschichtskultur (148). Wie fügt sich unsere Alte Geschichte in die "Ordnung der Zeiten" (Verf., Das europäische Narrativ, Festschrift Dan Diner, 2011, 191-211)? Noch dem zweiten Anlauf einer UNESCO History of Humanity (1994-2008) gelang es nicht, sich vom europäischen Schema einer Periodisierung des "Ganzen" zu lösen. "Hellas" ist ein zentrales Stück des Blicks auf die ganze Geschichte in europäischer Tradition. Dessen Zusammenhang mit dem "Ganzen" kappt Walter, sofern er mit emphatischer Berufung auf Alfred Heuß 'unser Altertum' ohne den Alten Orient (und seine jüdische Tradition) versteht, weil der spezifische Quellenzuwachs seit dem 19. Jahrhundert für diesen notwendig eigene Disziplinen entstehen ließ (152) - ohne die Tagesordnung darüber ganz schließen zu wollen (152 Anm. 18). Jacob Burckhardts jüngst edierte Vorlesungen zur Alten Geschichte präsentierten ihren Gegenstand als aus der Rezeption der antiken Überlieferung überkommenen Zusammenhang. Burckhardt bereitete ihn mit den jüngsten Entdeckungen aus dem Alten Orient auf und reflektierte ihn in einem weltgeschichtlichen Horizont als Teil eines großen Ganzen (sehepunkte 23/3, 2023). Walters Initiative vom Seminar zum Buch kann uns auch in eine solche Richtung leiten.
Justus Cobet