Rezension über:

Jūratė Kiaupienė: Between Rome and Byzantium. The Golden Age of the Grand Duchy of Lithuania’s Political Culture. Second half of the fifteenth century to first half of the seventeenth century (= Lithuanian Studies without Borders), Boston: Academic Studies Press 2019, XXXI + 244 S., ISBN 978-1-64469-146-5 , USD 139,00
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Rezension von:
Martin Faber
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Martin Faber: Rezension von: Jūratė Kiaupienė: Between Rome and Byzantium. The Golden Age of the Grand Duchy of Lithuania’s Political Culture. Second half of the fifteenth century to first half of the seventeenth century, Boston: Academic Studies Press 2019, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/12/38853.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Jūratė Kiaupienė: Between Rome and Byzantium

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Man sollte vorsichtig sein, wenn Historiker "Goldene Zeitalter" ausrufen - zumal dann, wenn diese Zeitalter sich in ihrem eigenen Land ereignet haben sollen. Jūratė Kiaupienė lässt denn auch von Anfang an keinen Zweifel aufkommen, dass es ihr hier darum geht klarzumachen, dass die Bedeutung Litauens in der frühen Neuzeit weitaus größer war, als man in der internationalen Historiografie bisher angenommen hat. Insbesondere polnische Historiker hätten die politische Kultur Litauens bestenfalls als ein Produkt und Anhängsel, wenn nicht gar als identisch mit derjenigen Polens betrachtet. Mit Litauen ist dabei das gesamte Großfürstentum gemeint, also nicht nur die ethnisch litauische Bevölkerung, sondern auch die ruthenische, polnische und samogitische, die sich alle freiwillig mit den Litauern zusammengeschlossen hätten. Trotz aller sprachlichen und religiösen Unterschiede hätten sie eine gemeinsame politische Nation gebildet und eine einzigartige politische Kultur entwickelt. Träger dieser Kultur seien demnach aber nur die Adligen gewesen, das heißt die reichen Magnaten und die Bojaren, die politische Rechte besaßen und diese in verantwortungsvoller Weise zum Wohl des Staats ausgeübt hätten. Kiaupienė betont gerne die politische Reife, die diese Adligen besessen hätten und die sogar diejenige des polnischen Adels übertroffen habe. Im Rahmen dieser hohen Kultur hätten sie auch die Legende von der Abstammung der Litauer von 500 römischen Adelsfamilien entwickelt, die zur Zeit von Kaiser Nero an die Ostsee auswanderten, und so ihrem Staat eine alte Tradition gegeben. Später sei dieses Narrativ mit der Theorie von der Abstammung des polnischen Adels von den Sarmaten verbunden worden und somit eine eigenständige litauische Version des Sarmatismus entstanden (die Autorin scheint Sarmatismus für eine reine Abstammungstheorie zu halten).

Kiaupienė wird nicht müde zu betonen, dass das Großfürstentum Litauen während des gesamten von ihr behandelten Zeitraums ein völlig souveräner Staat gewesen sei. Zwar habe der Adel im Königreich Polen immer eine Einverleibung Litauens in seinen Staat angestrebt und nach der Union von Lublin 1569 auch geglaubt, er habe dies erreicht. Doch der litauische Adel sei weiter von der Existenz zweier selbstständiger Staaten ausgegangen, und diese Interpretation hält Kiaupienė für die einzig richtige. Sie führt eine Reihe von Zitaten aus den Quellen an, die das belegen sollen, und interpretiert alle Ereignisse beim Abschluss der Union und in der Folgezeit in diesem Sinn. Hier liefert das Buch vielen westeuropäischen Lesern sicherlich neue Informationen. Aber beim aufmerksamen Lesen fallen auch Lücken in der Darstellung und beiläufige Bemerkungen auf, die mit der Kernthese nicht recht in Einklang zu bringen sind und die den Verdacht nähren, dass hier nur diejenigen Äußerungen aus den Quellen ausgewählt worden sind, die die These von der völligen Gleichstellung Litauens und Polens bestätigen. So unterstellt Kiaupienė dem litauischen Großfürsten und zugleich polnischen König Sigismund August mehrfach Verrat an den litauischen Interessen im Zuge des Unionsprozesses. Ein solcher Verrat müsste aber eigentlich folgenlos geblieben sein, wenn die Litauer dabei tatsächlich ihr Ziel erreicht und ihr politisches Schicksal weiterhin in den eigenen Händen gehalten hätten. An einer Stelle (170 folgend) berichtet die Autorin von den Bestrebungen im litauischen Adel, anlässlich des Interregnums in den Jahren 1586/87 einen eigenen Kandidaten für das Amt des Königs aufzustellen und eine separate Wahl durchzuführen, ohne zu erklären, warum sie es dann doch nicht taten. Wenig später räumt sie ein, dass Litauen im Jahr 1569 tatsächlich seinen eigenen und unabhängigen Sejm verloren habe, führt aber dagegen an, dass die litauischen Abgeordneten in dem neuen, gemeinsamen Sejm, in dem sie gegenüber den Abgeordneten aus Polen deutlich in der Minderheit waren, ein "unabhängiges Verhalten" (172) an den Tag gelegt hätten, und dies sei das Entscheidende gewesen.

Letztlich sollen weniger der Rechtszustand und die tatsächlichen politischen Ereignisse den Beleg für die Unabhängigkeit und Größe Litauens in dieser Zeit liefern, sondern vielmehr die politische Kultur, für die ja hier ein Goldenes Zeitalter konstatiert wird. Kiaupienė muss jedoch mehrfach bekennen, dass zu dieser Kultur nur wenige Quellen überliefert sind, weitaus weniger als für die polnische Reichshälfte. Zudem sind diese Quellen, wie in den Anmerkungen deutlich wird, in aller Regel in ruthenischer oder polnischer Sprache abgefasst, was an sich nicht gegen ein Bewusstsein von litauischer Identität spricht, aber andererseits für diese Frage auch nicht gänzlich ohne Belang ist. Als wichtigste Werte der politischen Kultur in Litauen nennt die Autorin "Staat", "Heimatland", "Liebe zum Heimatland" und "Patriotismus" (194), und diese Werte sind es auch, deren Vorhandensein sie vor allem mit ihren Quellenzitaten zu belegen versucht. Doch das Bewusstsein von der Existenz eines eigenen Landes und Staates sowie eine emotionale Beziehung zu diesen machen schwerlich bereits eine politische Kultur aus. Und einige andere Werte, die Kiaupienė bei den Litauern des 16. Jahrhunderts festzustellen glaubt - wie Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Gemeinwesen oder Achtung vor dem Recht, - sind von polnischen Historikern auch immer wieder als typisch für den Adel in der Krone Polen diagnostiziert worden. Einzig bei der Zuschreibung der Tugend "Freiheitsliebe" an die Litauer hält die Autorin sich erkennbar zurück, möglicherweise weil sie traditionell zu sehr mit dem polnischen Adel assoziiert wird. Sie geht nicht darauf ein, dass sogar viele litauische Historiker festgestellt haben, dass die politische Ideologie des Sarmatismus beim Adel in Polen und Litauen keine Unterschiede aufwies.

Bezeichnend ist auch, dass Kiaupienė sich kaum für den Anfang und das Ende des von ihr konstatierten Goldenen Zeitalters interessiert. Weder analysiert sie, wie die Zuneigung der Litauer zu den genannten Werten entstanden ist, sodass man fast den Eindruck gewinnen kann, sie sei ihnen biologisch angeboren gewesen. Noch zeigt sie großes Interesse für die naheliegende Frage, warum diese Zuneigung in der Mitte des 17. Jahrhunderts wieder zurückging (tatsächlich liefert sie schon kaum Quellenbelege für ihr Vorhandensein in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts). Sie deutet an, dass die äußeren Bedrängnisse der Adelsrepublik zur Mitte des 17. Jahrhunderts die beiden Reichshälften stärker zusammenrücken ließen (203), meint aber an anderer Stelle, dass die Frage erst durch weitere Forschungen erhellt werden könne (XX).

Das Buch ist, trotz relativ zahlreicher sprachlicher Fehler, sicherlich nicht ohne Wert für westeuropäische Leser, denn die historische Bedeutung Litauens wird hierzulande tatsächlich meist zu gering veranschlagt. Andererseits hat man hier wieder den Fall einer Historikerin, die in dem Bestreben, die Kenntnisse über die Geschichte ihres - heute wesentlich kleineren - Landes zu verbessern, einfach zu dick aufgetragen hat. Das Verhältnis zwischen der polnischen und der litauischen Hälfte der Adelsrepublik war extrem komplex und ist weder mit "Einverleibung" noch mit "völlige Gleichstellung" angemessen umschrieben.

Martin Faber