Detlev Brunner / Michaela Kuhnhenne (Hgg.): Proteste, Betriebe und Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990 (= Schriftenreihe der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft; Bd. 7), Berlin: BeBra Verlag 2023, 120 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-317-1, EUR 24,00
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Kaum ein Themenfeld der historischen Forschung erhält mehr Aufmerksamkeit als die Transformation der ehemaligen DDR und die (vermeintliche) Zäsur von 1989. Zeithistorische Studien zum Umbruch in den Betrieben gibt es jedoch kaum. In diese Forschungslücke stößt der vorliegende Sammelband mit fünf Beiträgen zu Großbetrieben aus Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Hervorzuheben ist, dass hierbei vorrangig einer jungen Generation von Forschenden die Möglichkeit zur Veröffentlichung geboten wurde.
In der Einleitung erläutern Detlev Brunner und Michaela Kuhnhenne den Ansatz des Bands, die Geschichte der Transformation Ostdeutschlands "von unten" (8) und jenseits einer "Opferperspektive" (7) zu untersuchen. Die akteurszentrierte Perspektive beleuchte demnach die "massiven Probleme der Transformation" und erkenne zugleich die Betroffenen "als handelnde Subjekte" (8). Das stehe im Kontrast zu der bis heute vorherrschenden Erzählung zur "Figur des 'Opfers', des Wendeverlierers", die "Bilder der Passivität produziert" (8).
Die Fallbeispiele zu den industriellen Großbetrieben aus den Branchen Stahl, Textil, Automobil und Mineralöl veranschaulichen wie und inwiefern betriebsrätliche und gewerkschaftliche Akteure - es waren in den hier untersuchten Fällen ausschließlich Männer - Einfluss auf die Privatisierungsprozesse nehmen konnten. Jenseits der "Großerzählungen" (8) lassen sich so Unterschiede in der Wirkung der von den Akteuren verfolgten Strategien und Motivationen aufzeigen. Dabei machen die Beiträge deutlich, dass die Aktivitäten der Betriebsräte und die Haltungen der jeweils zuständigen Einzelgewerkschaften Einfluss auf die konkreten Ergebnisse der Privatisierungen hatten - "wenngleich im Rahmen ihrer Möglichkeiten" (95), wie Konrad Bunk feststellt, denn von den vier untersuchten Betrieben wurden zwei abgewickelt. In den anderen zwei Betrieben konnte die Produktion vor Ort mit einem Bruchteil der Beschäftigten fortgesetzt werden.
Die Beiträge belegen Unterschiede zwischen den Einzelgewerkschaften sowie den gewerkschaftlichen und betriebsrätlichen Akteuren. Bunk legt dar, wie der Betriebsrat der Addinol GmbH sich zunächst gegen die Haltung von Hermann Rappe und der IG Chemie-Papier-Keramik in der ostdeutschen Betriebsräteinitiative engagierte. Er argumentiert, dass im Falle Addinols erst durch diese Mixtur aus Protest und sozialpartnerschaftlicher Mitwirkung Erfolge in der Bereitstellung von Überbrückungshilfen der Treuhandanstalt und dem Kampf um das Überleben des Betriebs bis 1998 erzielt werden konnten. Eine ähnliche Melange aus Kooperation und Widerstand zeigt sich am von Jary Koch untersuchten Beispiel der Thüringer Faser AG, für die ebenfalls die IG Chemie-Papier-Keramik zuständig war. Dass die thüringische Landesentwicklungsgesellschaft nach dem Scheitern der Privatisierung die Verantwortung für den Standort übernahm, führt der Autor auf die Protestaktionen des betriebsübergreifenden Bündnisses "Thüringen brennt" zurück. Deutlicher stellte sich die IG Metall hinter die Proteste gegen die Treuhandanstalt. So schickte sie etwa einen hauptamtlichen Funktionär zur Unterstützung der Pressearbeit nach Bischofferode, wie Justine Andreae in einem mediengeschichtlichen Aufsatz zeigt. Diese konfrontative Haltung war dabei nicht widerspruchsfrei. So unterschieden die von Jakob Warnecke untersuchten Henningsdorfer Stahlwerker klar zwischen "ihrer" IG Metall in Brandenburg und dem Vorstand in Frankfurt, der einen Sitz im Verwaltungsrat der Treuhand hatte. Zugleich kann Warnecke auch hier den Einfluss von Betriebsrat mit und gegen die IG Metall auf die Entscheidungen der Treuhandanstalt nachweisen: "Die Transformation auf Betriebsebene war so nicht allein 'von oben' ohne Berücksichtigung der Interessen 'von unten' durchsetzbar." (33)
Zu bemängeln ist, dass die Beiträge streckenweise die Stärken einer betrieblichen Fallstudie nicht voll ausnutzen. Warneckes Überlegungen zu den wechselseitigen Wahrnehmungen von ost- und westdeutschen IG-Metallern beruhen laut Fußnoten auf eigenen Interviews. Hier hätte der Rezensent gerne über das bloße Anführen der Interviews als Beleg hinaus mehr erfahren oder O-Töne der beteiligten Akteure gelesen. [1] An anderen Stellen wird zu sehr Bezug auf die bestehende Literatur der Großerzählungen genommen. Beispielsweise argumentiert Lindner-Elsner, dass sich bereits in der DDR bestehende soziale Ungleichheiten für berufstätige Frauen auch im Automobilwerk Eisenach nach dem Mauerfall noch weiter verschärften. Diese Feststellung beruht dabei jedoch nicht auf Quellen ihrer Fallstudie, sondern wird belegt durch Verweise auf die einschlägige Forschungsliteratur. Den Beiträgen soll hier nicht widersprochen werden. Der interessierte Lesende würde sich lediglich wünschen, die Großerzählungen im "Kleinen" nachvollziehen zu können. Die Möglichkeiten von "mikrohistorischen Studien" (8), nämlich einer empirischen Unterfütterung und Kontrastierung bestehender Thesen, werden hier stellenweise nicht ausgeschöpft. Aufgrund der zeitlichen Rahmung der Mehrheit der Beiträge auf die frühen 1990er Jahre kann der Band zudem leider nur wenig zur unlängst eingenommenen Perspektivierung einer "langen Geschichte der 'Wende'" [2] beitragen.
Zugleich ist mit Ausnahme des Beitrags von Lindner-Elsner das Thema Geschlecht nur sehr randständig bearbeitet worden. Dies liegt sicherlich auch an den Fallbeispielen aus männerdominierten Branchen. Vor dem Hintergrund des Anspruchs einer "Geschichte von unten" und dem mittlerweile auch gewerkschaftlichen Bewusstsein einer jahrzehntelangen Geringschätzung von weiblicher Erwerbstätigkeit und Gewerkschaftsarbeit hätte man hierzu gerne mehr Informationen erhalten. Die Charakterisierung Lindner-Elsners von berufstätigen Frauen als "Wendeverliererinnen", die "ungleich häufiger von Entlassungen, Arbeitslosigkeit und neuen prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen" waren (76), steht dabei in auffallenden Gegensatz zu der in der Einleitung formulierten Perspektivierung jenseits einer "Opferperspektive". Sie verdeutlicht die Grenzen der Perspektivierung durch die Brille und den Bias der männlich dominierten Betriebsräte und Gewerkschaften.
Trotz dieser punktuellen Kritikpunkte ist der Sammelband mit seinen regionalen und sektoralen Fallbeispielen mehr als lesenswert. Für das Verständnis der betrieblichen Transformation nach 1989 sowie der Einflussnahmemöglichkeiten von Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen bietet der Sammelband zahlreiche interessante Einsichten und ergänzt die bisherige Literatur durch empirisch gesättigte Fallbeispiele. Jenseits der oft abstrakten Zahlen der Großerzählungen erfährt man viel über die individuellen Privatisierungsgeschichten der Betriebe, der Motivation von Investoren und den vom Stellenabbau Betroffenen. Weitere Studien zu Betrieben aus Branchen mit einem höheren weiblichen Beschäftigtenanteil, Nicht-Treuhandunternehmen sowie kleinen und mittelgroßen Betrieben können hier anknüpfen und vermeintliche Gemeinsamkeiten oder Singularitäten kontextualisieren. Nicht nur Forschenden zu betrieblichen Fragestellungen sei der Blick in den Band daher wärmstens empfohlen.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu jetzt die umfangreiche Studie von Jakob Warnecke: Wandel gewerkschaftlicher Praxis im ostdeutschen Betrieb. Ostdeutsche Transformationsprozesse in den Jahren 1989-1994 am Beispiel des Stahlwerks Hennigsdorf (= Study der Hans-Böckler-Stiftung; Vol. 489), Düsseldorf 2024. In dieser kommen die gewerkschaftlichen und betriebsrätlichen Akteure umfassend zu Wort.
[2] Kerstin Brückweh / Clemens Villinger / Kathrin Zöller (Hgg.): Die lange Geschichte der Wende, Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.
Jonas Jung