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Rezension von:
Christian Rau
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau: Vereint und doch geteilt? Neue Forschungen zu Einheit und Transformation (Rezension), in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/37843.html


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Vereint und doch geteilt? Neue Forschungen zu Einheit und Transformation

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"Getrennt und doch vereint" oder "Divided, but not disconnected": So lauten zwei einschlägige Titel aus der reichhaltigen Geschichtsschreibung über das Verhältnis der beiden deutschen Staaten (Bundesrepublik und DDR) während der Zeit des Kalten Krieges. [1] Lässt man indes die Entwicklungen der letzten 30 Jahre seit dem Ende der SED-Diktatur und der Wiedervereinigung Revue passieren, so drängt sich geradezu das Gegenteil auf: Einem Twitterkommentar des Fraktionschefs der Linkspartei im Bundestag Dietmar Bartsch zum 32. Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2022 zufolge sei Deutschland "noch nie [...] so gespalten" gewesen wie heute. [2] An Polarisierungen wie diesen mangelt es wahrlich nicht. Je nach politischer Ausrichtung steht auf der einen Seite mal der demokratieerprobte und europafreundliche Westen und auf der anderen der demokratieverdrossene und europaskeptische, zuweilen auch rechte Osten; und mal steht der wirtschaftlich starke und reiche, tonangebende, zuweilen gönnerhafte Westen dem wirtschaftlich schwächeren (im Vergleich zu 1990 jedoch wohlhabenderen und grüneren), krisenanfälligeren, gedemütigten und auf allen Gebieten unterrepräsentierten Osten gegenüber. Die Sozialwissenschaften und einige wenige Historiker haben solche Vereinseitigungen zum Teil über viele Jahre hinweg wissenschaftlich unterfüttert, indem sie die Anpassungsprobleme des Ostens an die westliche Norm zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gemacht haben. Das all diese Beiträge verbindende Narrativ der "inneren Einheit" als Zielprojektion eines unbestimmten, aber noch nicht abgeschlossenen Anpassungsprozesses des Ostens an den Westen ist im Zuge der jüngsten Debatten um ein vermeintliches Abdriften des "Ostens" von der Demokratie aber zugleich selbst zum Gegenstand von Problemanalysen geworden. Denn: Lassen sich Entwicklungen wie das Erstarken des Rechtspopulismus gerade in wirtschaftlich schwachen Regionen nicht auch innerhalb scheinbar gefestigter Demokratien wie den USA beobachten? Lässt sich also das vermeintliche Abdriften des "Ostens" nicht mehr nur als Nachwirkungsgeschichte der SED-Diktatur erklären? Welche Spuren hat stattdessen der ostdeutsche Transformationsprozess von der Diktatur zur Demokratie bzw. von der staatssozialistischen Plan- in die kapitalistische Marktwirtschaft in der politischen Kultur des vereinten Deutschlands hinterlassen? Inwiefern schlugen sich übergeordnete europäische und globale Entwicklungen in jener politischen Kultur nieder? Und welche (mittelbaren) Veränderungen hat letztlich auch der "Westen" erfahren, der selbst im Krisenmodus in das unerwartete und unvorbereitete Unternehmen der Wiedervereinigung startete?

Es sind solche Fragen einer Problemgeschichte der Gegenwart, denen sich die Zeitgeschichte zunehmend widmet. Neben einigen ersten quellengesättigten Detailstudien, etwa zur Geschichte der Treuhandanstalt - jener Behörde, die in weiten Teilen Ostdeutschlands noch immer als Projektionsfläche für die Verwerfungen der Wiedervereinigung par excellence fungiert, im Westen heute aber weitgehend vergessen ist oder unterm Strich als erfolgreiche Strategie für den Umbau der ostdeutschen Wirtschaft gilt - sowie zur Binnenmigration, zu Konsumpraktiken und zu Familien- und Geschlechterrollen in Ostdeutschland liegen nunmehr auch erste historische Synthesen vor, von denen ein großer Teil im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung verfasst wurde. Drei dieser Studien sowie ein kleiner, in der Hamburger Edition erschienener Essayband von Kiran Klaus Patel und Ingo Schulze zur Verschränkung von Wiedervereinigung und Europäisierung, der die anderen drei Studien hervorragend ergänzt, sollen im Folgenden besprochen werden.

Gemein ist diesen Studien der Fokus auf klassische Fragen der politischen Geschichte bzw. der politischen Kultur, der Wirtschaftsgeschichte sowie der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Das ist kaum verwunderlich, verstehen sich die Darstellungen - mit Ausnahme des Essaybandes von Patel und Schulze - doch auch als Korrektiv zu den sich am Narrativ der "inneren Einheit" abarbeitenden öffentlichen Debatten, die sich genau auf jene Problemfelder beziehen. Die in früheren Darstellungen stets mitschwingende westliche Siegermentalität und deren Erzählung vom "Ende der Geschichte" (man denke etwa an Edgar Wolfrums "Die geglückte Demokratie") wird nunmehr durch eine Historisierung ebenjener Zeit seit 1989/90 abgelöst, in der sich erst viele Problemkonstellationen der Gegenwart herausgebildet haben. Der Grundton ist dabei folglich weniger euphorisch, aber am Ende auch nicht gänzlich pessimistisch. Zugleich lässt sich eine Neukonzeptionierung der Begriffe Ost und West weg von starren Raumkategorien, deren Wurzeln im Kalten Krieg liegen, hin zu dynamischen und historisch wandelbaren Identitätskonstruktionen beobachten, deren Gebrauch heute wie damals oft viel komplexere Sachverhalte verschleiert(e).

Thomas Großbölting, Direktor der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, macht den Begriff der Entgrenzung zum Leitmotiv seiner Untersuchung der "Wiedervereinigungsgesellschaft". Die Studie beansprucht damit eine integrierte Analyse der Veränderungen in Ost- und Westdeutschland seit 1989/90, wobei immer wieder auch Bezüge zu bereits während der deutschen Teilung einsetzenden bzw. aufgeschobenen Transformationsprozessen hergestellt sowie europäische und globale Kontexte einbezogen werden. Die Gliederung des Buches gestaltet sich indes etwas verwirrend. Wird in den ersten beiden Kapiteln der Weg des Ostens von einer eng umgrenzten in eine entgrenzte Gesellschaft untersucht, entwickelt Großbölting in den sich anschließenden vier Kapiteln Perspektiven auf das geteilte und wiedervereinte Deutschland, wobei der explizite Anspruch, eine Problemgeschichte der Gegenwart zu präsentieren, eine Konzentration auf die Problemfelder Re-Nationalisierung, Partizipation und Populismus, Migration und Ausländerfeindlichkeit sowie Wirtschaft, Eigentum und Zivilgesellschaft nach sich zieht. Dabei kommt es zwischen dem ersten und zweiten Teil des Buches zwangsläufig zu inhaltlichen Überschneidungen und Redundanzen. Ungeachtet dessen argumentiert Großbölting konsequent gegen einseitige Interpretationen, die das politische Handeln der überwiegend westdeutschen Akteure als alternativlos oder geplante Übernahme charakterisieren. Vielmehr weist er darauf hin, dass dieses oft auf Kurzfristigkeit angelegt und von vielen Fehlkalkulationen geprägt war, deren nicht intendierten Folgen, etwa die sich radikalisierenden Proteste gegen die Treuhand, dann wieder durch kurzfristige politische Maßnahmen korrigiert werden mussten. Zugleich wurden die Ostdeutschen in Politik, Medien und Alltag immer wieder mit einer westdeutschen Arroganz und Siegermentalität konfrontiert, die langfristig nicht ohne mentale Folgen bleiben konnte und eine positive Sicht auf das seit 1990 Erreichte eher behindert. Der gegen das politische Establishment und Einwanderung wetternden Alternative für Deutschland (AfD) böten solche tiefsitzenden Verletzungen (neben einem generellen Trend zur kulturellen Re-Nationalisierung seit 1990) gern genutzte Anknüpfungspunkte.

Das Buch hat dort seine besonderen Stärken, wo lange Linien der Transformationsgeschichte jenseits der Zäsurmarke von 1989 aufgezeigt werden, etwa von den Oppositionsbewegungen der DDR bis zur Parteiendemokratie in Ostdeutschland, die beide kaum in der Mehrheitsgesellschaft Ostdeutschlands verankert waren und sind. Auch Großböltings Beobachtungen zur kulturellen Re-Nationalisierung seit 1990 und zum "Potential für rechtsextreme Einstellungen" (348), das im Westen Deutschlands bis Ende der 1990er Jahre sogar größer gewesen sei als im Osten, sind instruktiv. Man muss dem Autor freilich nicht in allen Interpretationen folgen, zumal es dem Buch an manchen Stellen an der nötigen Differenzierung mangelt. So ist es schlicht verkürzend zu behaupten, das Problemfeld der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei in der DDR "unbekannt" gewesen (145). Das war es bestenfalls im offiziellen Diskurs der SED, nicht aber im Alltag. Das Problem trat in der DDR aber zugleich durch andere Rahmenbedingungen in einer mit der "alten" Bundesrepublik wenig vergleichbaren Erscheinungsform auf und wurde entsprechend auf eine andere Weise verhandelt. Unbefriedigend ist auch die gelegentliche Neigung des Autors, vorschnell von vertanen Chancen oder erstaunlichen Fehlern der Transformation zu sprechen, ohne sich ebenso entschieden mit der Frage auseinanderzusetzen, wie tragfähig bestimmte Alternativvorschläge gewesen wären bzw. ob bestimmte Fehler (etwa die anfängliche Überbewertung der Wirtschaftskraft der DDR) tatsächlich hätten vermieden werden können. Auch wenn sich Historikerinnen und Historiker nicht scheuen sollten, Position zu beziehen, so wäre hier doch an der einen oder anderen Stelle etwas mehr Zurückhaltung angebrachter gewesen. Gleichwohl erweist sich das Buch über weite Strecken als intellektuell anregend, auch wenn die Erkenntnisse im Einzelnen für Historikerinnen und Historiker kaum neu sind. Was das Buch stattdessen ausmacht, ist die Kompilation bislang weit verstreuter Erkenntnisse, die neue Forschungsfragen anregt und, was die starke Thesenbildung anbetrifft, zuweilen auch produktiven Widerspruch hervorruft.

Der schmale Band von Marcus Böick und Christoph Lorke schließt argumentativ und inhaltlich an die Studie Großböltings an, konzentriert sich aber stärker auf die Zeit seit 1990. Im Zentrum steht der "Aufbau Ost", den die Autoren nicht als administrativen Akt zur Herstellung der "inneren Einheit" begreifen wollen, sondern viel umfassender als "komplexes Bündel an materiellen wie kulturellen Herausforderungen und Ansprüchen, das seit den 1990er Jahren zugleich von umfassenderen gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen begleitet beziehungsweise überlagert wurde, die mit vielzitierten Leitbegriffen wie 'Neoliberalismus', 'Globalisierung' oder 'Digitalisierung' sowie spezifischen Formierungen der 'Postmoderne' verbunden waren." (12). Schon diese weit ausgreifende Definition impliziert ein komplexes Forschungsprogramm, das weit über den semantischen Gehalt des Labels "Aufbau Ost" hinausreicht, zumal unter dem Begriff auch diejenigen Anpassungsprozesse gefasst werden sollen, die der Westen zu vollziehen hatte. Der Begriff "Aufbau Ost" verliert damit jedoch seine analytische Tiefenschärfe, das Forschungsprogramm wird überkomplex und letztlich lassen sich auf den knapp 130 Seiten nur kleine Schneisen schlagen. So entsteht weiterhin auch ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den in der Einleitung und im Schlussteil aufgeworfenen Forschungsfragen bzw. Schlussfolgerungen und den in den analytischen Kapiteln präsentierten Ergebnissen.

In drei prägnanten Kapiteln beleuchten die Autoren den rasend schnellen Umbau der ostdeutschen Wirtschaft (worunter irritierenderweise auch der Eliten- und Institutionentransfer im umfassenden Sinne behandelt wird), die soziale (Des-)Integration Ostdeutschlands auf dem bzw. durch den Arbeitsmarkt sowie die Suche nach einer ostdeutschen und nationalen Identität. Der "Aufbau Ost" zeichnete sich, den Autoren zufolge, vor allem durch seinen reaktiven Charakter aus. Sieht man von den bereits erwähnten Monita ab, liefert das Buch insgesamt eine gut lesbare Geschichte der (Des-)Integration des Ostens in das wiedervereinte Deutschland, deren Verlauf nicht auf einem Masterplan beruhte, sondern aus situativen (Ent-)Täuschungen auf beiden Seiten und darauf jeweils reagierenden hektisch-kurzfristigen und trotzigen Reaktionen erwuchs. Dies habe langfristig wesentlich zum Entstehen von Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland beigetragen.

Das Buch der beiden Leipziger Historiker Detlev Brunner und Günther Heydemann, das die Folgen der Einheit beleuchtet, widmet sich wieder der deutschen Nation in Gänze, wenngleich der Fokus auch hier mehr auf dem Osten liegt. Obwohl sich viele der in den beiden zuvor besprochenen Studien erwähnten Ereignisse und Bewertungen auch hier wiederfinden, ist die Quellenbasis doch eine etwas andere. Stützen sich Großbölting und Böick/Lorke stärker auf Medienquellen, so basieren große Teile der Darstellung von Brunner/Heydemann auf publizierten Umfrageergebnissen. Dies ist ebenso verdienstvoll wie problematisch - verdienstvoll deshalb, weil damit eine von Historikerinnen und Historikern nur selten genutzte Quellengattung in das Zentrum gerückt wird; problematisch jedoch, weil durch methodische Vorentscheidungen der Meinungsforschungsinstitute und die jeweiligen Zeitpunkte der Befragungen nur bedingt auf generelle Ost- und West- oder anders gelagerte Mentalitäten geschlossen werden kann. Auch lassen sich die Bevölkerungsumfragen wegen ihrer Fokussierung auf jeweils sehr spezifische Sachverhalte nur schwer miteinander in Beziehung setzen. Diesen Problemen sind sich die Autoren durchaus bewusst, in der Analyse bleibt es dagegen häufig bei einer bloßen Wiedergabe der Umfrageergebnisse, ohne die quellenkritische Dimension hinreichend zu berücksichtigen. Dabei führt die oft ausufernde Aneinanderreihung vieler Zahlen auch zu einem gewissen Ermüdungseffekt bei der Lektüre. Auch hätte man sich an vielen Stellen eine präzisere Thesenbildung gewünscht. So bleibt am Ende (ähnlich wie bei Böick/Lorke) oft ein ambivalentes Bild vom Transformationsprozess, das zwar einerseits die nötige Differenzierung leistet, aber andererseits prägnante Schlussfolgerungen offenlässt. Zudem werden bei einigen verhandelten Themen wie islamistischer und linker Terror die spezifischen Bezüge zur Einheit nicht ganz deutlich.

Inhaltlich setzt das Buch ganz ähnliche Schwerpunkte wie Großbölting und Böick/Lorke, wobei sich der stärkere quantitative Ansatz sehr gut mit den eher qualitativen Analysen der vorgenannten ergänzt. Auch der Einbezug von Akteuren jenseits der "großen Politik", wie etwa Gewerkschaften, sticht positiv heraus. Zugleich werden neben Wirtschaft, politischer Kultur und Mentalitäten auch die Themenfelder Migration und Außenpolitik näher ausgeleuchtet. Gerade letzteres Kapitel verdient besondere Aufmerksamkeit. Es schildert die ambivalente Rolle Deutschlands in der Europäischen Union (EU) ("Führungsmacht wider Willen") und im westlichen Verteidigungsbündnis North Atlantic Treaty Organization (NATO) (zurückhaltender bzw. unzuverlässiger Partner) und ist damit auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine instruktive Lektüre. Anders als die beiden zuvor besprochenen Bände werfen die Autoren schließlich auch einen Ausblick auf anstehende bzw. bereits begonnene Transformationsprozesse (Stichworte: Energiewende, Mobilitätswende, Digitalisierung), für die aus der Erfahrung des Transformationsprozesses im Zuge der Wiedervereinigung gelernt werden könne. Das Gesamturteil fällt dabei deutlich positiver aus als etwa bei Großbölting: während letzterer den Bedeutungszuwachs des Nationalismus mit Blick auf die Gefährdung der Demokratie in der Gegenwart als tiefgreifende und wirkmächtige Entwicklung seit 1990 ausmacht, beurteilen Brunner/Heydemann die deutsche Demokratie als im Großen und Ganzen "bewährt" (444).

Eine willkommene Ergänzung zu den drei Studien bietet ein kleiner Essayband zur Rolle der EU im Wiedervereinigungsprozess, verfasst vom Münchner Europahistoriker Kiran Klaus Patel und vom ehemaligen ostdeutschen Bürgerrechtler und Schriftsteller Ingo Schulze. Die Konstellation ist ungewöhnlich und funktioniert nur bedingt. So verdienstvoll es ist, einen westdeutsch bzw. westeuropäisch sozialisierten Zeithistoriker und einen ostdeutsch sozialisierten Schriftsteller miteinander in Gespräch zu bringen, so sehr reden beide doch aneinander vorbei. Es stellt sich die Frage, ob es nicht ertragreicher gewesen wäre, anstelle von Schulze einen ostdeutschen Zeitzeugen, der an den Verhandlungen mit der EU im Jahr 1990 beteiligt gewesen war, mit Patel ins Gespräch zu bringen. Der Essay von Schulze erweist sich für Zeithistorikerinnen und -historiker am Ende nur zu einem geringen Teil gewinnbringend. Schnell wird klar, dass Schulze - wie die am Runden Tisch versammelten Oppositionsgruppen, aber auch die ostdeutsche Übergangsregierung unter Hans Modrow (SED/PDS) insgesamt - kaum über die Rolle der EU nachdachten. Stattdessen verband Schulze mit Europa zuallererst Reisefreiheit, politisch stellte Europa dagegen eher einen abstrakt bleibenden Sehnsuchtsort dar, der das Primärziel der deutsch-deutschen Annäherung flankieren sollte. Ob es diese funktional-emotionslose Haltung zur EU ist, die einen Teil der in Ostdeutschland (aber nicht nur dort!) zu beobachtenden EU-Skepsis erklärt, wäre weiter zu diskutieren. Schulzes wenige Reflektionen zur EU sind für Forschende damit durchaus anregend, im Gegensatz zu seinen sonstigen Beurteilungen des Wiedervereinigungsprozesses, die den größten Raum seines Essays einnehmen. Hier zeichnet Schulze ein Bild von scheinbar homogenen ostdeutschen Selbstverwirklichungsinteressen, die sich am Runden Tisch widergespiegelt hätten, von konservativ-westdeutscher Machtpolitik dann aber zunichtegemacht worden seien. Schlussendlich sagt diese polarisierende Vereinfachung mehr über die von Enttäuschungen und Verletzungen geprägte Gedankenwelt eines ehemaligen ostdeutschen Bürgerrechtlers aus, als über die Prozesshaftigkeit der Ereignisse des Jahres 1990.

Für Patel dagegen gehörte Europa im Jahr 1990 bereits ganz selbstverständlich zum Erfahrungsraum. Während Schulze den Kontinent bereiste, feierte Patel am Tag der Wiedervereinigung (3. Oktober 1990) in der südwestdeutschen Provinz, weit weg vom politischen Einheitsgeschehen, seinen 19. Geburtstag. Aufbauend auf seinen einschlägigen Studien zur Geschichte der EU wirft er erste inspirierende Perspektiven auf ein noch nicht erforschtes Terrain: die Überlagerung und wechselseitige Dynamisierung von europäischer Vertiefung (seit Mitte der 1980er Jahre) und Erweiterung - zwei parallellaufende Prozesse, die mit dem Ende des Kalten Krieges neue Dimensionen annahmen sowie Chancen und Herausforderungen gleichermaßen bereithielten. Die sich mit der Wiedervereinigung automatisch vollziehende (und im Vergleich zu den anderen ost(mittel)europäischen Transformationsländern sehr frühe) Mitgliedschaft der DDR in der EU beurteilt Patel als "Katalysator, der dem schon lange diskutierten, kontroversen Projekt einer europäischen Währungsunion die entscheidende Schubkraft verlieh" (23). Sie habe der EU "die unverhoffte Möglichkeit eines Bedeutungsgewinns" eröffnet (28). Patels Essay geht damit weit über bisherige Darstellungen hinaus, die in der EU lediglich eine notwendige Bedingung für das schnelle Zustandekommen der politischen Einheit sahen - wie auch immer man dies politisch beurteilen möge. Zu den Schattenseiten gehörten sicherlich die kurzen Übergangszeiten für Ostdeutschland. Bis 1992 mussten hier auch erhebliche Teile des europäischen Rechts eingeführt werden. Zudem blieb die EU für viele Ostdeutsche ein abstraktes Gebilde, an dem man nicht partizipierte. Dazu kam der Verlust der D-Mark nach der Jahrtausendwende - jenes Symbols für Stabilität und Wohlstand, für das man erst zehn Jahre zuvor demonstriert hatte. Auf der Habenseite stand dagegen der unmittelbare Zugang zum europäischen Binnenmarkt und die Verfügbarkeit europäischer Strukturmittel. Instruktiv sind auch Patels Beobachtungen zu den langfristigen Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Handlungsfähigkeit der EU und der anderen post-sozialistischen Staaten, die ebenso ambivalent ausfallen. Die konsequente Verflechtungsperspektive, die Patel einnimmt, eröffnet ein weites Forschungsfeld, das noch viel unentdecktes Potential für eine Problemgeschichte der Gegenwart bereithält.

Die vier besprochenen Bände stellen schlussendlich wichtige Beiträge zur jüngsten Zeitgeschichte dar. Sie geben der von Historikerinnen und Historikern bislang meist stiefmütterlich behandelten Zeit nach 1990 historische Konturen, lassen Ereignisketten Revue passieren, tragen damit zum Verständnis unserer Gegenwart bei und stecken ein bislang kaum bearbeitetes Forschungsfeld ab. Deutlich wird zudem, wie relativ (und nicht selten auch destruktiv) der im öffentlichen Diskurs hierzulande immer wieder bemühte Ost-West-Vergleich ist. Manche Bewertungen des "Ostens" fallen anders aus, wenn man die Entwicklungen mit anderen ost(mittel)europäischen Transformationsländern vergleicht, die Bundesländer als Vergleichsebenen heranzieht oder bestimmte Entwicklungen im Osten (z.B. Armut) an seinen regionalspezifischen Bedingungen misst. Je nach Blickrichtung fällt auch das jeweilige Gesamturteil des Wiedervereinigungsprozesses (trotz sehr ähnlicher Bewertungen im Einzelnen) unterschiedlich aus. In den Studien bleiben jedoch bestimmte Gewichtungen und Fehlstellen, die dem Forschungsstand, zum Teil aber auch der nationalen Diskurslogik geschuldet sind, nicht aus. Obwohl insbesondere Großbölting, Böick/Lorke und Brunner/Heydemann beanspruchen, Deutschland seit 1990 in Gänze zu betrachten, erfährt man am Ende doch jeweils mehr über den (offensichtlich erklärungsbedürftigeren) Osten als über den Westen. Dabei wird der Osten noch zu sehr als Objekt und "Opfer" westlicher Politik bzw. (um einen gern zitierten Begriff von Steffen Mau zu bemühen) als "frakturierte Gesellschaft" dargestellt, während ostdeutsche (oder besser: hybride) Handlungsräume (jenseits von Revolution und Protest) und inner-ostdeutsche Differenzierungen kaum ausgeleuchtet werden. Ein zentrales Ergebnis der drei Studien ist jedoch auch, dass das Ost-West-Gefälle nur eine von vielen Konfliktlinien neben anderen ist (z.B. Nord-Süd, Stadt-Land, liberal-intellektuelle vs. modernisierungsskeptische Wählermilieus), wobei besonders geschlechtergeschichtliche Fragen noch viel zu kurz kommen.

Für Fachkundige sind die Erkenntnisse der besprochenen Studien nicht gänzlich neu, dennoch erweisen sich alle von ihnen als anregend. Das gilt insbesondere für den Essay von Patel, der den in den anderen Studien vernachlässigten Akteur der EU mit ins Spiel bringt. Die Studien von Großbölting, Böick/Lorke und Brunner/Heydemann erweisen sich vor allem für die öffentliche, häufig emotional-polarisierend geführte Debatte über die "innere Einheit" als nützlich, leisten sie doch die nötige Differenzierungs- und Versachlichungsarbeit und räumen mit medialen Zerrbildern unserer Gegenwart auf. Dabei ergänzen sie sich durch unterschiedliche Akzentsetzungen und Nuancierungen hervorragend. Für die Forschung aber wünscht man sich künftig andere methodische Zugänge jenseits einer Fixierung auf Ost-West-Verhältnisse. So ließe sich die Geschichte Deutschlands nach 1990 auch aus einer Nord-Süd-Perspektive erzählen. Zudem sollten europäische und globale sowie regionale und lokale Dimensionen noch stärker methodisch in künftige Untersuchungen einfließen. Dabei sollte auch der Neujustierung des Verhältnisses zwischen diesen Handlungsebenen als weitere Folge des Endes des Kalten Krieges mehr Beachtung geschenkt werden. Freilich mangelt es in diesem Feld noch an empirisch-quellengestützter Forschung. So spiegeln die hier besprochenen Studien letztlich den Stand der Forschung, nicht nur im inhaltlichen, sondern auch im methodischen Sinne wider. Künftige Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte seit 1990 sollten den Ost-West-Gegensatz jedoch nur noch als eine von mehreren Sichtachsen adressieren, ohne damit freilich die politisch weiter zu bearbeitenden Ungleichheiten und Unterschiede zwischen den ost- und westdeutschen Regionen zu negieren.


Anmerkungen:

[1] Petra Weber: Getrennt und doch vereint- Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020; Tobias Hochscherf/Christoph Laucht/Andrew Plowman (Hgg.), Divided, But Not Disconnected. German Experiences of the Cold War, New York/Oxford 2010.

[2] https://twitter.com/dietmarbartsch/status/1576814304929595395?lang=de

Christian Rau