Matthias Peter: Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975-1983. Die Umkehrung der Diplomatie (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 105), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, XII + 591 S., ISBN 978-3-486-70504-1, EUR 74,95
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Das Buch von Matthias Peter ist im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) entstanden. Daran beteiligt sind neben dem Münchner Institut für Zeitgeschichte auch Historiker der Sorbonne in Paris und der Universität Nürnberg-Erlangen. Die Studie über die Bundesrepublik im KSZE-Prozess zwischen den Verhandlungen zur Schlussakte von Helsinki und des zweiten Nachfolgetreffens in Madrid reiht sich ein in eine eindrucksvolle Phalanx von Forschungen zur Rolle und dem Verhalten der DDR, Österreichs, der Schweiz und der Sowjetunion unter Gorbatschow in dieser höchst komplexen, immer gefährdeten, aber mit viel diplomatischem Geschick durchgehaltenen intersystemaren und multilateralen politischen Unternehmung. Auch heute, 40 Jahre nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 gibt es unter Historikern und politischen Publizisten noch etliche kritische Urteile über die KSZE und den "Helsinki-Mythos". Dennoch aber hat sich die Einschätzung durchgesetzt, dass sie maßgeblich zum friedlichen Ende des Ost-West-Konflikts beitrug. Die wachsende Instabilität der Sowjetunion und ihrer europäischen Verbündeten war zwar letztlich verantwortlich für die Implosion des Sowjetsozialismus. Aber dass dieser Vorgang fast ganz gewaltfrei ablief, daran haben auch die zahlreichen Bindungen und Verbindungen, Regelungen und Verpflichtungen der KSZE mitgewirkt.
Die bundesdeutsche Diplomatie hatte beträchtlichen Anteil daran, dass der KSZE-Prozess nicht zum Stillstand kam. Peters Studie basiert vor allem auf einer systematischen Auswertung der Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Die erreichbaren gedruckten Quellen hat der Autor ebenfalls ausgewertet, außerdem einige Interviews geführt und die Memoiren von Politikern und Diplomaten durchforstet, die damals in irgendeiner Weise beteiligt waren. Die publizistische und akademische Literatur, vor allem die in deutscher und englischer Sprache, wurde ebenfalls ausgiebig herangezogen. All dies Material ist übersichtlich chronologisch organisiert und wird behutsam-nüchtern und in gut lesbarer Sprache präsentiert. Um das Endurteil vorwegzunehmen: Auf diese Weise ist dem Autor ein Meisterstück der Diplomatiegeschichtsschreibung gelungen, das für viele Jahre als Standardwerk zur KSZE gelten wird.
Gegliedert ist das Buch in sechs unterschiedlich lange Kapitel. Zunächst beleuchtet Peter die Rahmenbedingungen des KSZE-Prozesses, das heißt er stellt die verschiedenen innenpolitischen (deutsche) Handlungsträger dieses Prozesses vor sowie die Organisationen und Institutionen für die Abstimmungsprozesse, an denen die Bundesrepublik beteiligt war. Im zweiten Kapitel wird zunächst kurz die Vorgeschichte der Konferenz von 1954/55 bis 1975 rekapituliert. Dabei wird auch deutlich, dass die Europäische Sicherheitskonferenz (ESK), so der Name in den frühen Jahren, aus sowjetischer Sicht zwei Hauptinteressen erreichen sollte: Sicherung ihres erweiterten Herrschaftsbereichs in Osteuropa durch ein unbestrittenes Anerkennungs-Regime aller europäischen Nachkriegsgrenzen sowie sicherheitspolitische Abkoppelung Westeuropas von den USA. Das negative Image, das die KSZE viel später in den Augen vieler westlicher Beobachter hatte, geht auf diese sowjetische Ausgangsposition zurück. Aber, und genau das ist mit dem Untertitel der Studie gemeint, in der Übergangsphase von der ESK zur KSZE und der Vorbereitung der Schlussakte von Helsinki kam es einer "Umkehr der Diplomatie". Der westeuropäisch-nordamerikanische Zusammenhalt wurde gestärkt, die sowjetische Hegemonie im östlichen Europa bekam Risse und das Prinzip der "Unverletzlichkeit der Grenzen" wurde erweitert durch den Hinweis auf die Möglichkeit, bestehende Grenzen friedlich und im Einvernehmen der Beteiligten zu verändern. Beides, besonders jedoch letzteres, lag zentral im Interesse der Bundesrepublik, die durch die multilaterale Konferenz zudem ihre bilateralen Verträge mit Moskau, Warschau und Prag sowie das Viermächteabkommen über Berlin gewissermaßen bekräftigen wollte. Weil das so war, bilden die ebenso hartnäckigen wie geschickten Bemühungen der westdeutschen Diplomaten des Auswärtigen Amtes eine Art Leitmotiv des KSZE-Prozess von seinem Anfang bis zum Ende des Ost-West-Konflikts. Das war schon in den multilateralen Vorgesprächen 1972/73 so und ebenso in der anschließenden Konferenzphase, die in der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki kulminierte. Peter analysiert diesen mehrschichtigen Text, um den ausgiebig gerungen wurde (bis auf die Kommasetzung) kundig und präzise. Er nennt ihn mit Recht ein "Dokument der Paradoxien" (533). Aber anderes war nicht möglich, weil die Akteure nur über das Auswiegen unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Interessen zu einer antagonistischen Kooperation kommen konnten.
Bekanntlich begann sofort nach der Unterzeichnung der Schlussakte der ideologische "Kampf um die Auslegung" (111). Erwähnenswert ist, dass die sowjetsozialistischen Regierungen zunächst viel zufriedener mit dem Text waren, wohingegen in den westlichen Demokratien neben einem verbreiteten Desinteresse viel kritische Stimmen zu hören waren. Sowohl östliche Selbstzufriedenheit als auch westliche Kritik beruhten indes auf Fehleinschätzungen. Dabei waren die Vorgeschichte und der Ablauf des Belgrader Folgetreffens insgesamt wenig ermutigend. Auch danach, auf dem Wege zum zweiten Folgetreffen in Madrid und während der Verhandlungen dort, stand eher der Antagonismus und weniger die Kooperation im Vordergrund. Bei Peters Schilderung des Madrider Folgetreffens (1980-1983) zeigt sich im Übrigen, wie spannend Diplomatiehistorie sein kann!
Manche Rückschläge der Ost-West-Entspannung ergaben sich direkt oder indirekt aus weltpolitischen Ereignissen: sowjetische Invasion in Afghanistan, Revolution im Iran mit anschließender Geiselnahme amerikanischer Botschaftsangehöriger, die innenpolitische Entwicklung in Polen und die Ausrufung des Kriegsrechts, sowjetische Stationierung weitreichender Mittelstreckenraketen als nukleare Bedrohung Westeuropas und der Nachrüstungsbeschluss der NATO, schließlich auch noch der Abschuss einer koreanischen Passagiermaschine KAL 007 (ausgerechnet 007!). Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus den Block-internen Differenzen, etwa zwischen den USA mit ihrer scharfen Akzentuierung der Menschenrechtsfrage und den Westeuropäern. Ungeachtet dessen (ein Lieblingsausdruck des Autors) hielt die Entspannung. In Madrid wurden sogar für die Zukunft wichtige Abmachungen getroffen, etwa über die Einberufung einer Konferenz über Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung (KVAE) in Stockholm.
Aus Peters Perspektive gibt es im Untersuchungszeitraum zwei besonders konstruktive Akteure: einmal die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten (mit Ausnahme des quengligen Malta) und zum andern die westdeutsche Diplomatie unter Anleitung von Außenminister Genscher. Letzteres könnte man als deutschlandzentrisch verzerrt ansehen. Ist es aber ganz und gar nicht. Gerade weil dem Autor zweifelsfrei eine nüchterne und ausgewogene Darstellung gelungen ist, ist sie auch zu einer Würdigung des Auswärtigen Amtes und seines damaligen Spitzenpersonals geworden. Das ist völlig angemessen.
Wilfried von Bredow