Richard Cockett: Vienna. How the City of Ideas Created the Modern World, New Haven / London: Yale University Press 2023, XIII + 445 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-26653-5, USD 35,00
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Wien war Anfang des 20. Jahrhunderts ein einzigartiger multiethnischer Schmelztiegel, der einige der wichtigsten Ideen der Moderne hervorgebracht hat: Psychoanalyse, Jugendstil, Zwölfton-Musik, Zionismus, modernistische Architektur oder die neoliberale Austrian School. Gleichzeitig war Wien auch jener Ort, wo zum ersten Mal Antisemitismus durch Georg von Schönerer und Karl Lueger zu politischen Zwecken instrumentalisiert wurde. Grassierende rassistische sowie ethnonationalistische Ideologien bildeten den geistigen Nährboden für den jungen Adolf Hitler, der von 1907 bis 1913 in Wien lebte.
Während andere Autoren bereits einzelne Aspekte dieser besonderen Periode beleuchtet haben, liefert der britische Journalist und Historiker Richard Cockett eine Gesamtbetrachtung. Die Bandbreite des kulturellen und intellektuellen Einflusses Wiens reiche von Kernspaltung, über Einkaufszentren bis hin zur funktionalen Einbauküche. Cockett chronologisiert erstmals die nachhaltigen Spuren, die Wiener Emigrantinnen und Emigranten in der westlichen Geistesgeschichte hinterlassen haben. Viel Aufmerksamkeit widmet er dabei Frauen wie Charlotte Bühler, Käthe Leichter, Margarete Schütte-Lihotzky oder Lise Meitner, deren wichtige Rolle bislang oft übergangen wurde.
Die Tatsache, dass sich eine ganz bestimmte Wiener intellektuelle und kulturelle Tradition herausbildete, erklärt Cockett mit dem hohen Migrationsanteil, der sich aus allen Provinzen der Habsburgermonarchie speiste. In der Haupt- und Residenzstadt der K.u.K.-Monarchie sei ab Ende des 19. Jahrhunderts ein offenes und kosmopolitisches Umfeld entstanden, in dem sich eine breitgefächerte intellektuelle Community entfalten konnte.
Wien war 1910 mit über zwei Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt Europas und Lebensmittelpunkt einer selbstwussten und wachsenden bürgerlichen Klasse. Der Erste Weltkrieg bedeutete zwar einen traumatischen Einschnitt, aber das Wien der 1920er und frühen 1930er Jahre blieb eine Hochburg der Moderne. Denn zwischen 1919 und 1934 wurde die Stadt mit absoluter sozialdemokratischer Mehrheit unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz verwaltet. Dieses Rote Wien mit Schwerpunkten auf sozialer Fürsorge, kommunalem Wohnbau und Schulreform gilt als eines "der außergewöhnlichsten, kreativsten und mutigsten kommunalen Experimente der neueren europäischen Geschichte". International viel Beachtung fanden die Errungenschaften im sozialen Wohnbau. Zwischen 1925 und 1933 entstanden 382 Gemeindebauten mit rund 60.000 Wohnungen. Die Finanzierung ermöglichte eine progressive Steuer auf Wohnungseigentum.
Am Erfolg des Roten Wien und der Sozialdemokratie waren viele Jüdinnen und Juden beteiligt. Diese standen überhaupt an der Spitze vieler gesellschaftlicher, kultureller und politischer Entwicklungen. Zwischen 1867 und 1936 war der jüdische Bevölkerungsanteil von 6.000 registrierten Jüdinnen und Juden auf 180.000 gewachsen. Das waren zehn Prozent aller in Wien lebenden Menschen. In Europa verzeichneten nur Warschau und Budapest höhere Werte, so Cockett. Das bereits in der Habsburgermonarchie fortschrittliche Bildungssystem habe es gerade jüdischen Immigranten ermöglicht, einen raschen ökonomischen und sozialen Aufstieg hinzulegen.
Nichts bringt die Widersprüchlichkeit dieser Epoche mehr zum Ausdruck als die Tatsache, dass in Wien gleichzeitig auch populistische, antisemitische, völkische und rassistische Ideen geprägt wurden. Cockett zufolge habe Lueger den Antisemitismus zum ersten Mal in eine Regierungsdoktrin verwandelt. Damit wurden jene breiten Bevölkerungsschichten angesprochen, die der Modernisierung zutiefst ablehnend gegenüberstanden.
Der Untergang dieses kulturellen Schmelztiegels vollzog sich dann auch relativ rasch: 1934 ging das Rote Wien in einem kurzen Bürgerkrieg mit den regierenden konservativ-reaktionären Kräften unter. Der Versuch, mit einem nach italienischem Vorbild ausgerichteten Austrofaschismus den Nationalsozialismus zurückzudrängen, scheiterte. Der "Anschluss" 1938 beendete die Eigenstaatlichkeit Österreichs. Die Auswirkungen für die jüdische Bevölkerung waren katastrophal: Von 200.000 Jüdinnen und Juden, die vor 1938 in Österreich gelebt hatten, waren im September 1939 nur mehr 75.000 zurückgeblieben. Von ihnen sollten nur etwas mehr als 11.000 den Holocaust überleben.
Der große Exodus führte dazu, dass sich die Ideen der Wiener Moderne vor allem im angloamerikanischen Raum verbreiteten. Der große Gewinn durch Cocketts Studie besteht darin, dass er diesen großen Fußabdruck Wiener Emigrantinnen und Emigranten vermisst. Ein gutes Beispiel ist die modernistische Schule in der Architektur, die in den USA auf viel Widerhall stieß. Joseph Urban etwa entwarf unter anderem das Anwesen Mar-a-Lago in Palm Beach, das später von Donald Trump erworben wurde. Hollywood entwickelte sich dank Billy Wilder, Fritz Lang oder Fred Zinnemann in neue Richtungen. Ernest Dichter war ein Pionier in Sachen Marktforschung, Victor Gruen entwarf die ersten modernen Shopping malls und Oskar Morgenstern konzipierte die Spieltheorie.
Was Großbritannien betrifft, so nimmt Cockett neben dem Einfluss der Philosophen Ludwig Wittgenstein und Karl Popper auch auf die große Rolle österreichischer Emigrantinnen und Emigranten in Sachen Spionage für die Sowjetunion Bezug. Speziell Arnold Deutsch und Edith-Tudor Hart waren maßgeblich an der Rekrutierung des Agentenrings der "Cambridge Five" beteiligt. Als besonders wirkungsmächtig erwiesen sich die Ideen der Austrian School. Ludwig von Mises und Friedrich August Hayek waren Vordenker freier Märkte und des Neoliberalismus, der spätestens Anfang der 1980er Jahre tonangebend werden sollte.
Abschließend unterstreicht Cockett nochmals, Wien sei deswegen so aufgeblüht sei, weil es eine offene Gesellschaft gewesen sei für all jene, die davor von kultureller und intellektueller Produktion ausgeschlossen waren: vor allem Frauen, Jüdinnen und Juden und die zahllosen Nationalitäten im Habsburgerreich. Aber auch im Ausland seien Wienerinnen und Wiener stets unter den Vorreitern gewesen, wenn es darum ging, die Grenzen von freier Meinungsäußerung und Ausdruckweise in Literatur, Kunst und Design zu erweitern. Allerdings war Wien eben auch ein Laboratorium der Anti-Moderne, was bei Cockett etwas zu kurz kommt. Davon abgesehen bietet Vienna empfehlenswerte Lektüre mit neuen Blickwinkeln auf ein bekanntes Forschungsfeld.
Thomas Riegler