Shelley Harten: Reenactment eines Traumas: Die Entebbe Flugzeugentführung 1976. Deutsche Terroristen in der israelischen Presse, Marburg: Tectum 2012, 187 S., ISBN 978-3-8288-2853-7, EUR 29,90
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Auf der Basis von Berichten in sieben Tageszeitungen untersucht die Historikerin Shelley Harten die israelische Rezeption der Flugzeugentführung nach Entebbe [1] - und zwar im Zeitraum zwischen der Kaperung des Air-France-Flugs am 27. Juni 1976 durch ein deutsch-palästinensisches Kommando und dem Ende des folgenden Monats. Dabei stehen für Harten folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie reagierte die israelische Presse auf den Terror, insbesondere auf die Unterstützung der Palästinenser durch westdeutsche Terroristen? Des Weiteren ist für sie von Interesse, welche Rückschlüsse sich daraus über die israelische Identität und die deutsch-israelischen Beziehungen ziehen lassen.
Die Entebbe-Flugzeugentführung ist bis heute eines der Schlüsselereignisse in der Geschichte des internationalen Terrorismus: Der Air-France-Airbus 300 B4, mit 248 Passagieren an Bord, wurde auf dem Weg von Paris nach Tel Aviv, nach einem Zwischenstopp in Athen, von vier Terroristen entführt. [2] Es handelte sich um eine gemeinsame Aktion der "Special Group" der Popular Front for the Liberation of Palestine (PLFP-SG) von Wadi Haddad mit den westdeutschen Revolutionären Zellen (RZ). Die RZ-Anführer Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann waren selbst Teil des Entführerkommandos. [3] Das ehemalige RZ-Mitglied Hans-Joachim Klein bekundete später, seine Genossen hätten dabei sein müssen, weil Haddad "was sehen" wollte "für sein Geld". Angeblich hatten die RZ, so Klein, jeden Monat 3.000 Dollar sowie Waffen von der PLFP-SG bezogen. [4] Diese "Achse" zwischen westdeutschen Linksextremisten und den Palästinensern war ein wesentliches Element des internationalen Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre. Was damals seitens der RZ und anderer Gruppen als "antiimperialistische Solidarität" bezeichnet wurde, wird von der neueren Forschung als "antiisraelisch bzw. antijüdisch und insofern antisemitisch" bewertet. [5]
Der entführte Air-France-Flug landete schließlich auf dem Flughafen Entebbe in Uganda. Dort forderten die Terroristen die Freilassung von 53 inhaftierten Gesinnungsgenossen, die, abgesehen von sechs westdeutschen Linksextremisten, größtenteils in israelischen Gefängnissen einsaßen. Am 29. Juni 1976 wurde eine Trennung der jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren vorgenommen: Böse las zunächst aus den Pässen die Namen aller jüdischen Geiseln vor, die anschließend in einen Nebenraum gebracht wurden. [6] Die Betroffenen, unter denen sich einige Holocaust-Überlebende befanden, erlebten diese Prozedur wie eine Selektion. Zu diesem Eindruck soll auch das Verhalten von Kuhlmann beigetragen haben, die brüsk herumkommandierte und Geiseln die Kippa vom Kopf schlug. [7] Kurz darauf wurde ein Großteil der Passagiere freigelassen, während die 98 Personen jüdischer Herkunft sowie die Crew weiterhin in der Gewalt der Terroristen verblieben. [8]
In Israel war dies ausschlaggebend dafür, eine Befreiungsaktion zu starten. "Das Bild von einer deutschen Frau und einem deutschen Mann, die wieder einmal Pistolen auf wehrlose Juden hielten, konnte kein Israeli verwinden", meinte der damalige Verteidigungsminister Shimon Peres. [9] In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1976 wurden im Rahmen von Operation Thunderbolt alle Terroristen sowie eine unbekannte Anzahl an ugandischen Soldaten, die den Terminal abgeschirmt hatten, getötet. Drei der Geiseln [10] und der Anführer des israelischen Kommandos kamen ebenfalls ums Leben. Seitdem ist Entebbe nicht nur in Israel, sondern auch in der westlichen Öffentlichkeit ein Synonym für Waghalsigkeit in der Antiterrorpolitik. "It was one of the most daring rescues of modern times", lobte damals Time und zitierte den israelischen Minister Gideon Hausner: "We have again provided the whole world with an example of how terrorism could be resisted and should be resisted." [11]
Nicht umsonst wurde die Geiselbefreiungsaktion drei Mal verfilmt: Bereits 1976 drehte Marvin Chomsky Victory at Entebbe mit einem außergewöhnlichen Staraufgebot. Danach folgten der TV-Film Raid on Entebbe (1977) bzw. die israelische Produktion Operation Thunderbolt (1977). Alle drei Filme verneigen sich vor dem Wagemut der Militärs und dem moralischen Mut der Politiker, nicht mit den Terroristen zu verhandeln. Die Schlüsselszene ist immer dieselbe: die Selektion der jüdischen Passagiere, wobei die beiden linksextremen Westdeutschen wie nationalsozialistische "Wiedergänger" erscheinen, gleich, ob sie sich selbst als Kämpfer für die Sache der Unterdrückten begreifen. So widerspricht beispielsweise in Victory at Entebbe ein Auschwitz-Überlebender Wilfried Böse (Helmut Berger), der nichts mit den Nazis gemein haben will: "What is different between you and your father, a German with a gun killing Jews [...]. It's the same." [12]
Auch in Shelley Hartens Buch ist diese Selektion die zentrale Referenz. Dadurch sei der israelischen Öffentlichkeit 1976 der Holocaust ins Gedächtnis gerufen worden, der in Form eines "Reenactment" neu erfahren worden sei: Erneut entschieden Deutsche über Tod und Leben - hilflose Juden schienen ihnen ausgeliefert, bis der Einsatz der wehrhaften israelischen Armee die Wende brachte. Am Beispiel Entebbe, so Harten, manifestiere sich die "Dialektik von Trauma und Triumph", die die erinnerte Geschichte Israels kennzeichne: "Das in der 'Selektion' erlebte, an den Holocaust erinnernde Reenactment und die Gefangenschaft der vom Tode bedrohten Geiseln bestätigen unmittelbar die dem Zionismus inhärente These des ewigen Opferschicksals des jüdischen Volkes. Die Presse nimmt die Schilderung der Zeugen zum Anlass, um immer wieder daran zu erinnern, dass das Überleben der Juden und Israelis nur durch den Zusammenhalt der Nation gesichert werden kann. Die siegreiche Befreiung der Geiseln wird als Beweis und Symbol für die Tatkraft der israelischen Armee gefeiert." Die "homogene" Berichterstattung vermittle den Eindruck, dass der "Triumph von Entebbe" in Fortsetzung zur Staatsgründung Israels und dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg 1967 stehe, während das Reenactment es erlaube, auch an andere traumatische Überlieferungen wie den Selbstmord der Verteidiger von Massada gegen die Römer im Jahr 73 n. Chr. zu erinnern. (151)
Den Israelis sei es somit gelungen, "ihre mythologisch-traumatische Ohnmacht abzustreifen und schließlich mit der Tötung ihrer Peiniger Rache zu üben" (82). Auf diese Weise seien die kollektive Identität und das israelische Nationalgefühl auf zweifache Weise bestätigt worden: "Einerseits schien es den Beweis für die historische Kontinuität von Judenverfolgung und Antisemitismus zu liefern. Andererseits bestätigte es auch die Schutzfunktion, die dem israelischen Staat notwendigerweise zukam, und somit letztendlich auch den Zionismus." (73) Dieses Mal habe man über das Schicksal, "Opfer deutscher Nazis zu sein, über das Schicksal, dem neuen terroristischen Feind ausgeliefert zu sein", triumphiert - "doch es bleibt die Unsicherheit" (153 f.).
Mit ihrer gut lesbaren Studie liefert Harten eine Ergänzung zum Verständnis eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte des modernen Terrorismus und darüber hinaus zur Symbolik der Geiselnahme im Kontext israelischer nationaler Erinnerung und Identität.
Anmerkungen:
[1] Zu diesem Fall existiert bislang vor allem journalistische Sekundärliteratur. Vgl. u. a. Yehuda Ofer: Operation Thunder: The Entebbe Raid. The Israelis' Own Story, Harmondsworth 1976; William Stevenson: 90 Minuten in Entebbe, Frankfurt am Main 1976; Christopher Dobson / Ronald Payne: The Carlos Complex. A Study in Terror, London 1977; Muki Betser / Robert Rosenberg: In geheimem Auftrag, Hamburg 1996. Markus Eikel hat 2013 das Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung quellengestützt aufgearbeitet. Vgl. Keine "Atempause", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), Heft 2, 239-261.
[2] Eikel: Keine "Atempause", 239 f.
[3] Vgl. Thomas Skelton Robinson: Im Netz verheddert. Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (1969-1980), in: Die RAF und der linke Terrorismus, Band 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, 828-904; Annette Vowinckel: Der kurze Weg nach Entebbe oder die Verlängerung der deutschen Geschichte in den Nahen Osten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), Heft 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Vowinckel-2-2004.
[4] Den Papst einen Monat lang ausspioniert, in: Der Spiegel (1978), Nr. 32 vom 7. August 1978, 70-82, hier 73.
[5] Wolfgang Kraushaar: "Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?" München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus, Reinbek 2013, 17.
[6] Eikel: Keine "Atempause", 251.
[7] Dobson / Payne: The Carlos Complex, 226.
[8] Eikel: Keine "Atempause", 251.
[9] Thomas Riegler: Terrorismus. Akteure, Strukturen, Entwicklungslinien, Innsbruck 2009, 235.
[10] Die 75-jährige Dora Bloch, die zuvor in ein Krankenhaus gebracht worden war, wurde einen Tag nach der Befreiungsmission aus Rache ermordet. Der ugandische Diktator Idi Amin hatte im Verlauf des Geiseldramas immer mehr für die Geiselnehmer Partei ergriffen. Vgl. Eikel: Keine "Atempause", 258 f.
[11] The Rescue: "We Do the Impossible", in: Time, 12. Juli 1976, 9-11.
[12] Victory at Entebbe, Warner Home Video (1997).
Thomas Riegler