Jessica Lindner-Elsner: Von Wartburg zu Opel. Arbeit und Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach 1970-1992, Göttingen: Wallstein 2023, 483 S., ISBN 978-3-8353-5486-9, EUR 44,00
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Der Eisenacher Wartburg genießt in der Popkultur heute bei weitem nicht den gleichen ikonischen Status als Automobil der DDR wie der in größeren Mengen produzierte Trabant aus Zwickau. Genau im Trend der (post-)sozialistischen Transformationsforschung liegt dagegen Jessica Lindner-Elsners Studie über Wandlungen in der Arbeitswelt des Wartburgherstellers Automobilwerk Eisenach (AWE). Zeitlich umfasst ihre Betriebsstudie die Ära von Honeckers "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Daran schließen sich noch drei Jahre der Transformation bis zur Produktionsaufnahme im neuen Opel-Werk Eisenach an, welches das Erbe der Fahrzeugproduktion vom geschlossenen AWE schließlich 1992 übernahm. Mit dieser Rahmung ordnet sich Lindner-Elsners Arbeit in die "lange Geschichte der Wende" ein, die die Zäsur von 1989/90 überschreitet. [1] Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings auf dem ersten Hauptteil, der den Zeitraum 1970 bis 1989 abdeckt. Der Transformationsteil von 1989 bis 1992 fällt deutlich schmaler aus.
Ziel der Studie ist es, einen Zusammenhang zwischen arbeitsweltlichem Wandel im Automobilwerk und sozialer Ungleichheit zu untersuchen. Besonderes Augenmerk legt sie dabei auf Ungleichheiten im Zusammenhang mit Geschlecht bei Frauen im Betrieb, Nationalität im Falle von Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern und sozialer Randlage bei Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Behinderung und Häftlingen. Als weiteren Herd von Ungleichheit macht Lindner-Elsner Mitgliedschaften in politischen und Massenorganisationen im Betrieb aus. Ihre Argumentation richtet sich gegen das Narrativ einer vermeintlich egalitären Gesellschaft im realsozialistischen Staat. Sie interessiert sich weniger für die konkrete Rolle betrieblicher oder politischer Einzelakteure, sondern bleibt getreu dem eigenen Anspruch problemorientiert im Stile einer Sozial- und Gesellschaftsgeschichte.
Unter der Annahme, soziale Ungleichheit sei Resultat politischer Handlungen, vollzieht Lindner-Elsner gründlich nach, wie solche Ungleichheiten im AWE aussahen. Ein Ergebnis lautet, dass weiße, männliche Produktionsarbeiter gegenüber allen anderen Gruppen im Werk, auch gegenüber Angestellten, durchgängig am besten gestellt gewesen seien. Sie hätten die meisten Prämien zusätzlich zum Grundgehalt erhalten, seien der idealisierte Maßstab für alle anderen Gruppen während der DDR-Zeit gewesen und hätten tendenziell auch die Transformationsjahre besser überstanden. So habe Opel prozentual mehr männliche Betriebsangehörige von AWE übernommen als weibliche. Auch hätten Arbeitsbereiche, in denen besonders viele Frauen gearbeitet hatten, zuerst und am intensivsten unter Kürzungen im Zuge der Wende-Transformation bei AWE gelitten.
Detailliert führt Lindner-Elsner aus, wie sich Arbeitsalltag und Behandlung durch den Betrieb zwischen männlichen und weiblichen Arbeitskräften unterschieden. So richtete die Betriebsleitung für Frauen extra werkseigene Verkaufsstellen ein und tolerierte Einkäufe während der Arbeitszeit, um deren zusätzlicher Rolle als Trägerin der Sorgearbeit Rechnung zu tragen. Ein solches besonderes Entgegenkommen hätten unzufriedene weibliche Betriebsangehörige und die Frauenkommission auch immer wieder aktiv eingefordert, wobei das propagierte Ziel - entsprechend der SED-Politik - eine völlige Gleichstellung von Mann und Frau gewesen sei. Einerseits sei deshalb versucht worden, geschlechtsbezogene Ungleichheiten durch betriebliche Maßnahmen abzubauen, andererseits seien durch diese Maßnahmen mit ihren nicht intendierten Nebenfolgen aber andere Benachteiligungen befördert worden. Benachteiligt fühlten sich unter anderem Frauen, die keinen werkseigenen Betreuungsplatz für ihre Kinder erhielten. Die Autorin weist so überzeugend nach, dass klassische Rollenbilder im AWE von keiner Seite aus je ernsthaft in Frage gestellt wurden.
Mit Bezug auf ausländische Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, hauptsächlich aus Kuba und Mosambik, konstatiert Lindner-Elsner, diese seien in Eisenach nie mit der Stammbelegschaft gleichgestellt gewesen. So hätten sie etwa in ständig kontrollierten, separierten Wohnheimen ohne viel Privatsphäre leben müssen und unter permanenter Missgunst der einheimischen Bevölkerung gelitten. Ihre reale Entlohnung sei bei gleicher Arbeit deutlich geringer gewesen. Um sie erklärtermaßen zu erziehen, hätten Betrieb und Massenorganisationen besonders intensiv versucht, ihre Freizeit zu kontrollieren und zu organisieren. Deutlich wird, wie sehr der Umgang mit Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern von einem durchweg paternalistischen und schlechterdings ablehnenden Verständnis durchzogen blieb.
Fallstudien wird oft vorgeworfen, sie würden das große Ganze aus dem Blick verlieren und einen höheren Gesamtzusammenhang außer Acht lassen. Sicherlich auch, um solchen Vorwürfen vorzubeugen, bindet Lindner-Elsner ihre Studie akribisch in den Forschungsstand der DDR- und Transformationsgeschichtsschreibung ein. Fast allen untersuchten Phänomenen oder Sachverhalten stellt sie Einordnungen aus aktueller Forschungsliteratur zum gleichen Thema voran. Manchmal entsteht dabei allerdings der Eindruck, als präfiguriere die herangezogene Literatur schon das Ergebnis ihrer eigenen Untersuchungen. Unklar bleibt an manchen Stellen, inwieweit Lindner-Elsners reiche Quellenbasis geeignet ist, den allgemeinen Forschungsstand zu Einzelfragen nicht nur nachzuvollziehen, sondern möglicherweise partiell herauszufordern. In solchen Fällen wäre eine selbstbewusstere Argumentation auf Basis des eigenen Materials wünschenswert gewesen. Außerdem geraten beim Thema geschlechtsbezogene Ungleichheiten Begrifflichkeiten durcheinander. So gebraucht Lindner-Elsner beispielsweise "Gleichberechtigung" und "Gleichstellung" von Frauen und Männern in der DDR synonym innerhalb desselben Arguments (128), was schließlich in der Behauptung mündet, Frauen und Männer seien in der DDR nie vollständig gleichberechtigt gewesen. Hier wäre eine saubere begriffliche Trennung zu empfehlen.
Das zugrunde liegende Quellenmaterial scheint zudem weiterführendere Betrachtungen zu gestatten, als Lindner-Elsner sich zutraut. Sie argumentiert beispielsweise, sexualisierte Darstellungen von Frauenkörpern im Betrieb allgemein hätten bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verstärken können. Dabei stützt sie sich auch auf die Fotografie eines Pausenraumes, in dem Pin-Up-Poster an Regalen hängen. Zwar dominieren weibliche Pin-Ups klar, allerdings hängt auch das Männer-Poster prominent und deutlich sichtbar im Raum. Lindner-Elsner geht an dieser Stelle nicht der Frage nach, weshalb überhaupt so prominent auch halbnackte Männer im Pausenraum der Abteilung Endmontage zu sehen waren.
Insgesamt legt die Autorin eine gut lesbare, klar strukturierte und prägnant formulierte Studie vor, die Ungleichheiten entlang verschiedener Vektoren innerhalb des DDR-Betriebsalltages und der Transformationsjahre überzeugend herausarbeitet. Wünschenswert wäre aus Sicht des Rezensenten bei aller gründlichen Rezeption des Forschungsstandes eine eigenständigere Darstellung gewesen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Kerstin Brückweh / Clemens Villinger / Kathrin Zöller (Hgg.): Die lange Geschichte der Wende. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.
Konrad Bunk