Ulrike Schulz: Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856-1993, 2. Auflage, Göttingen: Wallstein 2013, 464 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1256-2, EUR 34,90
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Mit ihrer Studie über die Suhler Firma Simson legt Ulrike Schulz eine Unternehmensgeschichte vor, die das Unternehmen von seiner Gründung bis zur endgültigen Liquidation untersucht und sich damit über einen Zeitraum von etwa 150 Jahren erstreckt. In dieser Zeit überlebte das Unternehmen eine Vielzahl großer politischer Umbrüche, die Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen mit sich brachten. Schulz' Gliederung folgt diesen Umbrüchen und den damit einhergehenden Wechseln in der Unternehmensverfassung. So umfasst Schulz' Studie gleich mehrere Teilgeschichten, die jeweils durch eigene Akteure geprägt sind und durch einen Umbruch eingeleitet werden, durch welchen die Handlungsspielräume dieser Akteure beeinflusst werden. Dass der Leser an keiner Stelle das Gefühl hat, die Geschichte Simsons zerfiele in diese Teilgeschichten, ist Schulz' theoretischem Zugriff zu verdanken, der eine Betrachtung der langen Geschichte des Unternehmens auch über Zäsuren hinweg erlaubt.
So trifft Schulz eine analytische Unterscheidung zwischen den Verfügungs- und Handlungsrechten und differenziert zwischen der Kapital- und der Betriebsseite des Unternehmens. Verfügungs- und Handlungsrechte werden als Unterkategorien von Eigentum verstanden, wobei die Verfügungsrechte zum Verkauf oder der Liquidation eines Unternehmens ermächtigen und auf der Kapitalseite eines Unternehmens angesiedelt sind. Handlungsrechte gewähren dem Inhaber dieser Rechte Gestaltungsmöglichkeiten auf der Betriebsseite des Unternehmens. Diese können entweder durch den Inhaber der Verfügungsrechte ausgeübt oder delegiert werden. Auf Basis dieser Unterscheidung analysiert Schulz, welche Akteure welche Rechte inne hatten, wie sie ihren Handlungsspielraum nutzten und welche Auswirkungen dies auf das Überleben Simsons hatte. So bilden die Verfügungs- und Handlungsrechte den roten Faden, der die einzelnen Teile der Studie miteinander verbindet.
Die Geschichte der Firma Simson beginnt mit der Gründung des Handelsgeschäfts Gebrüder Simson im thüringischen Suhl, das seit 1862 als Bajonett- und Ladestockfabrik am selben Ort betrieben wurde. Der Standort Suhl bot eine räumliche Nähe zu einer Vielzahl kleiner und mittelständischer Waffenproduzenten und damit die Möglichkeit von Wissenstransfers, von welchen die Gründerfamilie Simson in der ersten Zeit nach der Unternehmensgründung stark profitierte. Die Familie Simson war zwar in der Lage, das Kapital für den Auf- und sukzessiven Ausbau des Unternehmens zur Verfügung zu stellen, verfügte jedoch nicht über das zur Waffenproduktion notwendige technische Fachwissen. Diesen Mangel glich die Familie über den Aufbau einer qualifizierten Stammbelegschaft, die zum Teil über mehrere Generationen bei den Simsons beschäftigt war, aus. Um sich von kriegsbedingten Konjunkturen der Waffennachfrage unabhängig zu machen, begannen die Simsons in die zivile Produktion zu diversifizieren und ihre Maschinen unter anderem mit der Fertigung von Fahrrädern auszulasten. Als ein Ziel der Unternehmerfamilie und einen Faktor für ihren wirtschaftlichen Erfolg nennt Schulz die Möglichkeit der Familie Simson zur internen Finanzierung, durch welche sie ihre volle unternehmerische Autonomie wahren konnte. In dieser Phase hatte die Eigentümerfamilie sowohl die Verfügungs- als auch die Handlungsrechte inne.
Die Zwischenkriegszeit ist durch einen starken Verlust von Handlungsrechten charakterisiert, durch den auch die Verfügungsrechte der Familie Simson erheblich einschränkt wurden. Ursächlich hierfür war eine Zusammenarbeit zwischen dem Reichswehrministerium und den Simsons, in deren Folge die Produktionsanlagen zur Vorbereitung einer verdeckten Aufrüstung modernisiert und ausgeweitet wurden. Die Familie Simson profitierte zwar wirtschaftlich von der staatlich finanzierten Modernisierung und der Errichtung einer Forschungseinrichtung, zugleich sicherte sich das Reichswirtschaftsministerium jedoch weitreichende Handlungsrechte und höhlte so die unternehmerische Autonomie der Familie Simson aus.
1933 begann ein Konflikt zwischen der Familie Simson und der thüringischen NSDAP um die Verfügungsrechte des Unternehmens. Auch die Reichswehr versuchte ihre Interessen durchzusetzen und ihre Rechte im Unternehmen nicht zu verlieren. Der Konflikt endete mit der Enteignung der Firma Simson & Co und ihrer Überführung in Staatseigentum im Jahr 1935. Hier hebt Schulz die Sonderrolle des Falles Simson hervor, der zum einen als "Probelauf und Musterfall" (167) für spätere Enteignungen gesehen werden kann. Hier konnten die zuständigen Akteure der staatlichen Stellen und der NSDAP durch den Rechtsstreit um das Unternehmen ihre Strategien und Rechtfertigungsmuster prüfen, modifizieren und verbessern. Zum anderen stellt die Enteignung der Familie Simson aufgrund des hohen Kaufpreises und der eigentumsrechtlichen Situation vor und nach der Enteignung einen "spektakulären Sonderfall" (168) dar. Als einen wichtigen Faktor dafür, dass das Unternehmen trotz der unsicheren und wechselnden Eigentumsverhältnisse und Verfügungsrechte eine konstante wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufwies, arbeitet Schulz die wichtige Rolle des gut geschulten und eingespielten Personals heraus. Auch nach 1945 waren es die langjährigen Mitarbeiter, die gegen die vollständige Demontage der Anlagen kämpften und so den Erhalt des Betriebes sicherten, der bis zur Eingliederung in das Produktionssystem der DDR von den Investitionen der Sowjetunion in die Produktion von Motorrädern profitieren konnte. Als VEB Fahrzeug- und Gerätewerk Simson Suhl und VEB Fahrzeug und Jagdwaffenwerk »Ernst Thälmann« Suhl nahm die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebsseite aufgrund mangelnder Investitionen und erheblicher Probleme in der Materialbeschaffung jedoch kontinuierlich ab und nach der Aufspaltung des Unternehmens, im Zuge der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft, endete die Geschichte Simsons.
Durch die analytische Unterscheidung von Verfügungs-, Handlungs- und Eigentumsrechten kann Schulz die Handlungsspielräume der Akteure im Betrieb herausarbeiten und zeigen, wie groß diese - natürlich innerhalb des vorgegebenen Handlungsrahmens - wirklich waren. Außerdem zeigt Schulz' Untersuchung, wie Unternehmen, zum Beispiel über den Aufbau einer loyalen Stammbelegschaft, große Brüche innerhalb und außerhalb des Unternehmens überleben können. Gerade vor dieser Erklärungskraft der gesamten 150jährigen Geschichte des Unternehmens ist es schade, dass das zusammenführende Fazit nicht stärker herausgestellt wird und diesem wichtigen Teil der Studie nicht ein eigener Abschnitt zugestanden wird. Dies ist jedoch die einzige Kritik, die an dieser außerordentlichen Studie über die außergewöhnliche Geschichte eines deutschen Unternehmens zu äußern ist. Besonders hoch anzurechnen ist Ulrike Schulz, dass sie die spärlich vorhandenen Fallstudien zur Entwicklung ostdeutscher Unternehmen ergänzt.
Juliane Czierpka