Volker Stalmann: Paul Hirsch 1868-1940. Sozialdemokratischer Kommunalexperte, Bürgermeister und Ministerpräsident in Preußen (= Historische Demokratieforschung; Bd. 24), Berlin: Metropol 2023, 430 S., ISBN 978-3-86331-724-9, EUR 26,00
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Aufbruch und Abgründe ist das 2021 erschienene Handbuch der Weimarer Republik [1] betitelt, und unter dieser Überschrift könnte auch das Leben des Berliner SPD-Politikers, Ministerpräsidenten des Freistaats Preußen und Zweiten Bürgermeisters von Charlottenburg sowie Dortmund Paul Hirsch stehen. Volker Stalmann, der bereits mehrfach zur Weimarer Zeit publiziert hat, legt in der verdienstvollen Reihe "Historische Demokratieforschung" eine weitere Biographie eines republikanischen Politikers vor.
Bei nur wenigen Selbstzeugnissen Hirschs nutzt Stalmann für ein detailliertes politisches Porträt Hirschs Nachlass-Splitter im Leo Baeck Institute und die biographische Sammlung über ihn im Berliner Jüdischen Museum, zudem ein Dutzend weiterer Nachlässe sozialdemokratischer Politiker in Archiven sowie zahlreiche Presse-Artikel in rund 50 Zeitungen/Zeitschriften. Zur ausgewerteten Quellenbasis gehören nicht zuletzt über 40 publizistische Arbeiten Hirschs bis hin zu dessen Memoiren "Der Weg der Sozialdemokratie zur Macht in Preußen" von 1929.
Erklärtes Ziel Stalmanns ist es, das zeitgenössisch wie historiographisch vorherrschende Bild eines führungsschwachen, wenig durchsetzungsfähigen Politikers zu korrigieren (14f.). Die großen jüngeren Debatten um Revision der Perspektive vom Ende her und um Weimar als ambivalente Phase der Demokratie-Geschichte werden nicht näher thematisiert.
Paul Hirsch, Spross einer jüdischen Kaufmannsfamilie und von Bildungsstreben geprägt, begann in Berlin ein Medizin-Studium und traf im Kreis um den Physiker Leo Arons mit Sozialdemokraten zusammen (24f.). Er war durchgängig pragmatischer Reformist mit kommunal- und sozialpolitischen Schwerpunkten. Nach wenigen Jahren galt er als einer der führenden Kommunalexperten der SPD und publizierte zu Fragen wie Wohnungsbau, Kommunalwahlrecht auch für Frauen und gemeindlicher Steuerpolitik. 1908 errang Hirsch unter dem Dreiklassenwahlrecht ein Landtagsmandat und versuchte als Vorsitzender der kleinen SPD-Fraktion (1913: 10 Männer) die Spaltung der in der Weltkriegszeit auseinanderstrebenden Parteiflügel zu vermeiden.
Ab 12. November 1918 amtierte Hirsch (SPD) mit Heinrich Ströbel (USPD) als gleichberechtigter Vorsitzende des ersten postrevolutionären Kabinetts. Seine Mittlerstellung wiederholte sich bei den ständigen Kontroversen zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien sowie gegenüber den Arbeiter- und Soldatenräten. Den geläufigen Vorwurf mangelnder Republikanisierung und Demokratisierung weist Stalmann mit Verweis auf den durch Nachkriegsnotwendigkeiten, Mangel an sozialdemokratischem Fachpersonal (Juristen), Rücksichten auf die bürgerlichen Koalitionspartner, Bolschewismus-Furcht und Anti-Chaos-Reflex eingeengten Handlungsspielraum zurück (196f.). Grundlegendes gelang der Regierung Hirsch 1919/20 indes: Gleiches Wahlrecht auch für Frauen auf allen Ebenen, allgemeine Grundschule, Bewahrung der Einheit Preußens bei gestärkten Selbstverwaltungsrechten für Provinzen bzw. Kommunen, vorbildliche Staatsverfassung, Groß-Berlin-Gesetz 1920, Liberalisierungen im Koalitions- und Vereinsrecht.
Persönliche, antisemitische Anfeindungen - selbst Ernst Troeltsch schrieb 1919, im "'Palast des Staatsministeriums'" hause "'ein kleiner jüdischer Journalist'" (248) - begannen früh. Hirsch sei keine Führungskraft, sondern überlasse lethargisch das meiste den Ressortministern und kommuniziere ungenügend, lauteten Vorwürfe selbst von Parteigenossen. Beim Kapp-Lüttwitz-Putsch Mitte März 1920 machte Hirsch keine Kompromisse, aber galt als kompromittiert. Die SPD-Landtagsfraktion nominierte Otto Braun zum Ministerpräsidenten.
Hirsch blieb Landtagsabgeordneter, wurde kurzzeitig parlamentarischer Staatssekretär im preußischen Wohlfahrtsministerium, aber wechselte dann als stellvertretender Bürgermeister in den Magistrat seines Wohnorts Charlottenburg. Daneben arbeitete er maßgeblich an den kommunal- und wohnungspolitischen Teilen des Görlitzer Parteiprogramms der SPD mit. Von den bürgerlichen Parteien strikt abgelehnt, wählte eine knappe Mehrheit aus SPD, KPD und DDP Hirsch 1925 zum 2. Bürgermeister von Dortmund. In seinen Aufgabengebieten erreichte Hirsch einiges: Eingemeindungen, Etablierung wissenschaftlicher Institute in Dortmund, darunter das spätere Institut für Zeitungsforschung, Finanzierung der städtischen Bühnen für Gastspiele berühmter Künstler. Die Gründung einer Technischen Hochschule in Dortmund gelang nicht.
Die übliche Vorgehensweise der Rechten gegen (sozial-)demokratische Politiker traf auch Hirsch im Rahmen von Barmat- und Sklarek-Skandal: angebliche persönliche Vorteilnahme, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Bonzen-Kumpanei. Allerdings nahm Hirsch unvorsichtigerweise etliche 1000 Mark der Firma Sklarek an, verwandte diese aber auf soziale Zwecke; Ermittlungen 1929/30 erbrachten keine strafrechtlich relevanten Tatbestände (363f.).
In gewisser Parallele zu Ministerpräsident Otto Braun, der nach den Landtagswahlen 1932 erschöpft innerlich resignierte, beantragte der 64jährige Hirsch im September 1932 seine Pensionierung als Dortmunder Bürgermeister wegen Krankheit. Mit dem "Berufsbeamtengesetz" vom April 1933 begann die Verfolgungszeit für Hirsch: Kürzung der Pension, Nichtzahlung der vereinbarten Kaufsumme für seine Bibliothek, öffentliche Schmähung des "Juden Hirsch" im "Stürmer", Kontosperrung. Der jahrzehntelang konfessionslose Hirsch trat wieder in die jüdische Gemeinde Berlin ein.
Hirschs Leben endete im August 1940 in einem so genannten Judenhaus in Armut und Hoffnungslosigkeit. Er entging so der Deportation in die Todeslager, vor der seine Ehefrau im Folgejahr den Suizid wählte. Hirschs Schwester und zwei Brüder seiner Frau wurden ermordet. Sein Bruder und seine zwei Töchter konnten 1936/1938 nach Südamerika, dann in die USA fliehen, wo seine jüngste Tochter 2011 mit 101 Jahren starb.
Stalmann resümiert, Paul Hirsch sei in mehrfacher Hinsicht typisch gewesen: Als jüdischer Bildungsbürger im Kaiserreich, als pragmatischer Reformist in der SPD, als sachbezogener Kommunalpolitiker, als Protagonist für Integration und Kompromiss. Der erste und einzige jüdische Ministerpräsident Preußens und Bürgermeister Dortmunds bis heute habe sich große Verdienste um ein demokratischer und sozialer gestaltetes Preußen, Berlin und Dortmund erworben (396). Die Neubewertung von Hirschs Wirken findet der Rezensent überzeugend.
Stalmanns Schreibstil ist sehr konkret und ungemein nüchtern, selbst an den Stellen, wo sich der Rezensent etwas mehr Emphase vorstellen kann. Wenige Monita sind zu benennen: Es muss Prinz-Albrecht-Straße heißen (207) und Quadratkilometer werden mit Hektar verwechselt (343). Zum regionalistischen so genannten Separatismus (183f.) fehlt abgewogene neuere Literatur [2]; der Preußische Staatsrat kommt (281f.) etwas kurz. [3]
Stalmanns Band verdient die Aufnahme in die nächste Auflage des Oldenbourg Grundriss der Geschichte "Weimarer Republik" [4] unter den dort aufgelisteten Biographien, - genauso wie die dort fehlenden (jüngsten) Lebensbilder zu Matthias Erzberger, Bernhard Falk, Adolf Grimme, Hermann Höpker Aschoff, Otto Klepper, Georg Ledebour, Robert Leinert, Hermann Müller, Felix Porsch, Kurt von Schleicher, Otto Schmidt-Hannover und Heinrich Ströbel.
Anmerkungen:
[1] Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hrsg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021. Hirsch wird auf Seite 656 genannt.
[2] Martin Schlemmer: "Los von Berlin". Die Rheinstaatsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, Köln 2007 und Ders.: Rheinland, Westfalen im neuen Preußen der Weimarer Republik (1919-1932), in: Georg Mölich / Veit Veltzke / Bernd Walter (Hrsg.): Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, 289-352. Guido Hitze: Carl Ulitzka (1873-1953). Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, 165ff.
[3] Zum Staatsrat vgl. bereits Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, Düsseldorf 1985, 151-160; Klaas Michel: Der Staatsrat als Vertretungsorgan der Provinzen?, Neuried 1998; Heinz-Dieter Bayer: Der Staatsrat des Freistaates Preußen, Berlin 1992.
[4] Eberhard Kolb / Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 9. Aufl., München 2022, Biographien-Auflistung 362-368.
Hartwin Spenkuch