Andreas Höfele / Beate Kellner (Hgg.): Naturkatastrophen. Deutungsmuster vom Altertum bis in die Neuzeit, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2023, 387 S., 22 Farb-, 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6742-3, EUR 99,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
(Natur-)Katastrophen sind seit rund einem Vierteljahrhundert zu einem wichtigen Forschungsobjekt in den Geistes- und Sozialwissenschaften geworden, zumal diese "Umwälzungen", um den griechischen Terminus wortwörtlich zu nehmen, oft wesentliche Impulse für den zukünftigen Umgang mit diesem oder ähnlichen Ereignissen mit sich brachten. Der Umstand, dass der Begriff "Katastrophe" ursprünglich der antiken Dramentheorie entstammt, im Sinne von einem - modern gesprochen - "tipping point" der Handlung einer griechischen Tragödie, macht zudem deutlich, dass Untersuchungen zum Wesen von (Natur-)Katastrophen vorrangig geistes- und kulturwissenschaftliche Ansätzen erfordern. Die Einbeziehung unterschiedlicher Zugänge von der Theologie über die Literatur- und Kunstwissenschaften bis hin zur Umweltgeschichte ermöglicht es, die vielfältigen Wahrnehmungs- und Deutungsebenen, die hin zu einem "Katastrophenerlebnis" führen, zu erfassen. Es sind interdisziplinär zusammengesetzte Puzzleteile, die mehr und mehr ein Gesamtbild ermöglichen. In dieser Hinsicht macht es auch Sinn, weiterhin auf das Publikationsmedium des Sammelbandes zu setzen, obwohl die Liste solcher Publikationen mittlerweile relativ lang ist. [1]
Der von Andreas Höfele und Beate Kellner herausgegebene Sammelband stellt Ergebnisse aus der DFG-Forschungsgruppe "Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike - Mittelalter - Frühe Neuzeit" (2013-2019) [2] an der Ludwig-Maximilians-Universität München dar und baut auf den Beiträgen zu einer Tagung in Ettal im Oktober 2019 auf. Wie die beiden Herausgeber:innen in ihrer Einleitung hervorstreichen, stand in der Forschungsgruppe "die grundlegende Ambivalenz, die das Verhältnis von Natur und Ordnung von den Kulturen des Alten Orients bis zur Frühen Neuzeit und darüber hinaus kennzeichnet" (8), im Zentrum. Zum einen diene "Natur als Modell und Berufungsinstanz zur Legitimierung und Autorisierung gesellschaftlich-politischer Ordnung, zum anderen aber auch als Gegenbild und Gegenkraft zivilisatorischen Strebens, als das wilde Andere der Ordnung, dem diese immer erst abgerungen werden muss und von dem sie latent bedroht bleibt" (ebd.). Zwar zeige sich Natur "als Chaos, dessen destruktiver Übermacht keine Ordnung gewachsen" sei, doch werde "selbst noch dieser Zusammenbruch der Ordnung in Ordnungszusammenhänge eingeschrieben", etwa als göttliches Strafgericht (ebd.).
Die insgesamt 15 Beiträge spannen in diesem Sinn einen weiten Bogen vom sumerischen Gilgameschepos und dem biblischen Sintflutbericht bis hin zur Verarbeitung des Erdbebens von Lissabon in der zeitgenössischen literarischen Publizistik. Es würde den Rahmen sprengen, auf alle Beiträge einzeln im Detail einzugehen, doch lassen sich einige thematische Schwerpunkte zusammenfassen. Die Sintflut als "Urmythos einer Naturkatastrophe" zieht sich als Thema durch eine Reihe von Beiträgen sowohl zur antiken Religionsgeschichte als auch zur Wirkungsgeschichte. So zeigt Christoph Levin in "Die unendliche Endkatastrophe" (17-38) auf, wie im Alten Testament Gott zwar zum einen die Katastrophe zur Bestrafung der Menschen herbeiführt, danach aber wieder zum Garanten der neuen Ordnung wird. Diese laufe jedoch in den prophetisch und apokalyptisch ausgerichteten Passagen des Alten Testaments wieder auf eine Endkatastrophe, das Jüngste Gericht, hin. Der Wirkmächtigkeit der Sintfluterzählung in der christlichen Tradition widmet sich der Beitrag von Wilhelm Schmidt-Biggemann ("Die Sintflut als Naturkatastrophe schlechthin", 39-64), der einen Bogen von Augustinus über Hugo von Sankt Viktor bis hin zu neuzeitlichen Traktaten spannt, etwa dem vierbändigen enzyklopädischen Genesis-Kommentar des spanischen Jesuiten Benito Pereira (1552-1610) oder Thomas Burnets Telluris Theoria Sacra (1691), eine kosmologisch-geologische Schrift, die später dem britischen Geologen Charles Lyell in seinen Principles of Geology (1830-1833) als "Reibefläche" bzw. Musterbeispiel einer überholten Wissenschaft diente. Der Sintflutmythos findet aber schon in der altbabylonischen Tradition Erwähnung, nicht nur im weithin bekannten Gilgamesch-Epos, wie Enrique Jiménez aufzeigt. Aus einer Langzeitperspektive heraus stellt er fest, dass neben der Sintflutthematik immer mehr der babylonische Stadtgott Marduk in den Vordergrund rückte, der sich die Macht über die Winde sichert und damit auch die Sintflut zu beherrschen vermag.
Auch andere biblische Katastrophen konnten bis in die Neuzeit eine Wirkmächtigkeit erlangen. Dazu gehört etwa der Untergang der Städte Sodom und Gomorrha, der zu einem häufig gewählten Motiv in der niederländisch-flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts wurde. Christine Göttler analysiert in ihrem reich illustrierten Beitrag "Die Katastrophe in der Galerie" (235-265) eine gut gewählte Auswahl von einschlägigen Gemälden. Bemerkenswert ist dabei etwa Kerstiaen de Keunincks Ölgemälde "Die Flucht von Lot und seiner Familie aus dem brennenden Sodom" (nach 1620, Kortrijk: Stedelijke Musea). Die Szenerie wird an eine Küstenlandschaft verlegt und im Hafen brennen Handelsschiffe. Assoziationen mit der reichen (sündhaften) Stadt Antwerpen lagen wohl auf der Hand, zumal dort 1576 das Rathaus in Flammen aufgegangen war.
Etwas kritisch zu hinterfragen ist freilich, ob diese im Band betonte Ambivalenz von Natur und Ordnung nicht vor allem ein Kennzeichen europäischer, mediterraner bzw. vorderasiatischer Kulturen sei. Es würde daher lohnen, die Ergebnisse dieses Tagungsbandes mit Beispielen aus anderen Kulturkreisen, die diese Dichotomie von Natur und Kultur/Ordnung nicht kannten, zu vergleichen. In jedem Fall vereint der Tagungsband ein breites Spektrum unterschiedlicher Zugänge und Beispiele, von denen manche schon häufig in der Forschung diskutiert wurden - etwa die Sintflut, aber auch die neuzeitlichen Beispiele vom Bergsturz in Piuro 1618 oder vom Erdbeben in Lissabon 1755 -, andere hingegen noch selten. Auch mit der Thematik vertraute Forschende werden somit zahlreiche neue Impulse aus der Lektüre mitnehmen können.
Anmerkungen:
[1] Um nur einige Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen: Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern 2002; Dieter Groh / Michael Kempe / Franz Mauelshagen (Hgg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003 (Literatur und Anthropologie; 13); Carla Meyer / Katja Patzel-Mattern / Gerrit Jasper Schenk (Hgg.): Krisengeschichte(n). "Krise" als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013 (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Beihefte 210); Gerrit Jasper Schenk / Monica Juneja / Ernst Wieczorek / Christoph Lind (Hgg.): Mensch.Natur.Katastrophe. Von Atlantis bis heute. Begleitband zur Sonderausstellung im Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim, Regensburg 2014 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen; 62); Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Historical disaster experiences. Towards a comparative and transcultural history of disasters across Asia and Europe, Cham 2017 (Transcultural Research. Heidelberg Studies on Asia and Europe in a Global Context); Benjamin Scheller (Hg.): Kulturen des Risikos im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin / Boston 2019 (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 99); sowie zahlreiche Special Issues von Fachzeitschriften.
[2] Weiterer Sammelband mit Ergebnissen aus diesem Forschungscluster: Andreas Höfele / Beate Kellner (Hgg.): Natur in politischen Ordnungsentwürfen der Vormoderne, Paderborn 2018.
Christian Rohr