Andreas Höfele / Beate Kellner (Hgg.): Natur in politischen Ordnungsentwürfen der Vormoderne, München: Wilhelm Fink 2018, 228 S., 5 Farb-, 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6313-5, EUR 59,00
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Dass die "Natur", so umstritten der Begriff bis heute ist, seit der Antike in politischen Ordnungsentwürfen eine herausragende Rolle spielte, lässt sich bereits am Beispiel der aristotelischen Ethik demonstrieren. Allein die Natur kann den Menschen, so ein Grundsatz der Stoiker, zur "aufrechten Vernunft" (ὀρθóς λόγος) anleiten, die sein privates wie soziales Handeln bestimmen sollte. Die berühmte Empfehlung, "nach der Natur" zu leben, setzte jedenfalls voraus, dass es naturgegebene Ordnungsmodelle für die conditio humana geben müsse. Es überrascht so vielleicht, dass der staatstheoretische Ansatz im vorliegenden Buch, das Frucht eines einschlägigen Münchner DFG-Projektes ist, etwas knapp abgehandelt wird, wie auch z.B. der von Otto Depenheuer herausgegeben Tagungsband Staat und Schönheit. Möglichkeit und Perspektiven einer Staatskalogathia (2005) in den Bibliografien unerwähnt bleibt. Dennoch erscheinen die auf den ersten Blick etwas inkohärent wirkenden Beiträge - angesichts der schwierigen Definition der "Natur" war dies nicht zu vermeiden - außerordentlich lesenswert.
Dabei bot die Natur, wie die Herausgeber in der Einleitung ausführen, aus philosophisch-historischer Sicht keinesfalls nur überzeugende, unbestrittene Idealmodelle an. Sie wurde schon früh auch als chaotische Gegenkraft gegen Norm und Ordnung verstanden (eine dritte, primär pantheistisch angehauchte, strukturell transzendentale Interpretation des Unschuldigen und bedingungslos Schützenswerten, wie sie, vor allem nördlich der Alpen, in der Tradition der Romantik von Bedeutung war, aber auch in heutigen politisch-ökologischen Kreisen eine Rolle spielt, leitete sich relativ spät aus der ersten Variante ab!). Im Namen der Natur wurden Ordnungsentwürfe scharfsinnig legitimiert wie delegitimiert. Unbestritten ist allerdings, dass der "Natur"-Diskurs bis zum 18. Jahrhundert - nicht zuletzt infolge zahlreicher wissenschaftlicher Entdeckungen und geografischer Horizonterweiterungen - an Europas Universitäten und Akademien in ungeahnter Weise präsent war. Edmund Burke sah, um nur ein Beispiel herauszugreifen, noch zur Zeit der Französischen Revolution den Grund, warum die englische gegenüber der französischen Monarchie überlebt hatte, in deren Strukturierung "nach dem Muster der Natur". Im christlichen Umfeld stellte man das "Buch der Natur" als "Spiegel der Schöpfung" den biblischen Schriften gleich. Beide schienen göttlich inspiriert, ihre Modell- und Vorbildfunktion deshalb einzigartig. Naturgeschichte und Naturphilosophie blieben so lange Zeit (so noch bei Newton und Kepler) theologisch akzentuiert.
In seiner Analyse einer im Mittelalter berühmten, die Wurzel Jesse beschreibenden Jesaia-Passage (Jes. 11,1-9) demonstriert Hugh G. M. Williamson, wie im altisraelitischen Kontext mithilfe aus der Natur entliehener Bilder die Rolle Gottes und, mittels einfacher bukolischer Motive, sogar die Utopie einer Friedensgesellschaft erläutert wurden. Die Naturpoesie reflektiert hier die göttliche Ordnung, welche auch die weltliche bestimmt. Die enge Analogie von göttlicher Schöpfung und menschlicher Normsetzung - nicht nur in der Gesetzgebung - steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Dominic J. O'Meara, der neuplatonische Autoren der Spätantike zu Wort kommen lässt. Sie beziehen sich auf Platons Dialog Timaios, wonach der göttliche Demiurg die Welt nach mathematischen Gesetzen geschaffen hat, welche für die Natur bindend blieben (Tim. 83e4-5). Die natürliche Welt erscheint als unbestrittenes, von Gott präsentiertes Vorbild irdischer Ordnungen. Der Autor vergleicht Interpretationen Plotins († 270 n.Chr.) mit Vorstellungen von Proklos († 485 n.Chr.), der allerdings eine punktuelle Schaffung der Welt leugnet und davon ausgeht, dass der Demiurg die "Gesetze der Natur" direkt in die menschlichen Seelen schreibt.
Jill Man zeigt am Beispiel des im 14. Jahrhundert in England entstandenen allegorischen Gedichtes Piers Plowman, wie die Beziehung von "Natur, Gott und menschlicher Gesellschaft" literarisch veranschaulicht wurde. Das "natürliche Wissen" ("kynde knowying" bzw. "kynde wit"), das zur Richtschnur wird, erwirbt man primär durch Sinneserfahrung. Es mahnt den Menschen, den Alltag pflichtbewusst, aber auch maßvoll zu gestalten - der vita activa steht dabei komplementär die vita contemplativa zur Seite. Eine Art "natürliche Moral" beruht auf der lakonischen (britischen?) Einsicht "do as you would be done by". Die von ihr abgeleitete "natürliche Vernunft" fordert auch Respekt Tieren und Pflanzen, ja der ganzen natura naturans gegenüber, die letztlich mit dem Schöpfergott verschmilzt.
Romedio Schmitz-Esser zeigt, wie der Leichnam prominenter Persönlichkeiten als letztlich "natürlichster Teil" ihrer (dank äußerer Rituale oft sehr komplex erscheinenden) Existenz zur Schau gestellt wurde. Die aufwendige, oft wochenlange Präsentation war dabei nicht nur von der Absicht bestimmt, viele Menschen Abschied nehmen zu lassen. Sie diente ebenso der Stabilisierung des durch den Herrschertod potentiell gefährdeten Herrschaftssystems. Wichtig war der "Besuch" bestimmter Würdenträger und Verwandter, vor allem natürlich derer, die als potentielle Nachfolger in Frage kamen. Weite Transporte zu dynastisch bestimmten Bestattungsorten unterstützten die "natürlichen" Ansprüche etwa von Söhnen oder Brüdern des Verstorbenen. Die Zerstörung bzw. das Verschwinden der Leiche konnte entsprechend das Gegenteil bewirken. Der tote Kaiser, König, Papst oder Bischof stellte ein geradezu metaphysisch erhöhtes Faszinosum dar, das bewusst inszeniert wurde und beachtliche Emotionen weckte.
Das Verhältnis zwischen Herrschern und Untertanen als Spiegelbild der Liebe Gottes zu den Menschen, der "natürlichen Urliebe", fokussiert der Beitrag von Helen Watanabe-O'Kelly. Unzählige Male wurde das Vertrauen, das der Gläubige zu Gott entwickelt, im höfischen Zeremoniell auch weltlichen Regenten gegenüber eingefordert. Nicht nur Maria Theresia kultivierte bewusst die Rolle als Mutter ihrer Völker. Nach außen demonstrierte "private" bzw. "natürliche" Gefühle erschienen nicht zuletzt als Garanten politischer Moral. Emotionale Ereignisse wie Hochzeiten oder die Trennung der Braut von ihrer alten Familie wurden ergreifend inszeniert. Tragische Ereignisse, etwa Todesfälle von Kindern, scheinen der Beliebtheit von Prinzessinnen bzw. Fürstinnen förderlich gewesen zu sein. Allerdings durfte die "natürliche" Emotion nicht übertrieben werden. Verzweiflung zu zeigen widersprach jeder adligen Etikette, hätte die mit ihr verbundene Unkontrolliertheit doch Zweifel an der souveränen Entscheidungsfähigkeit in politisch schwierigen Situationen nahelegen können.
Margarete Zimmermann untersucht naturphilosophische Gedanken im Werk der französischen Dichterin Christine de Pizan. Der Naturbegriff erscheint in deren Œuvre freilich alles andere als einheitlich. Wichtig ist, dass die in Italien geborene Autorin der Astrologie bzw. Astronomie - die Begriffe verschwimmen im 14. Jahrhundert - große Bedeutung beimaß. Die Konstellation der Sterne beeinflusst das politische wie private Handeln. Die in jüngster Zeit auch als feministische Vorkämpferin gefeierte Literatin beschwor im Übrigen das Bild einer natura artifex, die schöpferisch dem Chaos entgegensteht, aber auch der Natur als weiblich-mütterlicher Kraft, die nicht zuletzt moralische bzw. geistige Strömungen der Gesellschaft beeinflussen kann.
Michael Stolleis analysiert aus rechtshistorischer Perspektive die Begriffe Naturrecht und Naturgesetz, die im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder hinterfragt wurden. Im Rahmen der Trias ius divinum, ius naturale und lex humana (positiva) kristallisierte sich die Vorstellung eines universal gültigen Rechts heraus. Der Einfluss der großen Naturforscher (Kopernikus, Tyho Brahe, Galilei, Kepler), aber auch bahnbrechende Entdeckungsreisen legten den Gedanken nahe, dass das "natürliche" Recht alle Menschen gleichstellen müsse. Wahre Gerechtigkeit war nicht nur nach Hugo Grotius universell. Sie schien zudem, wie das "Buch der Natur", aus der man sie ableitete, "in mathematischer Sprache geschrieben", also unbestechlich, ein Gedanke, der auf Juristen "eine enorme Sogwirkung" (Stolleis) ausübte. Die Frage lag nahe: Ließ sich die Sicherheit der Naturgesetze nicht auf die soziale Welt übertragen? Ein solches "mathematisches Recht" erschien auf faszinierende Weise unangreifbar.
Eine verwandte Thematik berührt Oliver Bach in seiner Untersuchung utopischer Gesellschaften, wobei besonders Inseln (im 16. und 17. Jahrhundert zweifellos ein Modethema) fokussiert werden. Schienen sie "natürlicherweise" demjenigen zu gehören, der sie als erster betrat oder dem, dessen Territorium ihnen am nächsten lag, oder doch, wie Bartolus di Sassoferrata im 14. Jahrhundert gelehrt hatte, dem Kaiser als "Herrn aller Dinge"? Welche Legitimation hatte hier zudem der Papst, der bekanntlich im Vertrag von Tordesillas (1493) die Grenze der spanischen und portugiesischen Territorien "auf den Inseln" (womit Amerika gemeint war) festlegte? Der Autor zeigt, wie die traditionelle Naturrechtslehre zu versagen schien. So verlockend es war, utopische Entwürfe idealer Gesellschaften zu kreieren - es galt nun, mehrere offensichtlich gleichrangige Rechtssysteme in die Praxis zu integrieren.
Neil Forsyth analysiert den Begriff der Natur in John Miltons Lost Paradise. Zwar bedeutet der Garten Eden zunächst einmal das Gegenteil von Sünde, doch wurde der Teufel, der diese hier bekanntlich einführte, gerade durch dessen unschuldige Natur angelockt. Nach Milton besteht eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Paradies und Chaos, aus dem die Welt geschaffen wurde und dessen Spuren in den Erscheinungsformen der primär unschuldigen Natur vielfach sichtbar werden. So erklärt sich auch der stets präsente Gegensatz von Gut und Böse, von Leben und Tod im menschlichen Alltag. Die Paradiesszenen verraten eine enorme Ambivalenz, die auch der berühmte Baum der Erkenntnis verkörperte. Das Zerstörerische der Versprechungen Satans Eva gegenüber besteht darin, dass er eine völlig materielle Natur favorisiert, die den "natürlichen", von Gott gewollten Idealwelten radikal entgegensteht.
Mariacarla Gadebusch Bondio präsentiert als Medizinhistorikerin Wissenschafts- und Therapiekonzepte des in der Schweiz wirkenden Arztes Fabricius Hildanus (1573-1638) sowie weiterer medizinischer Autoren der Frühen Neuzeit. Die Anatomie erscheint im 16. und 17. Jahrhundert als ideale Wissenschaft, um Gottes Schöpfungswerk zu begreifen. Aufgabe des Arztes ist es, wie es schon der Chirurg Ambroise Paré gefordert hatte, die bis dato bekannten Heilungsmöglichkeiten secundum naturam mit technischen Mitteln sowie durch neue Erkenntnisse, was eben diese Natur betraf, zu übertreffen. Heilkunst und Staatskunst bedienen sich, wie der Humanist Johannes Rheterius betont, letztlich derselben wissenschaftlichen Methode.
Schließlich untersucht Oliver Marchart das Bild der Welle als Metapher politischer Bewegungen der Gegenwart. Filme und soziologisch-philosophische Stimmen vermitteln dem Autor zufolge zunehmend den Eindruck, die Gesellschaft sei in Gefahr, grundsätzlich in der Masse aufzugehen. Deren Tücke wird u.a. an Grundthesen Elias Canettis gezeigt. Nicht ohne Grund leite sich das Wort "Meute" etymologisch vom mittellateinischen "movita" (Bewegung) ab! Populisten sowie Kulturpessimisten von rechts bis links sehen in der Masse schlicht ein Schreckgespenst. Zeitlich und thematisch fällt dieser gesellschaftstheoretische Beitrag zweifellos etwas aus dem Rahmen. Hier wäre wohl ein tieferes Eintauchen in die positivistischen bzw. naturalistischen Theorien des 19. Jahrhunderts förderlich gewesen (Le Bon u.a.), die auch manches bedenkliche Phänomen der Gegenwartspolitik erklären könnten.
Der Band enthält sehr interessante und informative Beiträge, die ihren Beitrag leisten werden, die durchaus schillernde und ambivalente Rolle des Modells der Natur im Lauf ihrer Geschichte weiter aufzuhellen.
Klaus Bergdolt