Moritz Föllmer / Pamela E. Swett (eds.): Reshaping Capitalism in Weimar and Nazi Germany (= Publications of the German Historical Institute), Washington DC: German Historical Institute Washington DC 2022, 316 S., ISBN 978-1-108-83354-7, EUR 75,00
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Pamela E. Swett: Neighbors and Enemies. The Culture of Radicalism in Berlin, 1929-1933, Cambridge: Cambridge University Press 2004
Die deutsche Wirtschaft der Zwischenkriegszeit stand schon vielfach im Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, etwa um den Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären. Dabei schien der Untergang der Weimarer Wirtschaft angesichts des anhaltenden Schocks des Ersten Weltkriegs, der Inflation und der langjährigen Reparationsproblematik vielfach vorgezeichnet, obschon ihre Leistungsfähigkeit am Vorabend der Weltwirtschaftskrise durchaus beachtlich war. Mindestens ebenso großes Forschungsinteresse fand die Frage, ob im Nationalsozialismus die Grundelemente einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung fortbestanden und inwiefern Zwang und Repression die Handlungsspielräume der ökonomischen Akteure einschränkten. Der von Moritz Föllmer und Pamela E. Swett herausgegebene Sammelband knüpft an diese Debatten an und geht in zweifacher Weise darüber hinaus, indem erstens Entwicklungen über das Epochenjahr 1933 hinweg analysiert werden und zweitens kulturelle Aspekte kapitalistischen Wirtschaftens größere Berücksichtigung finden.
Ausgehend von den Überlegungen von Jens Beckert und Jonathan Levy über die fiktionalen Erwartungen des Kapitalismus nehmen die Herausgeber an, dass Krisen und Zukunftsvorstellungen eine hohe Bedeutung für die Umgestaltung des Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit hatten. [1] Neben quantitativen Studien müssten die Verbindungen zwischen ökonomischen, sozialen und kulturellen Aspekten stärker herausgestellt werden, um den Wandel des Kapitalismus zu verstehen. Föllmer und Swett zielen auf ökonomische Praktiken, Diskurse und Repräsentationen sowie auf individuelle und kollektive Akteure. Dabei machen sie vier Spannungslinien aus, die den deutschen Kapitalismus zwischen 1918 und 1945 kennzeichneten: Erstens verbreiteten sich kapitalistische Praktiken und Vorstellungen in der gesamten Gesellschaft. So blieb die Ausnutzung finanzieller Vorteile keineswegs auf eine kleine Gruppe von Spekulanten begrenzt, gleichzeitig nahm jedoch die Kritik am Kapitalismus deutlich zu. Zweitens bestand eine Spannung zwischen Konzentrations-, Bürokratisierungs- und Organisationstendenzen im Kapitalismus und der Erfahrung einer verblüffenden, nicht immer planbaren Komplexität ökonomischer Zusammenhänge. Drittens prägte ein starker Gegensatz von Staatsinterventionen und Marktdynamiken den deutschen Kapitalismus der Zwischenkriegszeit, und viertens existierte ein Spannungsverhältnis zwischen einem nationalen Rahmen, in dem über den Kapitalismus und seine Einhegung debattiert wurde, und den transnationalen Verflechtungen der deutschen Wirtschaft. Diese vier Spannungslinien schufen einen Raum, in dem viele Deutsche den Kapitalismus kritisierten und nach seiner Einhegung durch den Staat riefen, während andere seinen marktwirtschaftlichen und transnationalen Charakter akzeptierten - und manchmal fanden sich diese gegensätzlichen Positionen auch in einer Person oder Gruppe wieder. Zweifellos wurde der Aufstieg des Nationalsozialismus dadurch begünstigt, dass er gerade versprach, ebenjene Spannungen des Kapitalismus aufzulösen.
Den ersten Block "Debating Capitalism" eröffnet Moritz Föllmer mit einem Beitrag über zeitgenössische Vorstellungen zur Reform und zur Überwindung des Kapitalismus. Er weist darauf hin, dass viele Kommunisten in den 1920er Jahren die Zeit für eine Revolution gekommen sahen, wohingegen die meisten Arbeiter in den ökonomischen und sozialen Strukturen des kapitalistischen Systems verharrten. Auch Liberale äußerten mit Blick auf Konzentrationstendenzen und staatliche Interventionen Kritik am Wirtschaftssystem. Allerdings wurden diese Stimmen aus unterschiedlichen politischen Richtungen nicht zusammengeführt, und so lebte der Kapitalismus fort, auch weil viele Individuen - vom kleinen Straßenhändler bis zum Großindustriellen - Nutzen aus ihm zogen. Wie Föllmer untersucht auch Martin Geyer eine Schlüsselkomponente des antikapitalistischen Diskurses, indem er Ausprägungen des politischen Kapitalismus in den Mittelpunkt rückt. Mit dem Ersten Weltkrieg vergrößerten sich die Schnittmengen zwischen der politischen und der ökonomischen Sphäre. Rohstoffbewirtschaftung, Rüstungsaufträge oder das Hilfsdienstgesetz führten dies eindrücklich vor Augen. Die Frage, wer an den Schalthebeln des kapitalistischen Systems sitze - der Staat oder die Wirtschaft -, wird auch von Kim Priemel aufgegriffen, der in überzeugender Weise darlegt, wie sich ökonomisch versierte Juristen angesichts der steigenden Macht von Kartellen und Trusts darum bemühten, die Machtverteilung zugunsten des Staates umzukehren und den Wettbewerb zu fördern. Nicht zuletzt wirkten sich jene Vorstellungen der Zwischenkriegszeit auf das bundesdeutsche Wirtschaftsmodell aus, in dem Kartelle verboten wurden.
Im zweiten Block "Concealing Capitalism" untersuchen Simone Derix, Tim Schanetzky und Dorothee Wierling das Verhalten kapitalistischer Akteure, insbesondere von Personen mit großem Vermögen, und ihre Bestrebungen, ihren Reichtum zu verbergen. In diesem Kontext plädiert Derix dafür, die weniger sichtbaren Merkmale des Kapitalismus stärker als bisher zu beleuchten. Am Beispiel der Industriellenfamilie Thyssen zeigt sie, wie es dem Familienclan über Mittelsmänner und das Überschreiten nationaler Grenzen gelang, seinen Reichtum zu verstecken. Auch Schanetzkys Vergleich der beiden Industriellen Henry Kaiser und Friedrich Flick demonstriert, wie sehr Flick um sein Ansehen bedacht war. Nach öffentlicher Kritik, Flick sei ein kapitalistischer Spekulant, versuchte er, sein Privatleben und seine Geschäfte aus Zeitungen herauszuhalten. Dabei zeigte er sich hinter verschlossenen Türen bereit, mit dem NS-Regime zu kooperieren. Beide Unternehmer nutzten die Umstände der staatlichen Rüstungswirtschaft zum eigenen Vorteil, während sie ihre kapitalistische Attitüde geschickt durch semantische Strategien verbargen.
Der dritte Teil "Promoting Capitalism" untersucht die gegenläufige Perspektive und liefert Beispiele für Akteure, die sich gegen die Einschränkung marktwirtschaftlichen Handelns wandten. So beleuchtet Sina Fabian die Strategien von Bierbrauern in der Weimarer Republik, die sich gegen Darstellungen von Bier als ungesundem Getränk wehrten. Während Brauereien, Kneipen und Biertrinker von vielen als Ausdruck des moralischen Versagens des Kapitalismus angesehen wurden, bemühte sich die Brauindustrie um eine wissenschaftliche Verteidigung des Bierkonsums und verwies neben der kulturellen Tradition auf die ökonomische Bedeutung der Branche in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Auch Molly Lobergs Beitrag über Eigentumsdelikte und staatliche Entschädigungen auf Basis des Tumultgesetzes verweist auf das Anliegen, die geschäftlichen Entfaltungsmöglichkeiten zu erhalten und notfalls durch den Staat sichern zu lassen. Gleichzeitig waren kapitalistische Akteure in der Zwischenkriegszeit bestrebt, das Konsumentenverhalten besser zu verstehen. Die von Jan Logemann nachgezeichnete, wachsende Gruppe neuer Marketingexperten zielte darauf, bestehende Konsumwünsche zu identifizieren, neue Bedürfnisse zu kreieren und Konsumverhalten vorherzusagen.
Die beiden Beiträge im vierten Abschnitt "Racializing Capitalism" von Alexa Stiller und Pamela E. Swett schließen an die Diskussion über den Charakter des NS-Wirtschaftssystems an und zeigen anhand von Fallstudien, dass Kernelemente einer Marktwirtschaft im Nationalsozialismus erhalten blieben, auch wenn rassistische Vorstellungen Einzug hielten, Banken sich an Arisierungen beteiligten und Privatbesitz der jüdischen Bevölkerung enteignet wurde.
Nicht alle Beiträge ziehen gleichermaßen neue Quellen heran oder orientieren sich an den genannten Spannungsverhältnissen. Dies gilt insbesondere für die internationale Verflechtung der Wirtschaft, über deren Analyse die Spezifika des deutschen Kapitalismus stärker hätten nachgezeichnet werden können. Dennoch bieten die Einzelbeiträge einen anregenden Blick auf die Geschichte des Kapitalismus bis 1945 und erweitern über die Berücksichtigung kultureller Faktoren bisherige politik- und wirtschaftshistorische Sichtweisen auf die Zwischenkriegszeit. Damit tragen sie zur Erklärung bei, warum der Kapitalismus - trotz fortwährender Kritik und anhaltender Ungleichheiten - bis heute fortbesteht.
Anmerkung:
[1] Jens Beckert: Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics, Cambridge, Mass. 2016; Jonathan Levy: Capital as Process and the History of Capitalism, in: Business History Review 91.3 (2017), 483-510.
Christian Marx