Ute Frietsch: Epistemischer Wandel. Eine Geschichte der Alchemie in der Frühen Neuzeit, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2024, XI + 620 S., 25 Farb-, 73 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6783-6, EUR 124,00
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Beginnen wir mit dem Titel: Nur wenigen potentiellen Leserinnen und Lesern dürfte auf Anhieb klar sein, was mit "epistemischem Wandel" konkret gemeint ist. Der Begriff "Episteme" ist seit einigen Jahren in der Wissenschaftsphilosophie ziemlich populär und meint die Art und Weise wie Wissen an sich strukturiert ist. Bei Aristoteles bezeichnete Episteme spekulatives im Gegensatz zu logischem Denken. Dass sich die Struktur des Wissens ganz allgemein im Lauf der Zeit wandelt, ist ebenso evident wie trivial. Das - wie die nachfolgende Lektüre zeigte - sehr breit angelegt und flüssig geschriebene - Werk hätte einen besseren Titel verdient. Die Autorin hätte den Untertitel verwenden können und ihn um das Wort "Kultur" ergänzen können: "Eine Kulturgeschichte der Alchemie in der Frühen Neuzeit". Genau darum handelt es sich nämlich.
Frietsch betrachtet die Alchemie, die sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts grundlegend veränderte und heute meist als "Chymia" bezeichnet wird als wesentlichen Teil der frühneuzeitlichen Kultur in toto. Mit Chymia ist die Periode des langsamen Übergangs von der "klassischen" Alchemie zur naturwissenschaftlichen Chemie gemeint. Frietsch nimmt somit eine Position ein, die aus wissenschaftshistorischer Sicht nur zu begrüßen ist, befassen sich doch andere Darstellungen der Alchemie in dieser Epoche in der Regel thematisch viel enger lediglich mit der Alchemie selbst, ohne dem kulturellen und politischen Kontext gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Autorin gliedert ihr Buch in vier Teile. Am Beginn steht die "Alchemie als Theorie und handwerkliche Praxis". Diesen Teil mit dem Kapitel "Venedig, Byzanz und die Neue Welt" einzuleiten überrascht vielleicht, wird aber damit begründet, dass am Beginn der Frühen Neuzeit alchemische Manuskripte aus dem untergegangenen byzantinischen Reich nach Europa gelangten und hier einen tiefgreifenden Wandel im alchemischen Denken bewirkten. Die "Neue Welt" kommt insofern ins Spiel, als die europäischen Kolonisatoren den Indigenen "Rosetta-Perlen" aus Murano im Austausch gegen Edelsteine, Felle und Land anboten. In Florenz entwickelte sich am Medici-Hof eine ausgedehnte alchemische Laborpraxis, die durch die Übersetzung des "Corpus hermeticum" ins Lateinische durch Marsilio Ficino auch eine neue theoretische Ausrichtung erhielt, die prominent von Paracelsus aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Weitere Kapitel des ersten Teils behandeln u. a. die Bedeutung der neuen Druckkunst für die Verbreitung alchemischer Werke und ausführlich den Konflikt zwischen Paracelsus und der Universität Basel.
Der zweite Teil ist der "Alchemie zwischen höfischem Prunk und gelehrter Prekarität" gewidmet. Der Titel spielt darauf an, dass man sich die Alchemie leisten können musste. In praktisch allen Darstellungen der Geschichte der Alchemie spielen die mehr oder minder fanatischen Sucher nach dem Stein der Weisen, die sich damit ruinieren, eine tragende Rolle. Frietsch verzichtet dankenswerterweise auf einen weiteren Aufguss dieses alten Tees. Zunächst wird die Alchemie am Prager Kaiserhof und am Kasseler Hof von Moritz dem Gelehrten vorgestellt sowie Robert Fludds "Geschichte beider Welten" näher untersucht. Ein bisher vernachlässigtes Thema, nämlich die "Einblattdrucke fahrender Heilerinnen und Heiler" - ansonsten meist als Quacksalber bezeichnet - kommt bei ihr relativ ausführlich zur Sprache. Ein weiterer Abschnitt ist "Marie Meurdracs pragmatische(r) Chymie" gewidmet, einem Lehrbuch einer Chymikerin für eine weibliche Leserschaft, vornehmlich praktisch arbeitende Hausfrauen und Hebammen. Allerdings eignet sich Meurdracs Buch insofern nicht sehr gut als Beispiel weiblicher chymischer / alchemischer Praxis, als die Autorin sich auf pflanzliche und tierische Arzneimittel konzentriert und chemiatrischen Präparaten skeptisch gegenübersteht.
Der dritte Teil "Alchemie in der Aufklärung und zu Beginn der Moderne" behandelt zunächst die "Symbolik der Alchemie in den Planetenfesten Augusts des Starken", um dann die "Gold- und Rosenkreuzer" und Goethes Bezug zur Alchemie und Chemie zu behandeln. Die Geheimgesellschaft, die sich schon in ihrem Namen auf den im 17. Jahrhundert von Johann Valentin Andreae und seinem Kreis geschaffenen fiktionalen Orden der Rosenkreuzer bezieht, wird zusammenfassend dargestellt. Hier wäre ein Seitenblick auf die Illuminaten, quasi das aufklärerische Gegenmodell, angebracht gewesen, zumal auch letztere Bezüge zur Alchemie aufweisen. Ausführlich behandelt werden dagegen Kant und seine Forderung, die Philosophie anstelle der Theologie als Leitwissenschaft an den Universitäten zu etablieren. Auch Goethe kommt nicht zu kurz und seine "Wahlverwandtschaften" werden in einem eigenen Kapitel erörtert, ebenso seine Errichtung des Lehrstuhls für Chemiatrie an der Universität Jena und seine Ablehnung der Newtonschen Optik.
Der abschließende vierte Teil ist dem schwierigen Verhältnis von Alchemie und Universität gewidmet, also der Frage, weshalb die Alchemie kein universitäres Lehrfach werden konnte und erst spät und in abgewandelter Form als Chemiatrie oder Iatrochemie Zugang fand. Insbesondere die Universität Helmstedt wird hier ausführlich behandelt. Der Epilog schließlich behandelt zusammenfassend den "Wandel der Alchemie". Hier wird auch die Titelwahl der Autorin verständlich. In ihrem eher wissenschaftsphilosophisch als wissenschaftshistorisch geprägten Ansatz orientiert sie sich sehr stark an Michel Foucault und seinem Konzept von Renaissance und Früher Neuzeit als einem "Zeitalter der Ähnlichkeiten". Allerdings weist sie Foucaults These eines "epistemologischen Bruchs" zwischen Renaissance und Barock und einem Bedeutungsverlust der Alchemie/Chymia in letzterem deutlich zurück und spricht sich stattdessen für eine Verbindung beider durch einen "epistemischen Wandel" aus. Insofern ist Frietschs Buch nicht nur als eine moderne Geschichte dieser Disziplin zu verstehen, sondern auch als Kritik an Foucault.
Das Buch enthält - wie für Übersichtsdarstellungen üblich - keine besonderen neuen Forschungsresultate und die Auseinandersetzung mit Foucault wird auch erst im Epilog sichtbar. Das Verdienst des Werkes liegt vielmehr in der Einbindung der Chymia in einen gesamtkulturellen Kontext. Dies ist in dieser Form und dieser Breite bisher nicht geleistet worden. Genau das macht das Buch zu einem kulturhistorisch bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Frühen Neuzeit und der Aufklärung und der Stellung der Alchemie bzw. der Chymia im Rahmen dieser beiden Epochen. Zudem sind die hervorragende typographische Gestaltung und die zahlreichen, klug ausgewählten Abbildungen hervorzuheben.
Claus Priesner