Ingo Wuttke: Ernst Poensgen (1871-1949). Biographie eines Stahlunternehmers (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; Bd. 93), Essen: Klartext 2022, 595 S., ISBN 978-3-8375-2558-8, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Felix de Taillez: Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017
Manfred Rasch: Kohlechemie im Revier. Zur Geschichte der Ruhrchemie AG 1927-1966, Münster: Aschendorff 2018
Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933-1945, München: C.H.Beck 2013
Nikolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe, Berlin: Verbrecher Verlag 2022
Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche, 2. Auflage, München: Carl Hanser Verlag 2023
Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940, Göttingen: Wallstein 2020
Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der rheinisch-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie ist für das 19. und 20. Jahrhundert sehr breit erforscht. Umso erstaunlicher ist, dass die Lebenswege vieler führender Protagonisten dieser Industrie noch nicht im Sinne einer kritischen Geschichtswissenschaft aufgearbeitet sind. In seiner 2021 an der Bochumer Ruhr-Universität eingereichten Dissertation widmet sich Ingo Wuttke nun der Biografie Ernst Poensgens (1871-1949), der zwar dem Klischee eines "Schlotbarons" (11) widersprach, jedoch als Unternehmer, Manager und Verbandspolitiker eine der prägendsten Figuren der Stahlindustrie des 20. Jahrhunderts war. Wuttke zielt darauf, das "private und berufliche Lebensbild des Industriellen" kontextsensibel und umfänglich nachzuzeichnen (15). Begrifflich fasst Wuttke Poensgen als "Manager-Unternehmer", da er beide "Wirkungskreise" in sich vereine. Daran anknüpfend folgt der Autor Joseph Schumpeters Modell vom Unternehmer als Persönlichkeit und Entscheider (26). Ergänzt wird dieser methodische Bezugsrahmen um Pierre Bourdieus Habituskonzept und dessen Sozialkapitaltheorie, Michael Hartmanns Elitenbegriff sowie schließlich Nina Verheyens Leistungsbegriff, der Leistung als Ordnungskategorie des Sozialen auffasst und Poensgens Position als "Leistungsapologet" Rechnung trägt (36). Diese Begriffe und Ansätze wissen zu überzeugen, leiten sie doch Wuttkes Analyse, und bündeln sie seine Ergebnisse im gelungenen Einleitungs- und Schlusskapitel. Wuttke sieht sein Werk als Beitrag zur Unternehmer- und Elitenforschung für das rheinisch-westfälische Industriegebiet (15). Durch die exponierte unternehmerische und - nicht zuletzt internationale - verbandspolitische Stellung Poensgens geht die Darstellung jedoch berechtigterweise immer wieder deutlich über diese regionalhistorischen Bezugsrahmen hinaus.
Aufgrund von Kriegsverlusten muss Wuttke bei der Quellenlage Abstriche machen, doch kann er auf ein Konvolut von Selbstzeugnissen und zahlreiche Veröffentlichungen Poensgens zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen zurückgreifen. Vor allem - und hier liegt eine wesentliche Leistung des vorliegenden Werks - rekonstruiert Wuttke den dienstlichen und privaten Nachlass Poensgens "aus Gegenkorrespondenzen und Aktendurchschriften", die über zahlreiche Archive an Rhein und Ruhr verstreut sind.
Wuttke wählt dabei eine strikt chronologische Darstellung. Kapitel 2 beginnt mit der Herkunft der Unternehmerfamilie Poensgen, die zunächst zu den Pionieren der Eifeler Eisenindustrie gehörte, während die Familie mit der Verlegung der Poensgenwerke nach Düsseldorf ab Beginn der 1860er Jahre für Stadt und Industrierevier prägend werden sollte. In der Folge untersucht Wuttke eindrücklich den Werdegang Poensgens - sowohl anhand von Sozialisierungsmustern und -instanzen in einer weit verzweigten wirtschaftsbürgerlichen Familie als auch durch Konsummuster, Zukunftsbilder und emotionale Zustände. Mit Blick auf den beruflichen Werdegang sei dem jungen Poensgen "die Tradition des Eisenhüttenfachs in die Wiege gelegt worden" (59).
Kapitel 4 widmet sich dem beruflichen Aufstieg, dem Beginn der Verbandsarbeit und dem großbürgerlichen Familienleben. Ende der 1890er Jahre stieg Poensgen nach seiner dreijährigen Zeit als Betriebsassistent zum Betriebsdirektor der familieneigenen Werke auf. Früh und intensiv beschäftigte er sich mit der Stahlindustrie der USA und legte hier den Grundstein für seine anglophile Einstellung sowie seinen Fokus für rationale, vernetzte Betriebsabläufe (127). Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts rückte Poensgen in das Zentrum des familieneigenen Unternehmens, das 1910 mit der Phoenix AG in einem Konzern aufging, bei dem er in den Vorstand aufstieg und sich aus seiner "hybriden Stellung als angestellter Manager-Unternehmer" bald "konzernintern als durchsetzungsstarker 'Macher' und Erneuerer" profilieren konnte (155). Ab 1914 leitete er mit "Arbeitnordwest" fortan für fast dreißig Jahre den wichtigsten Interessenverband der Schwerindustrie. Auseinandersetzungen um Löhne und Arbeitszeiten bildeten einen Schwerpunkt seiner Arbeit. Besonders prägend war der von ihm positiv erlebte Erste Weltkrieg, der seinen persönlichen Aufstieg befördert habe, weil hier sein "Talent zum Improvisieren, Organisieren und Verhandeln hervorgebracht" worden sei (204).
Die Zeit der Weimarer Republik wird in den Kapiteln 6 bis 10 ausführlich geschildert, als Poensgen zum wichtigsten Verbandspolitiker der Schwerindustrie und zu einem zentralen Akteur der Vereinigten Stahlwerke avancierte - dem größten Stahlkonzern Europas. Hier werden ausführlich die komplexen wirtschafts- und sozialpolitischen Prozesse auf der betrieblichen, regionalen und (inter-)nationalen (verbands-)politischen Ebene rekonstruiert. Die Schwerindustrie wandte sich ab Mitte der 1920er Jahre zunehmend gegen die (betriebs-)demokratische Verfassung der Republik und bekämpfte Gewerkschaften, Sozialstaat und Demokratie. Der stets gut vorbereitete Poensgen zeichnete sich dabei durch seine ausgleichende Art, Durchsetzungsfähigkeit sowie geschickte Verhandlungsführung aus. Darüber hinaus bleibt seine Rolle leider - sicherlich quellenbedingt - ein wenig blass und geht teils in den weit ausholenden Kontextualisierungen unter. Konkreter wird seine Person wieder in der Darstellung seiner Rolle als Ausstellungsmacher, Sportfunktionär und Mäzen in Düsseldorf (Kapitel 9).
In den Kapiteln 11 und 12, die die Zeit des Nationalsozialismus behandeln, zeigt Wuttke, wie sich Poensgen trotz aller ökonomischen, ideologischen und habituellen Differenzen zum Nationalsozialismus mit dem Regime arrangierte. Als Leiter der Wirtschaftsgruppe Eisen schaffender Industrie und der Vereinigten Stahlwerke war er nicht nur in einer Schlüsselposition in die NS-Wirtschaft eingebunden. Darüber hinaus existierten viele ideologische Schnittmengen zwischen dem nationalkonservativen "Wilhelminer" und dem Nationalsozialismus: Poensgen begrüßte etwa die Zerschlagung der Gewerkschaften ebenso wie die Aufrüstung und die Eroberungs- und Besatzungspolitik und wollte auch im Krieg seine patriotische Pflicht erfüllen. Immer wieder ließ er sich zudem propagandistisch für das Regime einspannen. In Konflikt geriet er, wie gut herausgearbeitet wird, aufgrund wirtschaftspolitischer Fragen, namentlich bei der Gründung der Reichswerke Hermann Göring und der Autarkiepolitik. In der Kriegswirtschaft setzte er sich zwar für eine Verbesserung der Versorgungslage von Zwangsarbeitern ein, zugleich profitierte der Stahlkonzern unter seiner Leitung jedoch von der verbrecherischen NS-Ausbeutungspolitik. Da sich überdies die Gesundheit des inzwischen 70-Jährigen zusehends verschlechterte, trat er im Jahr 1943 von seinen Vorstands- und Verbandsposten zurück. In der Folge zog er zunächst nach Kitzbühel und später nach Zermatt. Von hier aus erlebte er das Kriegsende und sah mit Blick auf die Entflechtungsbestrebungen der Alliierten sein Lebenswerk bedroht. Der auch international weiterhin gut vernetzte Poensgen konnte sich der Auslieferung und Anklage durch die US-Behörden entziehen und starb 1949 in seiner Schweizer Wahlheimat.
Resümierend charakterisiert Wuttke Poensgen als betont konservativ-patriotischen, sozialpatriarchalischen "Wilhelminer". Er habe über drei politische Systeme hinweg als "Mann der Verbände" (547) dem ruinösen Wettbewerb zu trotzen versucht und dabei sein "Leben dem Stahl geweiht" (556). Durch seine konziliante, auf Ausgleich bedachte Art habe er sich von vielen seiner Branchengenossen unterschieden. Kritisch anzumerken ist, dass Wuttke die Person Poensgen in erster Linie an dessen eigenen Idealen bemisst und er ihn trotz seiner zentralen Rolle in der NS-Rüstungswirtschaft als "integre Persönlichkeit" bewertet (559). Trotz dieser Kritikpunkte ist die Studie ein wichtiger Beitrag zum ökonomischen und politischen Verständnis der Eisen- und Stahlindustrie. Wuttke kommt das Verdienst zu, die erste umfassende Biografie zu einer prägenden Figur der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt zu haben.
Torben Möbius