Paulin Ismard (Hg.): Welten der Sklaverei. Eine vergleichende Geschichte. Unter Mitarbeit von Benedetta Rossi, Cécile Vidal und Claude Chevaleyre. Mit einem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von Michael Zeuske. Aus dem Französischen, Berlin: Jacoby & Stuart 2023, 1192 S., ISBN 978-3-96428-172-2, EUR 78,00
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2021 erschien in Paris bei Seuil ein umfangreiches Handbuch zur Geschichte der Sklaverei. Damit werden so bedeutende Vorgänger aus dem anglo-amerikanischen Bereich wie die Macmillan Encyclopedia of World Slavery und die Cambridge World History of Slavery um eine französische Perspektive ergänzt. [1] Die Federführung lag bei dem Althistoriker Paulin Ismard von der Université Aix-Marseille, wobei ihm die Afrikaexpertin Berandetta Rossi (University College London), die an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) tätige Karibikhistorikerin Cécile Vidal und der Sinologe Claude Chevaleyre von der École Normale Supérieure in Lyon tatkräftig unterstützten. Da sich die globale Sklavereiforschung in der Regel in voneinander durchaus getrennten sprachlichen Diskursen (englisch, französisch, spanisch, portugiesisch und niederländisch) bewegt, ist meines Wissens nach keine Übertragung ins Englische geplant. Für den deutschsprachigen Raum konnte jedoch erfreulicherweise eine Übersetzung organisiert und finanziert werden, die ich hier als Referenztext nehme.
Für die Qualität eines Handbuches sind meines Erachtens neben dem wissenschaftlichen Niveau der einzelnen Beiträge vor allem die Gliederung, die Auswahl der Einträge und der konzeptionelle Rahmentext von entscheidender Bedeutung. In seiner kurzen, aber prägnanten Einführung stellt Paulin Ismard einige ganz grundsätzlichen Überlegungen an, die große Ähnlichkeit mit den Debatten haben, die bei uns im Bonn Center for Dependency and Slavery Studies geführt werden: Trotz der vielfältigen Formen, die menschliche Unfreiheit und asymmetrische Abhängigkeit im Laufe der Zeit angenommen haben, konzentrierten sich die akademischen Diskurse im modernen Westen hauptsächlich auf die extreme Form der "transatlantischen Sklaverei", die eng mit der Entstehung unserer Vorstellungen von Freiheit verbunden ist. Ismard ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "Was wir Sklaverei nennen, präsentiert sich also oft als eine extreme Form von Ausbeutung innerhalb einer Hierarchie vielgestaltiger Abhängigkeiten, in die sämtliche Mitglieder der Gesellschaft eingebunden sind." (17) Untersucht man einzelne Ausprägungen dieser Dependenzen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, treten normalerweise Überschneidungen und Verbindungen zwischen verschiedenen Formen und Systemen von Abhängigkeiten zutage. "Deshalb" - so Ismard - "ist einer umfassenden Definition der Sklaverei vielmehr eine Gradientenanalyse vorzuziehen, die in der Lage ist, Sklavereiverhältnisse an einem Bündel stets variierender Elemente zu erkennen." (19) Vor diesem Hintergrund sei es sehr sinnvoll, nicht mehr von Sklaverei im Singular zu sprechen, sondern eben von "Welten der Sklaverei".
Das Handbuch unterteilt sich in drei große Bereiche: Situationen - Vergleiche - Transformationen. Im ersten Teil finden wir 50 Impressionen aus sehr verschiedenen Orten und von sehr unterschiedlichen Akteuren. Neben kurzen exemplarischen Studien zu allseits bekannten Schlüsselregionen wie Westeuropa, dem Nahen Osten, dem Mittelmeerraum, Brasilien, der Karibik oder den Südstaaten gibt es ebenfalls sehr erhellende Fallbeispiele aus Ostasien, den Gesellschaften um den Indischen Ozean, Russland, Lateinamerika und vielen subsaharischen Regionen von der Ur- und Frühgeschichte bis in die Gegenwart. Da es in einem Handbuch ja nicht darum geht, eine zusammenhängende Geschichte der Sklaverei zu schreiben, hilft ein solches Potpourri, zunächst nicht erkennbare Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die große Varianz und den Facettenreichtum des Phänomens zum Vorschein zu bringen und damit lieb gewonnene, etablierte Interpretationsmuster zu hinterfragen.
Das "Herzstück" des Bandes bilden, so der Herausgeber, die Vergleiche, also der komparatistische Mittelteil. 24 der 26 Lemmata stammen von Ismard ("Gefangene", "Körper", "Demographie", "Verschuldung", "Strafsklaverei", "Staatssklaverei", "Identifizierung", "Markt", "Eigentum"), Rossi ("Geschlecht", "Mobilität", "Verwandtschaft", "Sex", "Arbeit"), Vidal ("Kultur", "Rechtssprechung", "Herren", "Tod", "Widerstand", "Aufstände", "Sklavenhandel", "Stadt", "Gewalt") und Chevaleyre ("Freiwillige Selbstversklavung"). Hinzu kommen noch zwei Beiträge zu "Freilassung" und "Sklavenstimmen", die M'hamed Oualdi vom Institut d'études politiques de Paris (Science Po) beigesteuert hat. Die Verfasser*innen der einzelnen Einträge, die alle ca. 14 Seiten umfassen, versuchen, auf der Basis ihrer eigenen Forschungen wie aus der Lektüre der entsprechenden Fachliteratur zu synthesehaften Darstellungen zu gelangen. Das gelingt ihnen in der Regel sehr gut, so dass der / die Leser*in sehr viele Denkanstöße bekommt. Allerdings handelt es sich nicht um einen methodisch sauberen Vergleich, sondern eher um verallgemeinernde Beobachtungen. Aus diesem Grund wären ein paar grundsätzliche Überlegungen zur Methodik angebracht gewesen, zumal ein Verständnis des Vergleichens als kulturell situierte Praxis auch die Anerkennung der langen Geschichte des Vergleichens als Macht- und Herrschaftsinstrument während der europäischen Expansion ermöglicht, in deren Verlauf sich verschiedene Formen des Vergleichens in unterschiedlichen (vergleichenden) Praxisgemeinschaften mit ihren jeweiligen Zielgruppen entwickelten. Der Vergleich wird hier als eine Aktivität wahrgenommen, die dazu beiträgt, die Welt (neu) zu ordnen, und daher dynamische gesellschaftliche und epistemologische Veränderungen in Gang setzen kann.
Da im Rahmen dieser Besprechung natürlich nicht alle Beiträge behandelt werden können, gehe ich nur kurz auf dem Artikel "Eigentum" von Paulin Ismard ein. Ismard argumentiert sehr plausibel, dass "Eigentum" kein universal anwendbares Konzept zur Bestimmung von Sklaverei sein kann. In den meisten Studien über die Sklaverei finde sich dennoch bekanntlich eine Definition dieser Institution, nach der ein Sklave eine Person darstellt, die das Eigentum einer anderen Person ist und deren Besitzer somit alle Rechte erworben hat, die gemeinhin mit dem Begriff "Eigentum" verbunden werden. Das sollte hinterfragt werden. In jüngerer Zeit sind, so nehme ich es wahr, Eigentumsregelungen in vielen Disziplinen wie Soziologie, Anthropologie, Politikwissenschaft, Wirtschaft und Humangeographie zu einem zentralen Thema geworden. Eine Folge davon ist, dass Eigentumsmodelle, die den Anspruch erheben, universell zu sein, in Wirklichkeit weitgehend auf westlichen Rechtskategorien beruhen. Die wichtigste davon ist der Begriff des individuellen Privateigentums, der oft als Höhepunkt der rechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie als Voraussetzung für effiziente Marktwirtschaften angesehen wird. Durch die Anwendung dieser Terminologien auf nicht-westliche Situationen werden, darin ist Ismard vollkommen recht zu geben, einheimische Konzepte oder Institutionen unzulässigerweise auf mehr oder weniger gleichwertige westliche Konzepte übertragen. Besser wäre es wohl zu betrachten, wie die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft in Bezug auf Wertgegenstände Gestalt und Bedeutung erhalten.
Der letzte Abschnitt des Handbuches ist "Transformationen" gewidmet. Damit seien, so Paulin Ismard, ganz bestimmte historische Machtkonstellationen gemeint, die mittel- oder unmittelbar zur Veränderung der bis dahin vorherrschenden Konfigurationen führten. 18 solcher Umbruchzeiten werden behandelt, darunter "Die Entstehung der Sklavereigesellschaften im Mittelmeerraum, 10.-6. Jahrhundert v. u. Z.", "Monotheismen", "Sklavereiimperien. Imperialismus, Kolonialismus und Sklaverei in der atlantischen Welt, 15.-18. Jahrhundert", "Kapitalismus", "Abolitionsbewegungen und Abolitionen" oder "Post-Sklaverei". Transformationsprozesse und die damit verbundenen Zeiten und Kontexte in den Blick zu nehmen, scheint mir ein sehr innovativer Ansatz. Ich hätte mir aber einige grundsätzliche theoretische und methodische Überlegungen und Reflexionen dazu gewünscht. So bleibt unklar, warum, d.h. auf der Grundlage welcher Kriterien die in dem Band vertretenen Beispiele ausgewählt worden sind. Was sind die Charakteristika von Übergängen? Welche gesellschaftlichen Änderungen und mentalen Umbrüche führen zu Paradigmenwechseln? Und vor allem: wie und warum finden diese Transitionen statt? Hier wurde meines Erachtens ein großes Analysepotenzial verschenkt. Oder anders formuliert: hier kann man sehr gut anknüpfen!
Insgesamt bietet das Handbuch einen ausgezeichneten Einstieg in das komplexe Thema!
Anmerkung:
[1] Paul Finkelman / Joseph C. Miller (eds.): Macmillan Encyclopedia of World Slavery, New York 1998; Keith Bradley / Paul Cartledge (eds.): The Cambridge World History of Slavery. Vol. 1: The Ancient Mediterranean World, Cambridge 2011; Craig Perry / David Eltis / Stanley L. Engerman (eds.): The Cambridge World History of Slavery; Vol. 2: AD 500 - AD 1420, Cambridge 2021; David Eltis / Stanley L. Engerman (eds.): The Cambridge World History of Slavery. Vol. 3: AD 1420 - AD 1804, Cambridge 2016; David Eltis / Stanley L. Engerman / Seymour Drescher / David Richardson (eds.): The Cambridge World History of Slavery. Vol. 4: AD 1804 - AD 2016, Cambridge 2017.
Stephan Conermann