Anne-Zoé Rillon-Marne / Gaël Saint-Cricq (eds.): Composers in the Middle Ages (= Studies in Medieval and Renaissance Music; Vol. 25), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2024, XXIV + 318 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-1-83765-035-4, GBP 95,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Der Imperativ des Sammelbandes scheint klar: Das nach-aufklärerische Modell, die Figur des Komponisten, gar des großen Komponisten des Genie-Zeitalters auf den musikalischen Schöpfungsprozess im Mittelalter anzuwenden, sei zu revidieren. Das wirkt vorderhand trivial, nicht nur angesichts des "collaborative turn", der seit einiger Zeit in den Kunstwissenschaften Furore macht; vielmehr gehört es zum mediävistischen common sense und ist auch im musikwissenschaftlichen Schrifttum alles andere als unbekannt. Dennoch ist es nicht überflüssig, diese Problematik eindeutig zu benennen, da die Restbestände autor-zentrierter, selbst heroischer Historiographie nicht nur in der Forschung, etwa in der Quellenerschließung und im Editionswesen, weiterwirken, sondern insbesondere, weil die von populärer Musikgeschichtsschreibung und Markttrends geleitete mächtige Musikkultur von dieser liebgewordenen Denkweise ungern lassen möchte. Namen und die sich dahinter verbergenden Menschen sind und bleiben von magnetischer Kraft.
Deshalb bereitet einer der Herausgeber in seiner Einleitung nicht nur die verzerrende Geschichte des traditionellen Narrativs knapp und präzise auf, sondern legt den Finger auch in genau diese Wunde: Es geht nicht darum, das Kind mit dem Bade auszuschütten und den musikalischen Autor zu ignorieren, den mittelalterlichen Komponisten als nicht-existent zu verwerfen, die Anonymität und das Kollektiv als neue Ersatz-Helden zu feiern. Stattdessen waren die Verfasser der Beiträge aufgefordert, "den" Komponisten des (de facto Hoch- und Spät-)Mittelalters zu prüfen und innerhalb eines Geflechts von Benennungen, Funktionen und Erscheinungsweisen differenziert zu betrachten.
Die zwölf auf Referate einer Tagung im Jahr 2019 zurückgehenden Texte umkreisen als instruktive, faktengesättigte und detailfreudige Fallstudien daher immer wieder ähnliche Phänomene, obwohl sie als wertvolle, oft innovative Einzelbeiträge ganz unterschiedliche Gegenstände behandeln. Als zentraler Fallstrick, den es bewusst zu umgehen gilt und der deshalb von den meisten Autoren diskutiert wird, erweist sich die Terminologie. Vor allem "componere" und seine Ableitungen in zeitgenössischen Textdokumenten konnte sehr vieles bedeuten, am seltensten das umfängliche Komponieren eines musikalischen Werkes - eher Töne melodisch oder kontrapunktisch zusammenzustellen, Noten und Texte zu koordinieren, Sammlungen zu organisieren, theatralische Verläufe zu arrangieren, sogar Aufführungen zu finanzieren. Andererseits bedeutete Musik herzustellen nicht unbedingt Komponieren im späteren Sinn, sondern konnte durch Singen oder instrumentales Spielen oder auch Empfangen göttlicher Inspiration erfolgen.
Die Breite des Tätigkeits- und Fähigkeitsspektrums beim "Machen von Musik" zieht folgerichtig eine Vielzahl von Personen und Funktionen nach sich. Der zweite gewichtige und in der Publikation omnipräsente Aspekt ist daher die Kollektivität aller produktiven Akte. Auch hier ist die Spannweite der "creative agents" groß. Ob Vorlagen für neue Kontexte um- und weiterbearbeitet werden (Mark Everist), ob Komponisten sich stilistisch, notationstechnisch oder zitierend auf andere beziehen und somit sukzessive Intertextualität betreiben, ob ein Musiker mit einem Dichter (sofern es sich nicht um Personalunion handelt) zusammenarbeitet, ob für die Liturgie einer Gemeinschaft Zuständige miteinander einen Pool von Gesängen erarbeiten und in einem Buch versammeln (Karen Desmond), ob ein Personenverbund ein komplexes Werk auf die Bühne bringt (Estelle Doudet) - konkrete oder auch nur systemische Kollaboration ist fundamental.
Oft ist das nicht auf eine einzelne gestalterisch tätige Person beziehbare Produkt aber lediglich der überwiegend anonymen Überlieferung und somit dem mangelnden Wissen über einen greifbaren Urheber geschuldet.
Die dritte leitende Kategorie des Bandes ist somit der Komplex Autorschaft mit seinen Trabanten Autorität, (Fremd- und Selbst-)Attribution, Zuschreibung, Signaturen. Zwischen personifizierenden Mythosbildungen (wie im Falle Papst Gregors, dem man den Gregorianischen Choral zu verdanken glaubte, Henry Parkes) und philologisch unhaltbaren Zuschreibungen im Laufe der Zeit (wie bei der beliebten, weil expressiven Marienklage, Charles E. Brewer) entrollt sich eine große Bandbreite an Zuordnungsmöglichkeiten von Musikstücken und Namen, die Margret Bent bezüglich ihrer archivalischen, literarischen, bildlichen bzw. quellenspezifischen Herkunft enzyklopädisch für die Zeit bis 1500 erfasst und systematisiert.
Sie spricht auch ein Paradox an, das über den meisten Einlassungen schwebt: So prominent aus der Antike die Kategorie der Autorität überliefert war, so verbreitet Autornennungen bereits in hochmittelalterlichen Sprachtexten waren, so bitter ist es anzuerkennen, dass musikalische Elaborate erst mit jahrhundertelanger Verzögerung in den Quellen auf die gleiche Stufe der bewussten Autoridentifizierung kamen und hier nochmals eine Latenz der (doch eigentlich auf mehr ars beruhenden) Mehrstimmigkeit gegenüber der Einstimmigkeit zu konstatieren ist. Freilich war letztere öfter einem 'naturgemäß' prestigeträchtigeren Dichter(-Musiker) wie Guillaume de Machaut oder Adam de la Halle zuzuweisen. Catherine A. Bradley spürt aber dem wachsenden Selbstbewusstsein der 'gelehrten' Komponisten von Polyphonie (wie Petrus de Cruce) nach, das sich nicht zuletzt in Fremd- und Selbstzitaten dokumentiert. Auf die im 14. Jahrhundert einsetzende Ich-Exposition der Motettenkomponisten per Akrosticha verweist auch Manon Louviot.
So sehr der Mitherausgeber Gaël Saint-Cricq die "complex, fluid, and collaborative creative realities of the Middle Ages" beschwört (9), so unmissverständlich macht die Lektüre klar, dass die Biographien von - in diesem Fall an Kunst beteiligten - Menschen Dreh- und Angelpunkt des historischen Blicks bleiben, sei es beim wissenschaftlichen Drang nach Autoridentifizierungen, sei es in Form von prosopographischen Überblicken (etwa von Trouvères in Arras, Brianne Dolce), Mikro-Biographien (etwa eines Spielmanns im Dunstkreis von Eustache Deschamps, Yolanda Plumley), oder biographischen Korrekturen und Spezifizierungen (etwa bei der neue Interpretationen erlaubenden Engführung der Lebensdaten von Petrus de Cruce und Philippe de Vitry, Anna Zayaruznaya). Kunst wurde damals noch von 'natural intelligence' gemacht, auch wenn wir die konkreten Wesen und ihre Vorgehensweise oft nur schemenhaft erfassen. Insofern ist das Konzept der Tagungsveranstalter aufgegangen: Es gab mittelalterliche Komponisten, aber sie dachten, musizierten, arbeiteten anders als ihre Genossen zu späteren Zeiten. Das ist sicher keine neue Erkenntnis, der Appell, es in historiographischen Entwürfen stets zu reflektieren, ist aber materialreich und dennoch konzentriert begründet worden.
Disziplinär von Interesse ist an dieser Publikation der Beiträge einer Konferenz in Rouen das (rare) franko-angelsächsische Gemeinschaftsunternehmen. Gebetsmühlenartig gilt es allerdings zu konstatieren, dass die deutschsprachige Forschungsliteratur in der 40-seitigen Bibliographie praktisch gänzlich ausgeblendet bleibt. Das Buch zeichnet sich durch perfektes Lektorat aus, lediglich die Qualität der Abbildungen lässt zu wünschen übrig.
Nicole Schwindt