Rezension über:

Gilbert Dahan / Anne-Zoé Rillon-Marne: Philippe le Chancelier. Prédicateur, théologien et poète parisien du début du XIIIe siècle (= Bibliothèque d'Histoire Culturelle Du Moyen Âge; 19), Turnhout: Brepols 2017, 326 S., 7 Farbabb., zahlr. Tabl., ISBN 978-2-503-57628-2, EUR 85,00
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Rezension von:
Andreas Kistner
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kistner: Rezension von: Gilbert Dahan / Anne-Zoé Rillon-Marne: Philippe le Chancelier. Prédicateur, théologien et poète parisien du début du XIIIe siècle, Turnhout: Brepols 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/31359.html


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Gilbert Dahan / Anne-Zoé Rillon-Marne: Philippe le Chancelier

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Der anzuzeigende Band ist gleichsam die französische Konkurrenz zur bekannten Companion to ...-Reihe von Brill: Der Protagonist wird aus unterschiedlichen Perspektiven auf dem Status quo der Forschung beleuchtet. Infolge der Ausrichtung des Bandes bedarf es einer Zusammenfassung nicht, Indices der verwendeten Handschriften, der Bibelzitate und der historischen und wissenschaftlichen Autoren beschließen den Band.

Die Beiträge sind nach den Hauptaspekten von Philipps Leben und Werk angeordnet, beleuchten also seine Zeit, seine Predigtschriftstellerei, Exegese und Theologie, um dann mit Ausführungen zum Poeten und Musiker Philipp zu enden. Die verschiedene Aspekte werden unter bewusster Inanspruchnahme der Kompetenzen der jeweiligen Beiträger behandelt, denen also keine ausdrückliche Richtschnur im Sinne einer präzisen Diskussion an die Hand gegeben wurde - gleichwohl greifen die Beiträge der einzelnen Abschnitte immer wieder tief ineinander. Die Einleitung bietet weniger eine programmatische Orientierung, sondern eine Darstellung des Forschungsstandes zu diesem trotz seiner Bedeutung wenig bekannten Gelehrten.

Wie J. W. Baldwin selbst ausführt, bietet sein Beitrag (Philippe, chancelier de Notre-Dame, 15-24) die von den Herausgebern ihm überlassene inhaltliche Einleitung, die biographische Eckpunkte in Erinnerung ruft. S. Delmas (Philippe le Chancelier et les ordres mendiants, 25-39) führt exemplarisch das Verhältnis Philipps zu den zwei wichtigsten Bettelorden vor und kommt u. a. zu dem Schluss, dass er die Franziskaner den Dominikanern bei insgesamt hoher Wertschätzung vorgezogen habe. Angesichts der Schlaglichtartigkeit der Ausführungen scheint es aber so, als könnte diese Richtung noch weiter beschritten werden.

Den folgenden Block zu Predigt, Exegese und Theologie eröffnet N. Bériou mit Erörterungen der schriftlichen Spuren der Predigt Philipps, wozu sie drei Handschriften heran zieht (Mazarine 1009, Avranches 132 und Troyes 1099), von denen die letzten beiden ihre besondere Aussagekraft daraus ziehen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf Dossiers Philipps mit eigenen Anmerkungen basieren (85). C. Casagrande schlägt mit ihrer genreüberschreitenden Nutzung von Predigten und theologischem Schriftgut (Les vertus chez Philippe le Chancelier, théologien et prédicateur, 111-124) die Brücke zu den nachfolgenden Beiträgen, schließlich geht es ihr anhand des Fallbeispiels der Tugenden um die wechselseitige Beeinflussung von akademischer Theologie und praktischer Predigt im frühen 13. Jahrhundert (111). Großes Gewicht kommt den Unterscheidungen der Kategorien von Tugenden zu, die je nach Genre von Philipp unterschiedlich angeordnet werden. G. Dahan (Philippe le Chancelier et l'exégèse de la Bible, 125-147) muss eingangs einräumen, dass es nicht selbsterklärend ist, von der Exegese Philipps zu handeln, da dieser kein Exeget im eigentlichen Sinne war (125). Gegenstand dieser Untersuchung ist gewissermaßen die praktische Exegese "en passant" in Philipps theologischem Hauptwerk, der Summa de bono (126-130) und seinen Predigten (130-142). Trotz der Kürze dieses Abrisses erweist sich Philipp als der vita activa verpflichteter Geistlicher, dem die Exegese weniger im Sinne der Lehre als vielmehr praktischer Richtschnur für die moralische Orientierung im Handeln der Gegenwart am Herzen liegt (141-142). Im Bereich der Philosophiegeschichte angesiedelt sind die Beiträge von C. Trottmann (Science et sagesse dans la Summa de bono de Philippe le Chancelier, 149-168) und S. Vecchio (Passions et vertus dans la Summa de bono, 169-183), wo die Positionen Philipps in Relation zu Vordenkern wie dem allfälligen Aristoteles gesetzt werden und deutlich wird, wie stark Philipps originelle Beiträge zum Verhältnis von Wissenschaft und Weisheit durch den Rückgriff auf Johannes Damascenus geprägt sind (Trottmann, passim).

Die Reihe der Beiträge zu Poetik und Musik Philipps verbindet die Frage des Umfangs des Corpus: Was hat Philipp selbst gedichtet? Besonders virulent ist das in den Beiträgen von P. Bourgain (L'esthétique poétique de Philippe le Chancelier et l'empreinte biblique, 187-207) und T. B. Payne (Chancellor versus Bishop, 265-306). Bourgain vermag es, den sehr flexiblen Umgang Philipps mit der Bibel je nach Zusammenhang und Zielgruppe herauszuarbeiten. Dabei thematisiert sie auch die Schwierigkeiten, die Argumente anderer Disziplinen zu bewerten, was in diesem Fall die unterschiedlichen Argumentationen von Philologen und Musikwissenschaftlern betrifft (190-192). J.-Y. Tilliette (Modèles et contre-modèles de la poésie lyrique de Philippe le Chancelier: Adam de Saint-Victor et Gautier de Châtillon, 209-227) greift über den engeren Rahmen Philipps hinaus und fügt ihn in den Kontext des "siècle d'or" (209) der lyrischen Poesie in lateinischer Sprache ein: Im Zuge der Diskussion, was nun zum Werk Philipps zu zählen sei, wird immer wieder das Stil-Argument bemüht, so dass Tilliette sich das Ziel setzt, die "poetische Individualität" (212) in Auseinandersetzung mit Adam von St. Viktor und Walter von Châtillon als besonders geeigneten Referenzpunkten herauszuschälen. Er sieht die besonderen Eigenarten Philipps in einem besonders effektiven Gebrauch der Rhetorik und den fließenden Übergängen zwischen v. a. gesungener Lyrik und Predigten (226).

A.-Z. Rillon-Marne (Les sources de la lyrique de Philippe le Chancelier, 229-263) argumentiert mit den wichtigsten Philipp-Handschriften (London, British Library, Egerton 274; Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 2777; Prag, Burgarchiv, N VIII) und gibt fünf Abbildungen bei. Bei ihr steht der Auftraggeber der Handschriften, die Philipps Dichtungen enthalten, im Mittelpunkt der Überlegungen: Sich von der Erwägung der vermeintlich objektiv feststellbaren Qualität der jeweiligen Handschrift wegbewegend, fragt sie nach den Auswirkungen der Wünsche der Auftraggeber. Die besprochenen, aber nicht abgebildeten Seiten sind bequem im Netz einsehbar. [1]

Seit der Bischofswahl des Jahres 1227 fanden Philipp und Wilhelm von Auvergne immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen. Ausgehend von einer früheren Untersuchung, die einen conductus Philipps in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen des Protagonisten mit dem nicht explizit genannten Bischof Wilhelm brachte, weitet Payne (Chancellor versus Bishop, 265-306) diese Untersuchung auf mit Musik ergänzten Dichtungen aus dem Umfeld von Notre-Dame aus; als Grundlage zieht er dazu die Handschrift Florenz, Bibliotea Medicea Laurenziana, Pluteo 29.1 heran. [2] In diesem Zusammenhang macht er einen neuen Vorschlag zur Datierung (286-287) einiger Gedichte, der es erlaubt, ein Netz von Anspielungen auf Wilhelm von Auvergne zu knüpfen. Man könnte kritisieren, dass hier gezielt gesucht wurde, was dem Text nicht innewohnt; allein, die Ergebnisse sind sehr plausibel. So kann Payne eine ganze Reihe weiterer Dichtungen Philipps mit Auseinandersetzungen mit Wilhelm von Auvergne in Verbindung bringen, stammen sie nun sicher von ihm selbst oder womöglich aus seinem nächsten Umfeld (291, 302).

Das Ergebnis der Bemühungen der Autoren und Herausgeber ist ein überaus gelungener Band, der für Arbeiten zu Philipp dem Kanzler für längere Zeit die erste Anlaufstelle sein dürfte. Zu kritisierende Punkte müssten aufwendig gesucht werden und überschritten nicht das Niveau des Erbsenzählens, weshalb darauf verzichtet werden soll.


Anmerkungen:

[1] Das betrifft die Hs. London, British Library, Egerton 274, einsehbar unter http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=egerton_ms_274, und Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 2777, einsehbar unter http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Hs-2777. Zur Prager Handschrift habe ich nur den Handschriftenkatalog gefunden, einsehbar unter http://147.231.53.91/src/index.php?s=v&cat=36&bookid=367&page=382.

[2] Einsehbar unter http://mss.bmlonline.it/Catalogo.aspx?Shelfmark=Plut.29.1.

Andreas Kistner