Julia Carrasco / Frieder Hepp (Hgg.): Die Erfindung des Fremden in der Kunst. Katalog zur Ausstellung Kurpfälzisches Museum Heidelberg, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2024, 192 S., 134 Farb-, 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-1093-0, EUR 24,95
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Vom 19. Oktober 2024 bis 12. Januar 2025 zeigte das Kurpfälzische Museum Heidelberg die sehenswerte Ausstellung Die Erfindung des Fremden in der Kunst. Anhand von 82 Werken vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart widmete sich die Ausstellung der Frage, "wie der künstlerische europäische Blick ein fremdes Gegenüber konstruierte". (15)
Die Kunstgeschichte beschäftigt sich unter Bezugnahme auf Ansätze des Postkolonialismus und der Kritischen Weißseinsforschung seit einigen Jahren verstärkt mit Otherness in den europäischen Bildkulturen und der Frage, wie sich das (westliche, weiße) Subjekt vor der Folie eines kulturell "Anderen" konstituierte. [1] Es ist begrüßenswert, diese im akademischen Diskurs bisweilen etwas sperrig verhandelten Themen anhand einer breit angelegten Schau einer interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln und das Publikum für rassistische und sexistische Bildinhalte zu sensibilisieren.
Begleitend zur Ausstellung ist ein kompakter, informativer und ansprechend illustrierter Ausstellungskatalog erschienen, dem die folgende Besprechung gilt. Auf eine knappe und präzise Einführung durch die Kuratorin Julia Carrasco folgt der Katalogteil. Dieser umfasst zehn, in chronologischer Reihenfolge angeordnete Kapitel, denen jeweils ein kurzer Essay vorangestellt ist. Die thematische Bandbreite der Beiträge reicht von der Bildproduktion im Zuge der Entdeckung Amerikas (Kap. 1), außereuropäischen Artefakten und Objekten in den europäischen Kunstkammern und Raritätensammlungen der Frühen Neuzeit (Kap. 2), dem wechselhaften Verhältnis zwischen Europa und dem Orient im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (Kap. 3) bzw. Orientalismus-Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts (Kap. 4-7), über die Auseinandersetzung mit außereuropäischen (Bild-)Kulturen im deutschen Expressionismus (Kap. 8 und 9) bis zur Semantik von Körperfarben und dem weißen Blick (Kap. 10). Die Beiträge stammen unter anderem von Robert Born, Silke Förschler, Birgit Haehnel, Melanie Ulz und Kea Wienand, die bereits einschlägig zu Imaginationen des Fremden, westlichen Subjektentwürfen oder transkulturellen Austauschprozessen in unterschiedlichen Bildmedien, Epochen und Kulturräumen gearbeitet haben.
Nicht zuletzt durch den zeitlich weitgespannten Bogen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart und die vielfältigen Gattungen und Medien, die in Ausstellung und Katalog thematisiert werden, gelingt es, ein facettenreiches Spektrum von Bildern kultureller Alterität vor Augen zu führen. Eine epochenübergreifende Perspektive bietet auch Julia Carrascos Beitrag zum einschneidenden Ereignis der "Entdeckung" Amerikas. Carrasco verfolgt die Bildstereotypen Amerikas anhand von Druckgrafiken des 16. Jahrhunderts bis zu einer um 1890 entstandenen Fotografie einer Gruppe von Schausteller:innen aus Buffalo Bills "Wild West Show" vor dem Heidelberger Schloss, die im Zusammenhang mit den auch in Deutschland populären Völkerschauen des 19. Jahrhunderts zu begreifen ist.
Europas Verhältnis zu "fremden" Ländern und Kulturen, beispielsweise zum Osmanischen Reich, war häufig von Ambivalenzen geprägt. Dies zeigt Robert Born, der in seinem an historischem Hintergrundwissen kenntnisreichen Essay erläutert, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts "ein Nebeneinander von Faszination und Furcht den Blick auf den Orient" bestimmte (50). Verschiedene Beiträge stellen prägnant heraus, dass es sich bei den künstlerischen Auseinandersetzungen mit "fremden" Kulturen und Darstellungen des "Anderen" häufig vielmehr um Projektionen eigener Vorstellungen und Wünsche handelte - als Beispiele seien die Arbeiten der Brücke-Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts genannt (Beiträge Wienand und Wanken) -, oder hierbei, wie im Fall der zur Zeit der Aufklärung in europäischen Adelskreisen verbreiteten orientalisierenden Bildnismaskerade, die Selbstinszenierung eine zentrale Rolle spielte (Beitrag Ulz).
Dass es fruchtbar ist, die Frage nach kultureller Differenz mit Geschlechterfragen zu verbinden, demonstrieren die Beiträge von Silke Förschler und Leonie Beiersdorf zum Orientalismus im 19. Jahrhundert. Während Förschler die sexualisierte, hellhäutige Orientalin im Harem und den männlichen Orientalen in der kargen Wüste als wirkmächtige Bildstereotype herausstellt, widmet sich Beiersdorf der Orientalisierung arabischer Frauen im Medium der Fotografie.
Birgit Haehnel befasst sich mit der Darstellung und Semantik von Haut- bzw. Körperfarben und führt in die Critical Whiteness Studies ein. Dieser theoretische Ansatz begreift whiteness als Analysekategorie, um "die Konstruktionen weißer Überlegenheitskonzepte in der europäischen Dominanzgesellschaft zu erkennen und zu überwinden". (149) Haehnel diskutiert künstlerische Positionen der Gegenwart, die sich kritisch mit dem kolonialen Bildarchiv und weißen Blickregimes auseinandersetzen und spürt anhand unterschiedlicher Werke der Darstellung von People of Color von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart nach.
Einige kleinere Kritikpunkte zum Aufbau und Inhalt des Katalogs seien erwähnt. Dass auf ergänzende Katalogeinträge zu den einzelnen Objekten verzichtet wurde, ist etwas schade, hätten hierdurch ihre jeweiligen Entstehungskontexte noch konkreter beleuchtet, und, angesichts der schmalen Fußnotenapparate der einzelnen Beiträge, die weiterführende Lektüre erleichtert werden können. Indem die Beiträge teilweise thematisch eng aneinander anschließen, fallen zudem einige Redundanzen auf, wie beispielsweise der mehrfache Verweis auf die Bedeutung des Stichwerks Recueil Ferriol (1714) für die Verbreitung der Orient-Mode in Europa (72f., 90, 97), oder der kunsthistorischen Publikation N*plastik (1915) von Carl Einstein für die Auseinandersetzung der deutschen Expressionisten mit Plastiken und Skulpturen aus Afrika (127f., 132f.).
Unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist die Gewichtung der Themen anzusprechen: Durch die (bereits im Ausstellungsparcours erkennbare) Fokussierung auf den Orient bzw. Orientalismus-Diskurse kommen andere Themen bzw. Bildsujets etwas zu kurz. Dies gilt insbesondere für Repräsentationen von People of Color - insbesondere von Afrikaner:innen - in der europäischen Kunst der Vormoderne, die zwar in dem Beitrag von Haehnel im Zusammenhang mit Körperfarben anhand einiger Beispiele diskutiert, jedoch im Katalog eher en passant behandelt werden. Eine systematischere Auseinandersetzung auch unter Berücksichtigung der umfangreichen Literatur hätte die vielseitigen Bildstereotype und Rollen von Schwarzen Menschen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa noch etwas differenzierter herausstellen können: Dies betrifft beispielsweise die im deutschsprachigen Raum bereits im 13. Jahrhundert einsetzende Darstellungstradition des hl. Mauritius als Schwarzen Heiligen, Bildkulturen der Sklaverei, aber auch den Umstand, dass nicht nur Sklav:innen, sondern in der Frühen Neuzeit auch einzelne hochrangige diplomatische Vertreter aus Afrika nach Europa kamen. [2] Wie darf man sich die Präsenz und Lebensrealität von Außereuropäer:innen in Europa zu bestimmten Zeiten vorstellen? Die Einbeziehung von neueren geschichtswissenschaftlichen Forschungen zur Präsenz von People of Color im frühneuzeitlichen Europa - auch im deutschsprachigen Raum - hätte diesbezüglich Aufschlüsse erlauben können. [3]
Die genannten Punkte schmälern jedoch keineswegs den insgesamt positiven Eindruck von Ausstellung und Katalog, denen das Verdienst zukommt, den Blick darauf zu lenken, dass "das Fremde" nicht etwas ist, was von vornhinein existiert und gegeben ist, sondern auf Zuschreibungen basiert und auch die eigene kulturelle Identität durch Prozesse und Praktiken der Differenzerzeugung allererst hervorgebracht wird. Auf die bedeutsame Rolle der Kunst bei der Hervorbringung von imaginierten und stereotypen Bildern des Fremden über Jahrhunderte hinweg im Wandel der Zeit aufmerksam zu machen und eine repräsentationskritische Perspektive zu befördern, ist angesichts aktuell wachsender rassistischer und anti-demokratischer Tendenzen in Deutschland von erhöhter Relevanz. Dass sich die Ausstellung dabei bemüht hat, das Thema auch an die eigene Sammlung des Kurpfälzischen Museums und die Geschichte und Kultur der Stadt Heidelberg zurückzubinden - etwa durch das in der Ausstellung gezeigte Video der Heidelberger Hip-Hop Band Advanced Chemistry zum Song Fremd im eigenen Land aus den frühen 1990er Jahren -, ist lobend hervorzuheben.
Anmerkungen:
[1] Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert, Marburg 2010; Anna Greve: Farbe-Macht-Körper. Kritische Weißseinsforschung in der Europäischen Kunstgeschichte, Karlsruhe 2013. Zur Otherness: Pamela A. Patton: Otherness, Race, and Identity in European Medieval Art, in: Oxford Bibliographies Online, https://www.oxfordbibliographies.com/display/document/obo-9780199920105/obo-9780199920105-0134.xml, DOI: 10.1093/obo/9780199920105-0134, last modified: 21. Februar 2023; Victor I. Stoichita: Darker Shades. The Racial Other in Early Modern Art, London 2019.
[2] Siehe u.a.: T.F. Earle / Kate Lowe (eds.): Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge 2005; David Bindman / Henry Louis Gates, Jr. (eds.): The Image of the Black in Western Art, 10 Bde., Cambridge 2010-2014; Elizabeth McGrath / Jean Michel Massing (eds.): The Slave in European Art. From Renaissance Trophy to Abolitionist Emblem, London / Turin 2012.
[3] Einen guten Überblick liefern Annika Bärwald / Josef Köstlbaur / Rebekka von Mallinckrodt: People of African Descent in Early Modern Europe, in: Oxford Bibliographies Online, https://www.oxfordbibliographies.com/display/document/obo-9780199730414/obo-9780199730414-0326.xml, DOI: 10.1093/obo/9780199730414-0326, last modified: 15. Januar 2020.
Helen Boeßenecker