Eva Ortlieb (Hg.): Kaiserlicher Hofrat und kaiserliche Herrschaft unter Karl V. (1520-1556). Ein Beitrag zur Geschichte des Reichshofrats (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 79), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2024, 781 S., ISBN 978-3-412-52967-3, EUR 110,00
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Der Hofrat Karls V., dessen historische Rekonstruktion Eva Ortlieb in der vorliegenden Studie unternimmt, ist bislang von der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches sträflich vernachlässigt worden. Während der jüngere Reichshofrat, aller wissenschaftspolitischen Hindernisse zum Trotz, mittlerweile eine beachtliche Forschungslandschaft hervorgebracht hat [1], sind seine institutionellen und funktionalen Vorläufer bislang kaum zum Gegenstand dezidierter Forschung geworden.
Wenn die Autorin ihre Studie als "Beitrag zur Geschichte Karls V., als Teil der Verwaltungs-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte des frühneuzeitlichen Reichs sowie als Annäherung an die Mechanismen kaiserlicher Herrschaft" (9) gelesen haben will, so formuliert sie einen vielschichtigen Anspruch, der sich in der Gliederung der Arbeit niederschlägt. Beinahe anthologisch reiht Ortlieb hier vier methodisch und thematisch eigenständige Studien aneinander. Auf eine Analyse der äußeren Geschichte des Hofrates (37-155) folgt eine Untersuchung seines Personalbestandes (161-284), der an ihm vorsprechenden Antragsteller und der verhandelten Gegenstände (289-338) sowie seiner Aufgabenfelder (339-511). Eine (als Ergänzung zu Gschließer [2] konzipierte) alphabetische (553-667) sowie eine chronologische Liste der Hofräte und Präsidenten (668f.) und eine Auflistung der Kandidaten für den Hofrat (669-676) schließen den Band ab.
Dem methodisch disparaten Aufbau der Studie entspricht die Ausdeutung des Quellenbestandes im Rahmen der jeweiligen Teilstudie. Gekonnt wirkt Ortlieb schließlich die hier gesponnen Fäden zu einer Rechtsanthropologie der Herrschaftspraxis Karls V. als Institutionengeschichte des Hofrates ineinander.
Zentral für diese Geschichte ist dabei Ortliebs Feststellung, dass sich die Entstehung des untersuchten Gremiums nicht primär als Ergebnis verfassungspolitischer Entscheidungen oder normativer Setzungen, sondern als Institutionalisierung einer sich im Vollzug herausbildenden Verwaltungspraxis verstehen lässt. Notwendig gemacht habe die Bildung des Hofrates die zunehmende Inanspruchnahme des Kaisers im Zuge der eng getakteten Reichstage der 1540er Jahre, welche die Verstetigung einer Institution erwirkt habe, die noch in der ersten Regierungshälfte Karls V. nur im Rahmen jener Reichsversammlungen tätig geworden sei. Der Hofrat habe sich dabei als ein 'vornehmlich für Rechtssachen zuständiger Parteienrat' für kaiserliche Gunsterweise, Interventionen in Konflikte und Lehenssachen herausgebildet.
Besonderes Augenmerk legt Ortlieb auf die Tatsache, dass die Reichsstände an der Ausgestaltung des Hofrates weder Anteil gehabt noch Anspruch auf Mitwirkung an demselben formuliert hätten, weshalb der Hofrat in den verfassungsrechtlichen Grundsatzdebatten seiner Zeit keine Rolle gespielt habe. Diese 'überraschende Selbstverständlichkeit' (518) im Umgang mit der Institution begründet Ortlieb damit, dass derselbe nicht ein Organ der Reichsverfassung, sondern vielmehr Verwaltungsinnovation innerhalb der kaiserlichen Administration gewesen sei. Dabei sei der Hofrat nur punktuell als Gericht tätig geworden und habe nur selektiv in die Reichspolitik eingegriffen, etwa zur Friedenssicherung oder zur Sicherstellung des Rechtsweges. Ein Konkurrenzorgan zum Reichskammergericht sei er damit ebenso wenig gewesen wie eine Reichsregierung. Und doch lässt sich der von Ortlieb profilierte Hofrat nicht etwa als unabhängige Schiedsstelle charakterisieren. Vielmehr sei er das Organ gewesen, vermittels dessen der Kaiser seine zentralen Aufgaben als Reichsoberhaupt im Reich wahrgenommen habe. Der Hofrat habe dabei den Zugang zum Herrscher, die Belohnung von Loyalität sowie die Sicherung von Gewaltfreiheit und Rechtsweg sichergestellt. Wenn also die Stände den Hofrat nicht als Verfassungsorgan des Reiches wahrgenommen hätten, so liege dies eben in seiner genuin kaiserlichen Natur begründet: "Der Rat verschwand gewissermaßen hinter dem Kaiser". (525)
Ortliebs Perspektive auf die Regierungspraxis Karls V. ist hier zentral: Karl sei ein Reichsoberhaupt gewesen, das zugleich auf Basis rationaler, traditional legitimierter und akzeptanzorientierter Herrschaft agiert habe, die nicht "auf Erzwingungsapparaten [beruhte], sondern auf einer als Tradition der Kritik weitgehend entzogenen Vorstellungswelt, die im Reichsoberhaupt legitimerweise den höchsten Ansprechpartner für alle sah, deren Rechte zu erhalten, deren Verdienste zu belohnen und deren Schwierigkeiten einer billigen Lösung zuzuführen waren". (546)
Die Aufgabe des Kaisers sei dabei nicht diejenige einer Institution gewesen, die Recht schlicht festzustellen und durchzusetzen habe. Vielmehr kämen hier eine ältere Vorstellung von einem Reichsoberhaupt zum Tragen, das gerade diejenigen Ungerechtigkeiten zu korrigieren habe, die das Recht erzeuge. Der Kaiser im Kyffhäuser kommt dem Leser hier ebenso in den Sinn wie Marc Blochs rois thaumaturges.
Die Studie stellt zugleich ein eindringliches Plädoyer dar, den engen Bezug auf den Kaiser, als dessen Verwaltungsorgan der Hofrat entstanden sei, auch für die Erforschung des späteren Reichshofrates ernst zu nehmen (533). Mit der Abdankung Karls V. im Jahre 1556 hatte sich dessen Hofrat zwar faktisch aufgelöst. Sein institutionelles Profil jedoch sollte im späteren Reichshofrat fortleben. Ortlieb verweist hier zwar auf das Fehlen direkter institutioneller Kontinuität, betont jedoch zugleich funktionale und organisatorische Parallelen zwischen beiden Organen, die auf ähnlichen Bedürfnissen seitens des Kaisers wie seiner Untertanen beruhten. Auch der Reichshofrat sei aus seiner ursprünglichen Logik als kaiserliches Verwaltungsorgan heraus zu begreifen und in seiner Funktion auf die Gestalt kaiserlicher Herrschaft rückzubeziehen.
Dieses Postulat ist nun von einiger Bedeutung, verorten doch Überblickswerke ebenso wie Einführungsveranstaltungen zur Verfassungsgeschichte des frühneuzeitlichen Reiches die Entstehung des Reichshofrates bisweilen allzu vereinfachend als Ergebnis einer am Ende des 15. Jahrhunderts abgeschlossenen Reichsreform, was gewiss nicht zuletzt jener Parallelisierung der Entwicklung von Reichshofrat und Reichskammergericht geschuldet ist, die wesentlich auf der im Relation zum Judizialbestand zu konstatierenden Vernachlässigung der Gratialia in der Reichshofratsforschung fußt. Dass der Hofrat Karls V., wie die vorliegende Studie herausstellt, nicht als Konkurrenz zum Reichskammergericht konzipiert worden ist, verweist auf die Notwendigkeit einer die nichtjurisdiktionellen Aufgaben des Kaisers im Reich stärker einbeziehende Neubewertung des prominenteren, jüngeren Gremiums.
Dass sich spätestens seit der Regierungszeit Ferdinands II. der Reichshofrat anhand einer deutlichen Zunahme der Judizial-Sachen nun als Reichsgericht präsentiere, liege in einer veränderten Rollenerwartung an den Kaiser begründet, der im Laufe der Frühen Neuzeit gewissermaßen zu einem Verfassungsorgan unter vielen geworden sei. Diesen fundamentalen Wandel deutet die Autorin als Reaktion auf ein schwindendes normatives Fundament des Kaisertums als Quelle allen Rechts in den konfessionellen und verfassungsrechtlichen Konflikten des 17. Jahrhunderts sowie auf die zunehmende Territorialisierung (531). Eine genaue Untersuchung dieser Entwicklung scheint sehr lohnenswert, ist aber freilich nicht Gegenstand des hier besprochenen Bandes.
Ortliebs Studie ist minutiös gearbeitet, quellennah und methodisch reflektiert. Sie verdient fraglos einen festen Platz in der verfassungsgeschichtlichen Literatur zum Alten Reich - und leistet darüber hinaus einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte von Verwaltung und Politik im Zeitalter Karls V. sowie bedeutende Anregungen für die verfassungsgeschichtliche Einordnung verschiedener Struktureigenschaften des späteren Reichshofrates.
Anmerkungen:
[1] Siehe neuerdings die zahlreichen Beiträge in Ulrich Rasche / Tobias Schenk (Hgg.): Der kaiserliche Reichshofrat. Interdisziplinäre Perspektiven auf Organisation und Funktion eines frühneuzeitlichen Zentralgerichts (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 82), Köln 2025.
[2] Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559-1806 (= Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich; 33), Wien 1942.
Kevin Hecken