Andreas Mühling: Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (= Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte; Bd. 19), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 371 S., ISBN 978-3-906765-89-1, EUR 54,70
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Joachim Bahlcke / Beate Störtkuhl / Matthias Weber (Hgg.): Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte - Kultur - Erinnerung, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Ruth Slenczka (Hg.): Reformation und Freiheit. Luther und die Folgen für Preußen und Brandenburg, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017
Thomas Kaufmann: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte, München: C.H.Beck 2022
Mit den mehr als 12.000 erhaltenen Schreiben seines Briefwechsels gehört der Zürcher Antistes Heinrich Bullinger (1504-1575) zu den produktivsten Korrespondenten des an Briefen ohnehin nicht armen 16. Jahrhunderts. Während jedoch die Briefsammlungen Zwinglis, Calvins, Melanchthons oder Luthers schon im 19. Jahrhundert ediert wurden, wird Bullingers Briefwechsel erst jetzt in einer lobenswert fundierten Edition erschlossen und vorgelegt (<http://www.unizh.ch/irg/hbbw.html>). Sie ist allerdings erst im Jahr 1538 angelangt.
Andreas Mühling hat sich dagegen der ungeheuren Masse der späteren Briefe angenommen. Seine Arbeit, die 1999/2000 als Habilitation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn angenommen wurde, stützt sich somit auf weitgehend unpubliziertes Quellenmaterial. Sie behandelt vor allem den Zeitraum nach Abschluss des Consensus Tigurinus 1551, da diese Einigung zwischen den Genfer und Zürcher Theologen "zugleich den Beginn einer theologischen und kirchenpolitischen 'Vernetzung' der Reformierten in Europa markierte" (15). Das wichtigste Gliederungselement der Darstellung ist jedoch das geografische, "weil sich in den verschiedenen europäischen Staaten die einzelnen Problemfelder verdichteten und ihre spezifische Ausprägung erfuhren". Dabei "sollen charakteristische, immer wiederkehrende Grundzüge der kirchenpolitischen Bemühungen Bullingers [...] innerhalb der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen einzelner Territorien deutlich werden".
Nach einer knappen Einleitung zur Quellenlage und Vorgehensweise (9-26) sowie einem kurzen Kapitel zu den politischen und theologischen Grundlagen von Bullingers Kirchenpolitik (27-40) behandelt Mühling nacheinander das Reich, England (149-185), Frankreich (187-224) und Polen-Litauen (225-270). Während auf die europäischen Monarchien jeweils rund vierzig Seiten verwendet werden, erfährt das Reich detaillierte Untersuchungen zu Württemberg (46-72), Hessen (74-96) und der Pfalz (96-143) sowie kurze Abschnitte zu Rappoltstein, Wittgenstein und der Reichsstadt Köln. Eine kurze Wertung (271-278) beschließt den darstellenden Teil, dem noch mehr als 50 Seiten Beilagen mit größtenteils[1] unveröffentlichten Texten folgen.
Zwar fallen so mit den habsburgischen Landen, Skandinavien und Südeuropa wichtige Regionen aus der Untersuchung heraus, weil sie in den Quellen keinen nennenswerten Niederschlag finden - "die Überlieferung der politisch relevanten Briefwechsel gibt die Auswahl der Handlungsfelder vor" (24) -, doch bleibt kaum weniger als die Aufgabe, die kirchliche Situation in einem guten Teil Europas im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts nachzuvollziehen. Mühling beschränkt sich dabei auf den Blickwinkel seiner Quellen, neben den Briefen auch Widmungsvorreden Bullingers sowie sein Diarium, und nimmt ganz die Perspektive Bullingers ein. Im Zuge seiner Untersuchung weist er Bullingers verschiedene "Modellvarianten kirchenpolitischen Handelns" (217) gegenüber den jeweiligen Adressaten seiner versuchten Einflussnahme auf. Abschließend konturiert Mühling vier Handlungsmodelle. Gegenüber protestantischen Territorien habe Bullinger eine "offene Variante" (272) vertreten: Er "arbeitete auf eine kirchenpolitische Einigung aller Protestanten in christlicher Freiheit hin, bei gegenseitiger Toleranz und unter Umgehung konfessioneller Standpunkte wie der Confessio Augustana" (272). Als Beispiele hierfür dienen Württemberg und Hessen. Zeigte sich eine protestantische Obrigkeit den Reformierten gegenüber aufgeschlossen, sieht Mühling bei Bullinger eine "interne Variante" (273) zur Anwendung kommen. "Der Zürcher suchte in dem betreffenden Territorium die kirchliche Vielfalt von 'Zwinglianern' und 'Calvinisten' in der einen, nach dem Wort Gottes 'Reformierten Kirche' sicherzustellen. [...] So griff Bullinger in einigen Territorien wie Sayn-Wittgenstein, Reichenweiler-Horburg oder der Kurpfalz, aber auch in England in die kirchenpolitischen Beratungen ein und unterstützte die Obrigkeit und die Gemeinden bei dem Aufbau eines reformierten Kirchenwesens" (273). Gegenüber einer katholischen Obrigkeit wie in Frankreich und Polen habe Bullinger eine "Tolerierungsvariante" entfaltet, die "die Duldung aller auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse stehenden christlichen Kirchen im Staat zu gewährleisten" (274) suchte und damit die Zukunft der Reformierten sichern sollte. Als viertes Handlungsmodell identifiziert Mühling eine "seelsorgerliche" Variante, die sich auf die Betreuung einzelner Personen und Kreise richtete. Sie "war jedoch in der politischen Wirksamkeit langfristig angelegt" (274).
Der Autor sieht es als "Grundfehler der Zürcher Kirchenpolitik" an, dass sie "sich personell, konzeptionell wie inhaltlich, aber auch in ihrer Durchführung auf die Person Bullingers beschränkt" habe (274). Zudem habe sich Bullingers Forderung nach gegenseitiger Duldung der konfessionellen Gruppierungen "als schwerwiegendes argumentatives Hemmnis seiner Kirchenpolitik" erwiesen: "Doch 'Duldung' und 'Akzeptanz' sind Begriffe, die im kirchlichen Profil des beginnenden Konfessionalismus nicht mehr zeitgemäß erschienen" (275). Bullinger sei "seltsam unberührt vom Phänomen des Konfessionalismus" gewesen und habe versucht, "eine vom Wort Gottes erneuerte 'evangelische' Kirche zu verwirklichen. Tendenzen, die 'reformierte' oder die 'lutherische' Kirche als eine konfessionelle 'Partei' zu begreifen, begegnete er aus grundsätzlichen ekklesiologischen Erwägungen heraus mit völligem Unverständnis". Wichtigste Leistung der Kirchenpolitik Bullingers sei dagegen gewesen, der Zürcher Kirche "auf europäischer Ebene ihre theologisch und kirchenpolitisch mitgestaltende Kraft" (276) zu erhalten. Die kirchenpolitische Initiative sei nicht, wie in der Forschung vertreten, mit Beginn der Fünfzigerjahre auf Genf übergegangen; vielmehr sei es, nach der Rivalität in der Pfalz, "zu einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Zürich und Genf" (277) gekommen, bei der die Genfer für Frankreich, Bullinger für Polen die "Richtlinienkompetenz" gehabt habe (278).
Zweifellos hat Andreas Mühling sich einer großen Aufgabe angenommen. Er hat den Anteil Bullingers an der Entwicklung der reformierten Kirchen Europas dargestellt und dabei zahlreiche, bislang ungenutzte Quellen herangezogen. Doch sein Ergebnis kann leider in Methode und Ergebnis nicht wirklich überzeugen. Der Arbeit fehlt es an systematischer Durchdringung des Gegenstands und an einem präzisen begrifflichen Instrumentarium. So wird schon der titelgebende Begriff der "Kirchenpolitik" nirgends definiert, es findet sich lediglich en passant zum Adjektiv "kirchenpolitisch" der Verweis auf einen Lexikonartikel, dessen Inhalte aber nicht einmal referiert werden (14 mit Anm. 23). Ähnliches gilt für den Begriff "konfessionelles Zeitalter" (15). Dementsprechend können die Kriterien, nach denen die Quellen als kirchenpolitisch relevant oder irrelevant ausgewählt wurden, nicht nachvollzogen werden. Schwerwiegender ist jedoch, dass das Nebeneinander der Genfer und der Zürcher Kirchenpolitik nicht als systematisierender Zugriff für die Untersuchung der einzelnen Territorien nutzbar gemacht wird. Wenn es Mühlings Absicht war, die weiter bestehende kirchenpolitische Bedeutung Zürichs auch nach dem Consensus Tigurinus zu erweisen, dann kann das nur durch einen konsequenten Vergleich mit Genf erfolgen. Doch dieser erfolgt erst bei der Schilderung der Vorgänge in der Pfalz, wo es zu einem direkten Gegeneinander von Zürcher und Genfer Einflussnahmen kommt. Und auch hier, wo die Rivalität deutlich formuliert wird, bleibt der grundsätzliche ekklesiologische Konflikt seltsam unterbelichtet. Man vermisst gerade bei einer theologischen Habilitation die Erörterung der theologischen Grundpositionen, die zu den unterschiedlichen Haltungen etwa in der Auseinandersetzung um die Einführung der Kirchenzucht in der Pfalz führen.
Mühling setzt so immer wieder eine erhebliche Vertrautheit seiner Leser mit der Materie voraus, was bei dem speziellen Gegenstand nicht unbedingt zu tadeln ist. Doch manche Erläuterungen hätten wenig Platz gekostet und manche Kontur geschärft.[2] Und da die hermeneutischen Schlüssel der Parallele zu Genf, der Ekklesiologie und der Haltung des jeweiligen Landesherren zur Reformation in Einleitung und Ergebnis durchaus angeführt werden, hätte man sich eine konsequentere Anwendung in den untersuchenden Kapiteln gewünscht. Auch im Detail gäbe es manches zu kritisieren, etwa die irritierende Verwendung der Anführungsstriche [3] und die sprachlichen Ungenauigkeiten und Anachronismen [4]. Zudem muss man Mühling den Vorwurf machen, dass er seinen Untersuchungsgegenstand idealisiert. Wenn er, wie oben zitiert, Bullinger als unberührt vom Phänomen des Konfessionalismus bezeichnet, dann stellt sich die Frage, warum sein kompromissloses Festhalten an der Ablehnung der Confessio Augustana oder dem staatskirchlichen Modell Zürichs weniger konfessionalistisch gewesen sein soll als die entgegenstehenden Haltungen der Lutheraner oder Calvinisten. Dass sich Bullinger immer darauf berief, eine vom Wort Gottes erneuerte Kirche zu wollen, gehört zu den reformatorischen Grundüberzeugungen, die seine Kontrahenten genauso für sich in Anspruch nahmen. Und dass Bullingers von Mühling gepriesene Forderung nach gegenseitiger Akzeptanz und Duldung der Konfessionen angesichts der polnischen Antitrinitarier ihre Grenze fand, deutet eher auf eine instrumentelle Verwendung dieser Forderung hin, wenn es der eigenen Position dienlich war.
Dennoch gibt Andreas Mühlings Buch den Anstoß dazu, die Rolle Bullingers in den kirchenpolitischen Diskussionen in Europa nach 1550 neu in den Blick zu nehmen. Sein Werk öffnet den Blick auf einen reichen Quellenschatz und erschließt zudem zahlreiche bislang unpublizierte Dokumente, die der weiteren Forschung dienlich sein werden.
Anmerkungen:
[1] Zwar wird als Auswahlkriterium genannt, dass grundsätzlich nur unveröffentlichte Manuskripte berücksichtigt wurden, doch der Brief Bullingers an Johannes a Lasco, Anlage 32, ist schon in der Sammlung J.C. Fueslins: Epistolae ab ecclesiae helvetiae reformatoribus vel ad eos scriptae, Zürich 1742, enthalten.
[2] So hätte es wenig Aufwand gekostet, im Polen-Kapitel die Herkunft und theologische Stellung der Böhmischen Brüder in einem Halbsatz knapp zu erläutern.
[3] Mühling verwendet Anführungsstriche bei Bezeichnungen wie Calvinisten, Böhmische Brüder oder Zwinglianer, aber auch bei Eigennamen wie Nicänum, bei Forschungsbegriffen wie konfessionelles Zeitalter und auch bei uneigentlicher Redeweise. So ist ständig unklar, ob der Autor sich von einer Bezeichnung distanzieren möchte, sie als Redeweise der Zeit kennzeichnen oder schlicht einen Begriff besonders betonen möchte.
[4] Bullinger werden häufig neuzeitliche Worte in den Mund gelegt, ohne dass man die tatsächlichen Formulierungen nachprüfen könnte, etwa: "Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Wittenberger 'Philippisten' und Jenaer Streittheologen interessierten ihn als innerlutherische Auseinandersetzung nur mittelbar. Die Bemühungen, diese theologischen Gegensätze zu überwinden und die Streitigkeiten zu beenden, begriff er als Positionsmarkierungen innerhalb des Luthertums, aber nicht als Ausdruck einer gesamtprotestantischen Einigungsbewegung" (84). Für diese markanten Epitheta liefert Mühling in den Fußnoten keinen Quellenbeleg, er leistet aber auch keine Erörterung der ja nicht uninteressanten Frage, ob Bullinger darin einen Prozess der konfessionellen Festigung gesehen haben könnte. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich fortsetzen.
Henning P. Jürgens