Thomas Kaufmann: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte, München: C.H.Beck 2022, 350 S., eine Kt., 61 Abb., ISBN 978-3-406-78180-3, EUR 28,00
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Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hat nach zahlreichen Einzeluntersuchungen und Gesamtdarstellungen zur Reformation vor drei Jahren unter dem Titel "Die Mitte der Reformation" eine magistrale "Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen" vorgelegt, die aus einer Opus Magnum-Förderung der Volkswagenstiftung hervorgegangen ist. [1] In seinem neuesten Buch, das seit wenigen Wochen auf dem Markt ist, widmet er sich nun demselben Themengebiet in populärer Form. Dazu nimmt er, wie Titel und Untertitel andeuten, eine aktualisierende Perspektive ein: "Eröffnen sich dadurch, dass wir durch die Erfahrungen des Medienwandels unserer Tage sensibilisiert sind, umfassendere und profundere Perspektiven auf die kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Folgen des Buchdrucks? Und umgekehrt: Erwachsen aus der Einsicht in die zunächst sukzessiv einsetzenden, dann umfassenden Veränderungen infolge der Verbreitung der Schwarzen Kunst Erkenntnisse, die Orientierungshilfen in unserer Gegenwart bieten könnten?" (9) In Anlehnung an den Begriff der "digital natives" des Medienpädagogen Marc Prensky konturiert er die "Generation Luther" des Untertitels als die "printing natives" der Geburtsjahrgänge der 1470er bis 1490er-Jahre, "für die der Umgang mit gedruckten Texten zu einer Selbstverständlichkeit geworden war." Ihre neue Weltsicht und Lebensweise bilden den erzählerischen Rahmen der folgenden Darstellung.
In vier Hauptteilen geht Kaufmann seinem Narrativ nach. Teil 1, "Die erste Medienrevolution", behandelt in verdichteter Form die technische Seite der Erfindung des Buchdrucks und seiner Verbreitung sowie die Wertungsmuster, die in der humanistischen und protestantischen Erinnerungskultur darüber geprägt wurden. Teil 2 ist den "Männer[n] des Buches" (Überschrift im Buch in Anführungszeichen) gewidmet - die Rolle der Frauen wird in sechs Zeilen als marginal abgehakt. (29) Im Mittelpunkt stehen hier Johannes Reuchlin, dessen Lebensdaten 1455-1522 zur Periodisierung der behandelten Epoche herangezogen werden, und seine Rudimenta Hebraica, Erasmus von Rotterdam und das Projekt der kritischen Bibeledition Novum Organon, weitere oberdeutsche Humanisten und schließlich der Dunkelmännerstreit. Im Teil 3, "Publizistische Explosionen", der fast die Hälfte des Gesamtumfangs (99-213) einnimmt, kommt Kaufmann zu seinem Kernthema, der Reformation Martin Luthers: "Am Anfang und im Zentrum der frühen Reformation stand die Druckerpresse." (101) Dezidiert legt der Autor gegen den Ansatz der multiple reformations "ein traditionelles Verständnis des Terminus" Reformation zugrunde, definiert als "die durch Luthers Kritik an der Ablasspraxis der römischen Kirche und seine publizistischen Wirkungen initiierten Prozesse der Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft". (101) Entsprechend setzt Teil 3 mit dem Streit um den Ablass ein, widmet ungewöhnlich großen Raum der Rolle Karlstadts in der frühen Publizistik vor 1520, beschreibt Luthers sogenannte Hauptschriften von 1520 besonders unter druckgeschichtlicher Perspektive und nutzt die Ereignisse des Jahres 1521 auch für die Darstellung der Wahrnehmung Luthers in der Öffentlichkeit. Nach 50 Seiten wendet sich die Darstellung der "Lagerbildung in der reformatorischen Bewegung" zu, die wiederum Karlstadt, dann Zwingli und Oekolampad, das radikale Milieu um Müntzer und Ludwig Hätzer sowie die zahlreichen Laienautoren in den Mittelpunkt stellt. Mit dem Bauernkrieg endet die ereignisorientierte Darstellung; weitere Abschnitte sind der neuen Konkurrenz auf dem Buchmarkt, den illustrierten Einblattdrucken als neue Gattung und schließlich der medialen Begleitung von Luthers Sterben gewidmet. Ein kürzerer Teil 4 konturiert abschließend "Eine veränderte Welt", die von den Umwälzungen der "Ersten Medienrevolution" geprägt wurde. Hier dominieren wieder strukturelle Faktoren wie Selbststudium und Universitätsbetrieb, Bibliotheken und Editionen sowie die Herausbildung neuer Gattungen wie Bibel- und Katechismusdrucke, Lieder und Gesangbücher, schließlich auf den letzten Seiten ein Blick auf "Quergedachtes, Utopisches und Subversives". Ein dreiseitiger Epilog schließt das Buch ab, dessen 260 Seiten Text von 90 Seiten Nachweisen, Literatur und Register ergänzt werden.
Insgesamt hinterlässt die Lektüre der "Druckmacher" einen ambivalenten Eindruck: Einerseits bietet das Buch eine kompakte, kenntnisreiche Darstellung des vor allem protestantischen Buchdrucks im Reich in einer - trotz einzelner sperriger Formulierungen - für die Zielgruppe angemessenen, lebendigen Sprache. Die Kombination von systematischen und stärker ereignisgeschichtlichen Abschnitten strukturiert das Gesamtbild geschickt, und die Forschungslage ist, durch detaillierte Anmerkungen nachvollziehbar, auf dem neuesten Stand berücksichtigt. Die Auswirkungen einer revolutionären Erfindung auf das Alltagsleben und die Geisteswelt Europas werden so in vielen faszinierenden Beispielen anschaulich gemacht.
Gewisse Schwerpunktsetzungen und Auslassungen sind für eine Überblicksdarstellung unvermeidlich. So bleibt ab dem ersten Teil die europäische Dimension des Themas im Hintergrund, und die katholische Seite der Druckproduktion findet relativ wenig Erwähnung. Die für die Wittenberger Reformation nicht zu überschätzende Rolle Philipp Melanchthons erscheint im Hauptteil eigentümlich unterbelichtet, wie auch der Konflikt zwischen Müntzer und Luther durch die Beschränkung auf den Druckaspekt nicht recht deutlich wird. Von seiner eigenen Vorgehensweise konterkariert wird Kaufmanns pointierte lutherische Engführung der Reformation: Im chronologischen dritten Teil gerät Luther schon bald nach 1521 aus dem Fokus zugunsten von Karlstadt, Zwingli, den Täufern, den Bauern, Laienautoren, Frauen und anderen Akteuren - also doch multiple reformations?
Leider bleibt das Buch bei seinem eigentlichen Narrativ unbefriedigend. Die eingangs formulierten Fragen bleiben weitgehend unbeantwortet. Weder die sechsseitige Einleitung noch der nur halb so lange Epilog leisten einen substantiellen Beitrag zum Vergleich von Erster und Zweiter Medienrevolution, der über einige Wortspiele ("Unter Druck") und Anachronismen hinausgeht (notorisch ist von Fake News die Rede, ohne dass der Begriff, geschweige denn die Funktion in der Publizistik der Frühen Neuzeit expliziert wird). Am ehesten eingelöst wird noch das Narrativ von den Humanisten als printing natives, das vor allem im zweiten Teil verwendet wird, aber selten mehr als zusammenfassende Pointierungen der Darstellungen bietet.
Seinem Gegenstand angemessen, ist "Die Druckmacher" ein wirklich ansprechend gestaltetes Buch. Zahlreiche großformatige schwarz-weiß-Abbildungen mit großzügigen Bildlegenden, ein gefälliges Satzbild sowie den Drucken der Zeit entlehnte Schmuckelemente machen die Beschäftigung mit der Entwicklung der Druckkunst zu einem sozusagen performativen Erlebnis - das Auge liest mit. [2] Lediglich die unkonventionelle Handhabung der Literaturnachweise (die in den Fußnoten aufgeführten Titel tauchen teilweise nicht im Literaturverzeichnis auf und vice versa) erschwert die Nutzung ein wenig. Wer sich an den genannten Monita nicht stört, findet in "Die Druckmacher" eine flüssig zu lesende und in vieler Hinsicht anschauliche Darstellung des Buchdrucks vor und in der Reformationszeit.
Anmerkungen:
[1] Thomas Kaufmann: Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen, Tübingen 2019.
[2] Dabei ist bei Abb. 3 auf Seite 22 ein Fehler unterlaufen; sie zeigt nicht, wie in der Legende angegeben, die Druckermarke von Fust und Schöffer im 48-zeiligen Vulgatadruck GW 4204 (http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-v-15/0193/image), sondern diejenige aus GW 4211, einer elf Jahre später erschienenen Ausgabe, deren Druck am 24.02.1473 abgeschlossen war.
Henning P. Jürgens