Lothar Gall (Hg.): Otto von Bismarck und die Parteien (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 3), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, XI + 155 S., ISBN 978-3-506-79222-8, EUR 13,20
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Otto von Bismarck und die mit ihm assoziierte Politik sind sicherlich keine besonders vernachlässigten Forschungsgegenstände. Man verfügt nicht nur über mehrere wissenschaftliche Biografien, sondern auch über eine recht verästelte Forschung zu diversen Einzelproblemen des Bismarckreichs. Und doch bleiben auch bei diesem an sich gut ausgeleuchteten Themenfeld immer wieder "dunkle" Seiten, ergeben sich aufgrund modifizierter Frageperspektiven und veränderter Erkenntnisgrundlagen neue und wichtige Ergebnisse selbst dort, wo vieles schon bekannt scheint.
Der vorliegende, von Lothar Gall herausgegebene und eingeleitete Sammelband, in dessen Mittelpunkt die Frage nach den Beziehungen zwischen Bismarck und den Parteien steht, ist ein Musterbeispiel für eine derartige Ausweitung und Modifizierung von Perspektive und Ergebnis. Seine sieben Beiträge verlagern ihre Frageschwerpunkte weg von der angeblich dominanten politischen Einflussnahme Bismarcks im Umgang mit Parteien und Parlament und ermitteln stattdessen vornehmlich die Bedingungen, denen auch der scheinbar allmächtige Kanzler im innenpolitischen Geschäft unterworfen war, und sie rücken dabei manches eingefahrene Urteil zurecht. Diese anregende neue Sicht kulminiert in dem mehrfach wiederholten, durchgängig und plausibel vermittelten Plädoyer der Autoren für einen "Paradigmenwechsel in der Bewertung Bismarcks: Man sollte ihn weniger einseitig als genialen oder 'charismatischen' Akteur ansehen (sei es, um ihn in den Himmel zu heben, sei es, um ihn zu dämonisieren), sondern vielmehr stärker als Reagierenden, als jemand, der auch der Spielball anderer, gleichfalls politisch geschickter Akteure gewesen ist" (109).
So verweist Elisabeth Fehrenbach in ihrem einleitenden Referat darauf, dass Bismarck die Grundsignatur der politischen Kultur im Deutschen Reich mit all ihrer nationalen Monumentalsymbolik und ihren politischen Festen weniger aktiv prägte, als dass er ihr selbst unterworfen war. Nicht zuletzt sein zentrales politisches Instrument der Diffamierung politischer Gegner als "Reichsfeinde" bediente weit verbreitete Denkschemata und wurzelte in der gängigen, militärisch grundierten "Freund-Feind-Agitation" einer durch Kriege entstandenen "wehrhaften Nation", in deren Bedrohungsängsten wie Harmoniebedürfnissen (1-16, besonders 6, 11, 13).
In den Beiträgen zu den einzelnen Parteien wird durchgehend auf die komplexen Interdependenzen der parlamentarischen Verhältnisse verwiesen. Der langjährige politische Partner Bismarcks, die nationalliberale Partei, wurde, so Dieter Langewiesche (73-89), nicht nur vom Kanzler benutzt und manipuliert, sie bestimmte auch in den Jahren der Reichsvereinheitlichung bis 1878 eigenständig und maßgeblich die Fundamente des Staates mit und bewirkte bewusst eine "Reformpolitik des stillen Verfassungswandels" (79). Im Vordergrund habe dabei der Wille zur schrittweisen "materiellen Verfassungsfortbildung" (80) gestanden mit dem letzten Ziel, die Regierung nach den Parlamentsmehrheiten zu bilden. Dass dies nicht erreicht wurde, könne nicht die nationalliberalen Erfolge der Siebzigerjahre schmälern.
Für die zweite liberale Partei, die Linksliberalen, stellt Christian Jansen fest (91-110), auch hier sei es trotz politischer Gegensätze seit 1866 zu einer gewissen, den Parteieinfluss wahrenden Kooperation mit Bismarck gekommen, weil man diesen als Garanten der eigenen unitarischen, anti-ultramontanen und staatsfixierten Fortschrittsideen ansah. Erst 1875/76, bedingt durch die verstärkte Abgrenzung von den Nationalliberalen, eine straffere Organisation der linksliberalen Partei und eine zunehmende Ideologisierung, seien die "entschieden Liberalen" (91) zunehmend auf einen Konfrontationskurs eingeschwenkt.
Bei den Konservativen (über die Heinz Reif schreibt, 17-42) und der Zentrumspartei (derer sich Rudolf Morsey annimmt, 43-72) lagen die Dinge ebenfalls komplizierter, als dies auf den ersten Blick scheinen mag: Trotz politischer, ideeller und sozialer Verbundenheit habe es keine verlässliche konservative "Regierungspartei" gegeben. Dazu waren die Konservativen schon viel zu zersplittert, etwa in das Lager der ständisch orientierten preußischen Altkonservativen um die Gerlachs oder in dasjenige der Christlich-Sozialen Adolf Stöckers. Gerade diese beiden Gruppierungen hätten je eigene politische Interessen verfolgt, die sich keineswegs mit denen des Kanzlers deckten, ihn vielmehr zeitweise in große Schwierigkeiten brachten. Sowohl der gegenrevolutionäre Legitimismus Gerlachscher Prägung, der sich vehement gegen die neue "pöbelhafte Politik" (23) wandte, als auch der neue populistische Politikstil Stöckers mit seinen antikapitalistischen, antisemitischen und antisozialistischen Feindbildern haben Bismarcks Handlungsspielraum mitunter empfindlich eingeengt; eine platte Instrumentalisierung seitens des Kanzlers war jedenfalls nicht möglich; Stöckers Partei trug in den Achtzigerjahren sogar unmittelbar zu Bismarcks Sturz bei. Beim Zentrum mit seinem einigermaßen fest konturierten Programm (Föderalismus, sozialpolitisches Engagement, Verteidigung der kirchlichen und bürgerlichen Freiheiten), mit seinen tief gestaffelten gesellschaftlichen "Vorfeld-Organisationen" und seinen übernational-kirchlichen Beziehungen war dies ohnehin kaum praktikabel. Der Kulturkampf, von Morsey in Nachfolge Bornkamms vornehmlich als "innenpolitischer Präventivkrieg" interpretiert (49f.), führte die Spannungen nur besonders handfest vor Augen. Aus der gesellschaftlichen Isolierung der Katholiken im Reich resultierte indes nicht nur politische Desintegration, sondern auch eine gehemmte Fortentwicklung des Parlamentarismus insgesamt.
Schließlich musste Bismarck auch die SPD und die Arbeiterbewegung in sein politisches Kalkül einbeziehen (thematisiert von Klaus Tenfelde, 111-135). Seine in der Phase nach 1848 fundierte Leitlinie war dabei stets: Verhinderung eines revolutionären Umsturzes ("Umsturzphobie", 134) und Bändigung der Massen mit dem Ziel einer festen Bindung der Arbeiter an den Staat. Sämtliche "negativen" wie "positiven" Maßnahmen, die Repression durch die Sozialistengesetze wie die disziplinierende staatliche Sozialpolitik, liefen darauf hinaus.
Insgesamt lässt sich der Band als ein entschiedenes Plädoyer für eine Historisierung, für eine verstärkte Einordnung und Entmonumentalisierung der Person Bismarcks lesen. Dieser war kein Kanzler in einsamer Höhe und Erhabenheit, sondern zeigte sich in mannigfaltigen Bindungen und Beziehungen gefangen, von denen das hier thematisierte parlamentarisch-parteipolitische Interdependenzgefüge nur eines unter mehreren ist - allerdings ein besonders wichtiges, mit signifikantem Eigenleben und besonderer Eigendynamik hin zu einem System des "Vereinbarungsparlamentarismus" (K.-E. Pollmann) im Rahmen der konstitutionellen Monarchie. Es war eine politische Ordnung, die Bismarck ganz gewiss mit geschaffen hatte und die er phasenweise auch zu handhaben wusste, auf deren Funktionstüchtigkeit aber auch er selbst angewiesen war. Es zeigt sich darin eine dialektische Entwicklung, die Bismarck wohl zeitlebens etwas unterschätzte: Die eigene Regierungsposition verfassungsrechtlich unabhängig von den Parlamentsmehrheiten zu fixieren, konnte sich auf lange Sicht zum Nachteil wenden. Denn mehr Parlamentarismus hätte für die Regierung eben nicht nur mehr Bindung, sondern auch mehr Rückhalt bedeutet, nicht zuletzt gegenüber dem Monarchen. Insofern gehört auch das im abschließenden Beitrag von Konrad Canis (137-154) behandelte Thema "Bismarck und die Monarchen" in diesen Band zum Parteiwesen, zeigt er doch plastisch, wie stark Bismarcks Stellung von der Tragfähigkeit der persönlichen Beziehungen zum Kaiser abhing und davon, inwieweit dieser bereit war, einen dominanten Kanzler als antirevolutionären, die Monarchie sichernden Vermittler zwischen konkurrierenden politischen Institutionen zu akzeptieren.
Bernhard Löffler