Karl Heinrich Pohl (Hg.): Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 311 S., ISBN 978-3-525-36263-1, EUR 25,00
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Gustav Stresemann (1878-1929) hat nach wie vor geschichtswissenschaftliche Konjunktur: Nach den schon zahlenmäßig kaum noch überschaubaren Studien und Lebensbeschreibungen früherer Jahrzehnte erschienen im Abstand von wenigen Jahren voluminöse wissenschaftliche Biografien in Frankreich (Christian Baechler 1996) und England (Jonathan Wright 2002), und zuletzt (2003) hat Eberhard Kolb einen biografischen Abriss vorgelegt, der sich auch für ein breiteres Publikum eignet. Historiographisch besonders spannend waren dabei stets die Wellenbewegungen der Beurteilung dieses wohl bedeutendsten Politikers der Weimarer Republik, deren Verläufe zuletzt (1999) Andreas Körber als Ausprägung "historisch-politische[r] Sinnbildung in der öffentlichen Erinnerung" bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts untersuchte.
Mit Ausnahme von Kolb sind alle genannten Autoren auch in dem Sammelband vertreten, der die Ergebnisse einer im Jahr 2001 in Gummersbach abgehaltenen Tagung vereint. Wie nicht anders zu erwarten, fassen sie die Erträge ihrer biografischen Studien zusammen; sie vertreten dabei in unterschiedlichen Nuancen eine Sicht, der seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts vor allem Peter Krüger vorgearbeitet hatte: Nicht die früher endlos debattierte Frage der "Ehrlichkeit" oder "Unehrlichkeit" des "Weimarer" Stresemann, also die Frage nach seinen vermeintlich "letzten Zielen", führt zu tragfähigen Antworten; die Beurteilung seiner Politik muss vielmehr im Rahmen des internationalen Systems der damaligen Zeit und vor allem seiner eigenen Wahrnehmung dieses Systems vorgenommen werden. Auf dieser Folie zeigt sich aber, dass Stresemanns Außenpolitik ab 1923, die in den Verträgen von Locarno ihren sichtbarsten Ausdruck fand, allein durch die Wahl der (friedlichen) Methoden des Interessen- und Konfliktausgleichs nicht etwa zu einer Linie Wilhelm II. - Stresemann - Hitler führte, sondern vielmehr einen radikalen Bruch in dieser immer mal wieder konstruierten vermeintlichen Kontinuität deutscher Außenpolitik bedeutete.
Dieser neueren Stresemann-Beurteilung mag vieles zugrunde liegen, sicher jedoch zweierlei: Zum einen ist die Forschung zur Weimarer Republik im Lauf der Jahre "historisiert" worden; sie hat sich schrittweise aus der allzu engen Fragestellung nach dem "Warum" des Jahres 1933 und dem appellativen "Bonn ist nicht Weimar" (und darf es nie werden) geweitet, auch wenn sie diese Perspektiven wohl nie ganz außer Acht lassen wird; zum andern haben die epochalen Umbrüche von 1989/90 das zuvor auch in den meisten Forscherköpfen zementierte Dogma, wonach außenpolitische Revision und gar Grenzveränderung in Europa nur gewaltsam zu betreiben seien, grundsätzlich widerlegt und so auch Stresemanns Hoffnung auf eine Revisionspolitik mit friedlichen Mitteln rehabilitiert. Die Forschungsentwicklung zur Stresemannschen Außenpolitik, die auch die Erkenntnis der überragenden Bedeutung der weltwirtschaftlichen Komponente für das Denken des Außenpolitikers Stresemann beinhaltet (dazu ein Resümee des Forschungsstandes von Gottfried Niedhart), ist also ein treffender Beleg für die historiographisch allgemein gültige Feststellung, dass die jeweilige Gegenwartserfahrung nicht nur den Fragehorizont prägt, sondern oft auch die möglichen Antworten einschränkt oder aber das Antwortspektrum erweitert. Die jeweils zeitgenössische Perspektive des Betrachters gibt also den Blickwinkel vor, der die Antwortmöglichkeiten enthält.
Neben den mehrfachen Zusammenfassungen zur inzwischen gründlich erforschten Außenpolitik Stresemanns, die den derzeit erzielten Konsens spiegeln (den auch Peter Krüger nochmals bündelt), stehen in dem Tagungsband Desiderate der biografischen Forschung zu Stresemann im Vordergrund. Dazu gehört die Verknüpfung seiner Außenpolitik mit seinen Bemühungen um die Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik, für die immerhin gewichtige Vorarbeiten bereits vorliegen, wie Ludwig Richter und Larry E. Jones aufzeigen; Studien zu seiner Partei, der DVP, und zu seiner Strategie gegenüber den rechten Gegnern des Parlamentarismus müssten aber noch stärker in Beziehung gesetzt werden mit den Forschungserträgen zu seiner Außenpolitik, um das derzeit erreichte Zwischenfazit (das etwa lautet, Stresemanns Innen- und Außenpolitik in der Zeit der Weimarer Republik hätten ein sich wechselseitig bedingendes Verhältnis gebildet, das auf Stabilisierung in beiden Bereichen abgezielt habe) zu fixieren. Ansätze zur bisher vergleichsweise schlecht erforschten Vorkriegsbiografie Stresemanns, etwa zu seinen "jungen" Jahren in Dresden von Holger Starke und zur Herausbildung seiner sozialpolitischen Überzeugungen und Konzeptionen von Michael Prinz, belegen, dass immer noch Raum für eine weitere Stresemann-Biografie bleibt.
Gebündelt werden die Ansprüche an eine solche Biografie in drei Beiträgen von Wolfgang Michalka, Henry Ashby Turner, Jr. (der allerdings mit einer doch sehr vordergründigen kontrafaktischen Überlegung, nämlich "anzunehmen, Stresemann hätte länger gelebt", etwas hinter dem Niveau der übrigen Beiträge zurückbleibt) und vor allem mit einem Katalog des Herausgebers, der mit seinem großartigen Programm der breiten Einbettung der Biografie unter anderem etwa in die Bürgertumsforschung zum Kaiserreich und in die Studien zur "politischen Kultur" ein sehr hohes und an sich bewundernswertes Maß setzt. Dessen Erfüllung könnte auch der Biografik als Methode der Geschichtsschreibung einen weiteren wichtigen Impuls geben; man darf also auf die Einlösung dieses Anspruchs mit Fug und Recht gespannt sein - aber vielleicht steht auch zu befürchten, dass auf diese "ultimative" Stresemann-Biographie noch einige Zeit zu warten sein wird.
Wolfgang Elz