Karl Heinrich Pohl: Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 352 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30082-4, EUR 49,99
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Um die Gesamtbewertung vorwegzunehmen: Karl Heinrich Pohls Stresemann-Biographie ist für diejenigen, die sich mit dem Objekt seiner Betrachtung ein wenig auskennen, ein hochinteressantes Buch, weil der Autor die aktuell in der Historiographie vorherrschende Fixierung des Stresemann-Bildes [1] in Frage stellen will und dazu selbst einiges formuliert, das in Frage gestellt werden kann. Somit bietet er die wertvolle Anregung, sich erneut mit der Person Gustav Stresemann und dessen Wirken zu beschäftigen.
Ausgangspunkt für Pohl ist die Überlegung, dass die Entwicklung des Narrativs zu Gustav Stresemann in seiner vermeintlichen Eindeutigkeit, nämlich der Erzählung von einer zielgerichteten und nahezu geradlinigen Entwicklung hin zum Verständigungspolitiker und Friedensnobelpreisträger, auch darauf beruhe, dass nicht genauer hingeschaut werde, und zwar in zweierlei Hinsicht:
Zum einen sei grundsätzlich zu fragen, ob die Methodik der klassischen Biographie, also einer Erzählung entlang der Lebenslinie eines Menschen, nicht zwangsläufig eine in sich sinnvolle und stringente Entwicklung unterstelle, die der Lebenswirklichkeit nicht entspreche, weil jegliche Kontingenz von Vornherein vernachlässigt werde. Stattdessen will Pohl "dekonstruieren", will auf der Grundlage jüngerer methodischer Ansätze (Bourdieu, Luhmann) über solche Entwicklungslinien hinaus danach fragen, wie neben der "normalen" Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen durchgängige Themen, etwa nach der Selbsteinordnung des Beschriebenen in sein soziales Umfeld, nach sozialem Aufstieg und darauf basierender Stabilität der Persönlichkeit, sich im Laufe des Lebens wiederfinden. Letzteres bedingt, dass Stresemann nicht nur als Syndikus und Politiker, sondern vor allem auch über das gesamte Buch hinweg als soziales Wesen in den verschiedenen Bezügen in Betracht genommen wird. So entsteht keine klassische Biographie, sondern nur eine lockere Anbindung an die verschiedenen Lebensphasen Stresemanns, bei der an einigen Stellen Schwerpunkte gesetzt werden. Der Leser, der bisher geringe Kenntnisse über Stresemanns Lebensweg hatte, muss sich dabei jedoch die einzelnen Etappen selbst genauer bewusst machen.
Zum anderen lautet der Einwand Pohls gegen das zuletzt etablierte Narrativ der Stresemann-Biographen, dass dessen frühere Jahre und seine Tätigkeit in Dresden seit 1903 zu ungenau und lediglich als Vorgeschichte betrachtet worden seien, weil diese Biographien ihren Schwerpunkt allzu sehr auf die Weimarer Jahre gelegt hätten. Deswegen liegt bei ihm - auch vom Umfang her - der Schwerpunkt auf Stresemanns frühen Jahren, auf der von diesem selbst inszenierten und stilisierten Darstellung seiner Entwicklung als Kind und kulturell beflissener Jugendlicher und auf der Suche nach den Motiven und Zielen, nach denen er in diesen und den folgenden Dresdener Jahren sein Leben gestaltete. Wenig überraschend, wenn man Bourdieusche Kategorien ankündigt, will Pohl hier Stresemanns Suche nach "Kapital" wiederfinden: nach sozialem und kulturellem, nach ökonomischem und schließlich politischem, und in allen Bereichen ist Stresemann erfolgreich gewesen. Insbesondere gelang ihm der Aufstieg aus dem Kleinbürgertum in den Bereich des geachteten höheren Bürgertums des späten Wilhelminismus mit dessen spezifischem "Wertehimmel" - wenn auch für Pohl mit der Fragilität und Unsicherheit, eben als "Grenzgänger", die bei einem solchen Aufstieg nicht selten zurückbleiben. Zeitgleich schuf er sich eine politische Arena mit der Nationalliberalen Partei zunächst in Sachsen, dann auch reichsweit. Dabei konnte er aus seinem spezifischen Verständnis des Liberalismus, das zeitlebens nach der "Volksgemeinschaft" suchte, eine Strömung dieses Liberalismus etablieren, die bei aller grundsätzlichen Ablehnung der Sozialdemokratie doch die partielle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. deren Interessenvertretung in den Gewerkschaften postulierte. Auch die Umsetzung dieses Postulats konnte er als Syndikus des wesentlich von ihm aufgebauten Verbandes sächsischer Industrieller und des von ihm mitgeprägten Bundes der Industriellen ebenso in die Wege leiten, wie er 1911 bei der Schaffung des Angestelltenversicherungs-Gesetzes entscheidend mitwirkte. Hier war ihm die Bindung der Betroffenen an den Staat ebenfalls das wesentliche Ziel, das ihn zum Sozialpolitiker machte - eine Dimension seiner Vorkriegstätigkeit, die, wie Pohl zu Recht hervorhebt, bisher weit unterschätzt wurde.
Nach recht kurzer Beschäftigung mit Stresemann im Ersten Weltkrieg sieht der Autor ihn 1918/19 und in den ersten Jahren der Weimarer Republik zunächst als deren Gegner. In diesen Passagen vergreift sich Pohl gelegentlich in der Terminologie, wenn er Demokratie und Republik gleichsetzt: Bekanntermaßen ist das nicht das Gleiche, wie man sich am Beispiel England leicht klarmachen kann. Zudem hält er seine Kontakte zu Freikorpskämpfern, die hier erstmals in einer Biographie intensiver angesprochen werden, sowie zum Kronprinzen für dubios, ebenso seine Geldgeschäfte in der unmittelbaren Nachkriegszeit; beides lieferte für Pohl ein gewisses Potential an Erpressbarkeit. Stresemanns "Geburt" als Verständigungspolitiker verortet er in der Ruhrkrise. Aber auch diese (innere und äußere) Verständigungspolitik des Reichskanzlers und des Außenministers betrachtet er als zweischneidig: Nach innen lastet er ihm die Zerstörung des "linksrepublikanischen Projekts" in Sachsen im Herbst 1923 an, das - so die Vorstellung Pohls - auf eine Stärkung der Republik durch zusätzliche Optionen zielte; nach außen zweifelt er angesichts von Stresemanns Verhalten gegenüber Polen und in der Frage der Ostgrenze, ob die Charakterisierung als europäischer Verständigungspolitiker überhaupt zutreffe und dies nicht vielmehr reduziert werden müsse auf die westeuropäische Verständigung. Einige Gedanken über die dürftige Verankerung Stresemanns, den er trotz aller Ambivalenz für den bedeutendsten Politiker der Weimarer Republik hält, in der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit runden das Buch ab.
Zahlreiche weitere und zumeist anregende Einzelbeobachtungen Pohls könnten erwähnt werden. Der verbleibende Platz soll jedoch genutzt werden, um einige kritische Rückfragen aus Sicht des Rezensenten zu formulieren. Zunächst zum Methodischen: Führt eine Orientierung an Bourdieus "Kapital"-Theorie nicht zwangsläufig dazu, dass der betreffende Mensch allzu sehr auf den "homo oeconomicus" (im Sinne der Bourdieuschen Kapital-Arten) reduziert wird? Und wird daraus nicht eine neue Art der "Biographie", die als Gattung ähnlich gleichförmig werden wird wie jene, die Pohl für fragwürdig erklärt, weil sie ein stringentes Leben postuliert? Oder allgemeiner formuliert: Führt nicht jede Vorannahme, ob sie nun unbewusst eingenommen wird oder sich explizit an einer Theorie orientiert (die für Historiker ja auch zu den Vorannahmen zählt), zu einem "sehepunkt", und ist die danach entstehende Biographie nicht ohnehin immer nur unter Berücksichtigung dieser Perspektive zu lesen? Um es schließlich noch an einem Beispiel verständlicher zu machen: Man kann Stresemanns vielfache Beschäftigung mit Goethe, auch wenn sie nach Meinung eines Großteils der Literaturwissenschaft nichts über den Tag Hinausreichendes schuf, funktional beurteilen, weil Stresemann damit Bildungsbürgertum demonstriert und sich "kulturelles Kapital" erworben habe; es könnte sich aber auch um "Dilettantismus", um Liebhaberei im ursprünglichen Wortsinn und Beschäftigung mit einem Thema gehandelt haben, das ihn faszinierte. Und entspringen die poetischen Versuche Stresemanns, die nun wohl tatsächlich nicht die lyrischen Höhen begabterer Zeitgenossen erreichten, tatsächlich dem Versuch, auch hier kulturelles Kapital anzuhäufen, oder sind sie vielleicht eher eine lässliche Sünde eines in dieser Hinsicht nicht sonderlich Selbstkritischen?
Nur an einigen wenigen Stellen sind Pohl handwerkliche Fehler unterlaufen. Wenn er z.B. die zwei im Originalton überlieferten Reden Stresemanns analysiert (bzw. von einer Arbeitsgruppe analysieren lässt) und als Ergebnis herauskommt, beide seien seltsam starr, wenig moduliert und wohl vom Blatt abgelesen, dann gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung, die man aus einer besseren Kenntnis der beiden Reden beziehen kann: Sie sind im Film- bzw. Tonstudio und nicht vor Publikum entstanden. Im ersten Fall handelt es sich um einen der damals revolutionär neuen Tonfilme und im zweiten Fall um eine Wahlkampf-Schallplatte - mit den damaligen technischen Möglichkeiten wären jedes Räuspern und jeder Versprecher kaum zu korrigieren gewesen. Und wer sich heutzutage die alljährlichen Fernsehansprachen zu Weihnachten und Jahreswechsel ansieht, weiß, dass sogar in Zeiten des Teleprompters solche aufgezeichneten Reden immer noch anderen inszenatorischen Gesetzen und einer anderen Rhetorik unterliegen als sonstige Politikerreden.
Gelegentlich gleitet Pohl auf der Suche nach Originalität auch in Sphären ab, in die man ihm nicht mehr so recht folgen mag: Wenn er aus der Beschreibung des Pyknikers Stresemann und der Diskrepanz zwischen der Figur und den schlanken Händen innere Spannungen erahnen will, fragt man sich doch nach der theoretischen Grundlage für eine solche Vermutung.
Das Kapitel über Stresemanns Tätigkeit ab 1923 ist schließlich dasjenige, das am stärksten zur kritischen Nachfrage anhält. Das "linksrepublikanische Projekt" in Sachsen von 1923 konnte man damals (und kann es noch heute) mit guten Gründen als Auftakt zum Versuch des "deutschen Oktobers" sehen, mit dem die Komintern die Bolschewisierung Deutschlands anstoßen wollte; angesichts der ohnehin chaotischen Verhältnisse im Reich hätte dies den Todesstoß für die Republik bedeuten können. Dass Stresemann in seiner Innenpolitik dagegen tatsächlich für die Verankerung der geltenden Verfassung arbeitete, mag man beispielhaft an seiner Rede vom 6. Juli 1926 vor dem ihm in diesem Punkt ablehnend gegenüberstehenden Verein deutscher Studenten ablesen: Die Verteidigung der bestehenden Ordnung ging weit über ein Lippenbekenntnis hinaus. Dass uns der vorbehaltlose Patriotismus und die Staatsverherrlichung (zumal eines Liberalen) dieser und so mancher anderen Rede heute, neun Jahrzehnte später, fremd klingt, liegt wie so häufig in solchen Fällen an unserer eigenen politischen Sozialisation, die eben auf 90 Jahren weiterer historischer Erfahrungen beruht.
Erst recht scheinen Pohls Zweifel an Stresemanns Außenpolitik seit 1925 wie der Kampf gegen eine Chimäre: Wohl keine der neueren Biographien betrachtet Stresemann völlig anachronistisch und reiht ihn vorbehaltlos in die Galerie der Vorväter der Europäischen Einigung nach dem Muster der Jahre nach 1945 ein. Stresemann war - wie alle europäischen Außenministerkollegen seiner Zeit - ein Vertreter der nationalen Interessen seines Landes, und in diesem Sinne betrieb er ganz klar Revisionspolitik, weil er sie als im Interesse seines Landes liegend empfand (und übrigens mit gutem Grund auch als Voraussetzung zur Stabilisierung der inneren Staats- und Gesellschaftsordnung). Deswegen ist es müßig, über seine außenpolitischen "letzten Ziele" zu spekulieren - sie sind allzu offenkundig: Wiedergewinnung der vollen Souveränität, Revision der Ostgrenze, Rückkehr zur alten Großmachtstellung auf dem Umweg über die Wirtschaftskraft Deutschlands. Aber zu seinem Verständnis von nationaler Politik gehörte eben auch, dass die einzige Methode auf dem Weg zu diesen Zielen - allein schon wegen der Abhängigkeit vom Geldgeber USA - eine nichtmilitärische sein müsse. Nun kann man jegliche Revisionspolitik (dann allerdings ein wenig anachronistisch) grundsätzlich ablehnen; nur sollte man dabei bedenken: Auch die Vereinigung von 1989/90 war das Ergebnis von (nichtmilitärischer) Revisionspolitik. Und schließlich unterschied Stresemann eine Fähigkeit von fast allen deutschen Zeitgenossen und fast allen Politikern der Weimarer Republik: Er war in der Lage, sich in die Probleme und Zwänge seiner Verhandlungspartner hineinzuversetzen und sie zu berücksichtigen (und fand darin für wenige Jahre mit Briand einen kongenialen Partner). Für Politik auf europäischer Ebene ist das eine geradezu zeitlos notwendige Fähigkeit, um Konflikte und Interessengegensätze in Europa friedlich zu beseitigen.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu etwa die Sammelbesprechung in sehepunkte 4 (2004), 10 [15.10.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/10/7148.html.
Wolfgang Elz