Axel Flügel: Bürgerliche Rittergüter. Sozialer Wandel und politische Reform in Kursachsen (1680-1844) (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte; 16), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, 304 S., 4 Abb, 37 Tab, ISBN 978-3-525-35681-4, EUR 39,00
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Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist ein von Heinrich von Treitschke 1885 formuliertes Urteil über den Gegensatz "von sozialer Rührigkeit und politischer Erstarrung" (9) im Königreich Sachsen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Belegt wurde dieses Missverhältnis damit, dass die meisten Rittergutsbesitzer als Angehörige des bürgerlichen Standes nicht mehr landtagsberechtigt gewesen seien. Dadurch sei der sächsische Landtag als politisch wirksame Institution gleichsam zum Erliegen gekommen. Flügel kann eingangs gleich nachweisen, dass diese Behauptung Treitschkes durch die verkürzte Übernahme älterer Darstellungen bis an die Grenze des Unzutreffenden verfremdet worden war. Gleichwohl ist damit ein Problem der ländlichen Gesellschaft im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert angesprochen worden, das nicht nur in Sachsen zu beobachten war: das Eindringen von Bürgerlichen in den bislang durch Privilegien dem Adel vorbehaltenen Grundbesitz und die damit verbundene Erosion der überkommenen politischen Institutionen des Ständestaates.
Für Flügel entsteht daraus ein Komplex aus mehreren Fragen, die er in seiner empirischen Studie beantworten will. Es geht einmal um die politische Repräsentation, dann um die soziale Zusammensetzung der Repräsentanten, zugleich um die Abgrenzung der traditionellen sozialen Gruppen Adel und Bürgertum zueinander im genannten Zeitraum und schließlich um die Hauptfrage nach der möglichen Herausbildung einer gemischten bürgerlich-adligen Führungsschicht. Um diesen Fragenkomplex methodisch bewältigen zu können, betrachtet er das Phänomen Rittergut als soziale Institution und benutzt für dessen Analyse den institutionalistischen Ansatz. Dieser versteht soziale Institutionen nicht als feststehende, klar definierte Gegenstände, sondern sieht sie als sich ständig wandelnde Gebilde. Sie können sowohl materielle Bestandteile beinhalten als auch durch Rechtsnormen und zeitgenössische Vorstellungen zumindest temporär bestimmt sein.
Durch den institutionalistischen Ansatz wird der soziale Wandel einer Gesellschaft in seiner Mehrdimensionalität analysierbar. Flügel benennt drei Dimensionen, die er untersuchen will: Erstens die konkrete formale Organisation, wie sie vor allem durch Rechtsnormen fassbar wird. Zweitens den sozialen Umfang, wie er sich in der Zusammensetzung der Rittergutsbesitzer und deren Veränderung manifestiert. Und drittens geht es ihm um die verschiedenen Bedeutungen, welche die Institution Rittergut in der zeitgenössischen Gesellschaft besaß, und deren Veränderungen. Flügel nennt dies die 'politische Dimension'.
Die folgenden vier Hauptabschnitte des Buches, die zugleich auch den empirischen Teil der Untersuchung ausmachen, gliedern sich nach den genannten Dimensionen des institutionellen Wandels. Zunächst wird im Abschnitt II (39-84) die rechtliche Dimension (Lehnrecht, Allodifikation der Lehen und rechtliche Grundlagen der Teilnahme am Landtag) abgehandelt. Wie überall in den Reichsterritorien war auch das kursächsische Lehnrecht ein Konglomerat aus zahlreichen, historisch gewachsenen Einzelbestimmungen unterschiedlicher Provenienz, die erst im 18. Jahrhundert einem Kodifizierungsprozess unterworfen wurden. Im Zuge der systematischen Beschäftigung gelehrter Juristen mit diesem Rechtsbereich wurden überhaupt erst verschiedene, vorher eher unsystematisch gebrauchte Begriffe näher bestimmt. Dazu zählte eben auch der Begriff "Rittergut". In dieser Hinsicht bestand eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den Vorgängen in der preußischen Monarchie. Zusätzlich beschleunigt wurde dieser Vorgang in Sachsen ebenso wie in Preußen durch die im 18. Jahrhundert einsetzende Allodifikation der Lehen. Unterschiede bestanden aber hinsichtlich der Initiative zur Allodifikation, die in Sachsen nicht vom Lehnsherrn, sondern von den Vasallen ausging. Dahinter steckten unterschiedliche politische Implikationen. Während in Preußen das vorrangige Ziel König Friedrich Wilhelms I. die Abschaffung des Lehnsaufgebotes und dessen Ersatz durch eine Geldzahlung, den Lehnskanon, war, beantragten die sächsischen Vasallen die Umwandlung ihrer Güter hauptsächlich aus finanziellen Erwägungen. Zudem wurde in Sachsen mit der Allodifikation nicht automatisch das Lehnsverhältnis beendet. Dies geschah erst allmählich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Von besonderer Bedeutung waren für die vorliegende Untersuchung die Rechtsgrundsätze, welche die Teilnahme an den Landtagen regelten. Ähnlich wie in Pommern und Brandenburg zerfiel der kursächsische Adel der Frühen Neuzeit in dieser Hinsicht in zwei Gruppen. In Sachsen hießen sie Schrift- und Amtsgesessene, in den beiden oben genannten Territorien Schloss- und Amtsgesessene. Die Kriterien der Unterscheidung hinsichtlich der Teilnahme an den Landtagen waren dieselben. Die Schrift- beziehungsweise Schlossgesessenen wurden persönlich eingeladen, die Amtsgesessenen über den jeweiligen landesherrlichen Amtmann. Letztere ließen sich zudem über selbst aus ihren Reihen gewählte Deputierte vertreten. Die Schriftsässigen konnten die Landtage persönlich besuchen, auch wenn sie Frauen oder bürgerlichen Standes waren. Allerdings war gerade die Teilnahme bürgerlicher Rittergutsbesitzer in den juristischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts heiß umstritten und wurde durch ein kurfürstliches Privileg von 1700 sowie die Landtagsordnung von 1728 formal zugunsten des Adels entschieden.
Im Abschnitt III (85-119) wird viel Statistisches zu den Veränderungen des Rittergutsbesitzes vom Ende des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts geboten. Im Mittelpunkt steht natürlich die Frage, inwieweit, wie rasch und in welchen Konjunkturen sich der bürgerliche Rittergutsbesitz ausdehnte. Untersuchungsgebiet ist dabei der Leipziger Kreis. Zuvor werden noch die kursächsischen Rittergüter in ihrer Gesamtheit unter verfassungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten beleuchtet. Der Anteil der bürgerlichen Besitzer stieg bei einer Gesamtzahl von 193 Rittergütern im Leipziger Kreis, die zugrunde gelegt wurde, von absolut 29 im Jahre 1681 (= 15 %) auf absolut 96 im Jahre 1844 (= 49,7 %). Bis 1914, so weit wurde die Statistik weitergeführt, kam nur noch ein weiteres Gut hinzu. Zugleich sank die Gesamtzahl auf 187. Dabei stieg der bürgerliche Anteil überhaupt erst seit 1724 an, nachdem er in diesem Stichjahr sogar noch auf 27 gefallen war, und bildete bis 1844 eine gleichmäßig ansteigende Kurve. Allerdings kann dieser Kurvenverlauf (Abb. 3, 108) auch durch die relativ langen Zeitintervalle von 25 bis 40 Jahren zwischen den Stichjahren ausgleichend beeinflusst worden sein. Die Wahl kürzerer Abstände hätte womöglich den konjunkturellen Verlauf differenzierter darstellen können.
Im Abschnitt IV (121-170) wird, unterschieden nach Adligen und Nobilitierten, Frauen sowie Bürgerlichen, der Frage nach der sozialen Zusammensetzung der Rittergutsbesitzer nachgegangen. Hier kann nachgewiesen werden, dass der Rückgang der landtagsfähigen Güter nur zum Teil auf den Erwerb durch Bürgerliche zurückzuführen ist. Einen nicht unerheblichen Anteil hatten ebenso die zu großen Teilen aus dem Bürgerstand stammenden Nobilitierten des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die im 18. Jahrhundert vom politischen Leben formal ausgeschlossenen weiblichen Besitzer. Abschnitt V (171-209) behandelt die politischen Reformen zwischen 1793 und 1820, die schließlich zum Wegfall des adligen Landtagsprivilegs führten und der gemeinsam aus Adel und Bürgerlichen gebildeten Schicht der Rittergutsbesitzer weiterhin ein nicht unerhebliches Maß an politischem Einfluss beließen.
In der Zusammenfassung werden die Ergebnisse der Studie nochmals komprimiert dargeboten, und es wird auch ein, zumindest kurzer, Vergleich mit der Entwicklung in anderen Reichsterritorien in Bezug auf das Eindringen der Bürgerlichen in den adligen Grundbesitz in der Frühen Neuzeit vorgenommen. Schließlich kehrt Flügel auch zu seinem Ausgangspunkt, dem Zitat Treitschkes, zurück. Er betont, dass man dieses historiografische Urteil wie jedes andere auch unter den politischen Bedingungen seiner Zeit sehen muss. Treitschke ging es in erster Linie darum, den Partikularismus in Deutschland zu überwinden und dessen Rückständigkeit in Form der Verfassung der deutschen Bundesstaaten aufzuzeigen. Beschlossen wird der Band durch einen tabellarischen Anhang sowie ein, leider nicht immer ganz zuverlässiges, Quellen- und Literaturverzeichnis. Mehrfach hat der Rezensent vergeblich versucht, die in den Fußnoten gekürzten Literaturangaben mit Hilfe des Verzeichnisses aufzulösen (ganz extrem: Anm. 61, 33).
Dirk Schleinert