Rezension über:

Andreas Müller: Die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen 1651-1803. Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge; 34), Münster: Aschendorff 2017, 744 S., zahlr. Farbabb., zahlr. Tabl., ISBN 978-3-402-15125-9, EUR 69,00
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Axel Flügel: Anatomie einer Ritterkurie. Landtagsbesuch und Landtagskurien im kursächsichen Landtag (1694-1749) (= Studien und Schriften zur Geschichte der Sächsischen Landtage; Bd. 2), Ostfildern: Thorbecke 2017, 582 S., ISBN 978-3-7995-8461-6, EUR 70,00
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Rezension von:
Elizabeth Harding
Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Elizabeth Harding: Zwei Arbeiten zu frühneuzeitlichen Ritterschaften (Rezension), in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31218.html


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Zwei Arbeiten zu frühneuzeitlichen Ritterschaften

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Seit der Abwendung der Landständeforschung von der Vorstellung eines prinzipiellen Antagonismus zwischen Ständen und Landesherr (Dualismus-These) wächst das Interesse an den eigentlichen Teilnehmern der Versammlungen und den Funktionsweisen frühneuzeitlicher Eliten. Besonderes Augenmerk gilt den Rittergutsbesitzern bzw. dem Adel, der auf den Landtagen vor allem in den Ritterschaften zu finden ist. Häufig werden zur Erforschung der Geschichte der Korporationen die Prosopographie als Methode gewählt und die personellen Konstellationen analysiert, um die Bedeutung von Netzwerken, Ämter(-häufungen) und Praktiken der Rekrutierung herauszuarbeiten. So auch in den hier vorzustellenden zwei Arbeiten zu frühneuzeitlichen Ritterschaften. Während sich die Dissertation von Andreas Müller auf den nordwestdeutschen Raum konzentriert, blickt Axel Flügels Monographie nach Sachsen. Als Quellengrundlage werden entsprechend Landtagsprotokolle herangezogen und die darin enthaltenen Teilnehmerlisten ausgewertet. Im Falle der sächsischen Akten hängt der Fokus auf Namen und Konstellationen damit zusammen, dass die Protokolle tatsächlich nur über die Teilnahme und Ergebnisse berichten, nicht aber über die Interaktion in den Sitzungen, d. h. die Entscheidungsprozesse oder die sonstigen Praktiken der Geselligkeit.

Andreas Müller nimmt sich mit seiner materialreichen Studie zum Herzogtum Westfalen eines geistlichen Territoriums an, um einen Beitrag zum "Verständnis geistlicher Staatlichkeit" (15) zu leisten: Er geht einerseits auf die Korporation als Ganzes und deren Abschließungspraktiken sowie andererseits auf die soziale Position der Landtagsbesucher ein. Die Arbeit ist auch deshalb ein wichtiges Nachschlagewerk, da sie zudem kurze Genealogien (samt farbigen Wappenabbildungen) zu 67 Adelsgeschlechtern enthält.

Das Herzogtum Westfalen gehörte zwar zum Erzbistum Köln, als "Nebenland" behauptete es jedoch eine starke Autonomie, auch gegenüber der Geistlichkeit, die keine Landstandschaft besaß. Während andernorts bereits Ausschussgremien an die Stelle von ordentlichen Vollversammlungen traten, behauptete sich in Westfalen die Ritterschaft als Beschlussfassungsorgan. Deren sog. Quartalskonvente befassten sich mit Angelegenheiten der Ritterschaft allein auf der Grundlage von Vollmachten.

Die Arbeit zu Westfalen bestärkt die Auffassung, dass der Dualismus-Ansatz eine Blickverengung darstellte. Die Landtage waren deutlich mehr als "Steuertage". Dies zeigt sich etwa darin, dass viele Ritter eng verwandt waren und den Landtag als "Familientreffen" (590) nutzen, bei welchem auch Eheverbindungen angebahnt wurden. Bestärkt wird dies im Kapitel zu den Ahnenproben, also dem Nachweis einer adligen Herkunft über mehrere Generationen in Form von Ahnentafeln. Am Beispiel bildlich vorgeführter Konflikte zwischen Aspiranten und Rittern wird deutlich, wie letztere die Entscheidungshoheit in Bezug auf die Definition von Adel beanspruchten. Indem sämtliche Anträge mittels eines von der Ritterschaft angelegten Wappenbuchs von bereits akzeptierten Wappentafeln verglichen wurden, unterstrich der Adel, dass im Konfliktfall ein Beweis edler Herkunft schwerlich zu erbringen war. Insofern diente die Teilnahme an den Ritterschaftsversammlungen auch zur Behauptung des adligen Standes.

Bislang nicht bekannt war, wie groß die ständischen Unterschiede zwischen den Mitgliedern waren. Nicht wenige westfälische Ritter erhielten Ratsstellen, einige gelangten an Ministerposten oder auf Bischofsstühle der Region. Dies macht indirekt auch auf die sicherlich nicht immer leichten Bedingungen der internen Kommunikation aufmerksam. So gehörte als aufgeschworenes Mitglied mit Johann IV. Graf von Rietberg und Ostfriesland (1618-1660) der Korporation ein regierender Landesherr an. Weniger überzeugend ist allerdings die in diesem Zusammenhang erstellte Rangliste der Adligen, bei der für gewisse Ämter und Funktionen Punkte vergeben wurden, ohne diese mit den zeitgenössischen Rangfolgen und -disputen abzugleichen. Letztlich landet Müller in einem Zirkelschluss und bestätigt nur die eigenen Vorannahmen in Bezug auf die soziale Hierarchie.

Am Beispiel Kursachsens geht Axel Flügel ebenfalls auf die personelle Zusammensetzung einer Landtagskurie im (langen) 18. Jahrhundert ein, und zwar auf allgemeiner Ebene und konkret in Hinblick auf die Konstellationen im Jahr 1742 (etwas sperrig als "Anatomie"-Forschung bezeichnet). Ziel sei es, die "stille[n] Ereignisse, welche die Alltagspraxis oder den Normalbetrieb" (56) ausmachten, zu thematisieren. Die kursächsische Ritterschaft war in unterschiedlichen Gremien verfasst: Die Allgemeine Ritterschaft untergliederte sich nach der regionalen Herkunft der Mitglieder in weitere Kreise. Das Landtagverfahren sah vor, dass man von der Allgemeinen Ritterschaft weiter aufsteigen konnte, zunächst in den Weiteren Ausschuss, anschließend in das oberste Gremium der Ritterschaft, den Engeren Ausschuss. Wie in Westfalen, wurden auch in Kursachsen im 18. Jahrhundert dennoch regelmäßig Sitzungen der Allgemeinen Ritterschaft abgehalten. [1]

Eine weitere Gemeinsamkeit ist das vielschichtige Interesse der Adligen an den Sitzungen. Für Sachsen kann gezeigt werden, dass auch jene Adlige zum Landtag (zur Sitzung der Allgemeinen Ritterschaft) erschienen, die rechnerisch kaum Chancen hatten, in die höheren Gremien aufzusteigen. Die Option auf eine politische Karriere im Landtagsgeschäft erklärt also nicht grundsätzlich, weshalb die Sitzungen aufgesucht wurden. Dabei verfügten die Rittergutsbesitzer über ein hohes Maß an Eigenständigkeit und konnten in vielerlei Hinsicht ihre Zusammensetzung und interne, organisationsspezifische Hierarchie eigenständig bestimmen. Dass die Verfahren eigenständig modifiziert bzw. übergangen werden konnten, zeigt sich darin, dass man für die Besetzung von Stellen in den höheren Gremien sowohl die Anciennität als auch die Kooptation wählen konnte, was sicherlich für Konfliktstoff sorgte.

Demgegenüber fällt die deutlich größere innere Differenzierung auf. Es gehörten der Ritterkurie neben Mitgliedern der Reichsritterschaft und des Land- und Hofadels auch bürgerliche Rittergutsbesitzer an, und dies auch noch nachdem 1700 die Sechszehner-Ahnenprobe eingeführt wurde. Zudem bestand eine enge Verflechtung zwischen der höfischen und der landständischen Sphäre, weshalb auch die Reise zum Landtag einer Karriere am Hof dienlich sein konnte. Etwa findet man in einem Fall jenen Adligen, der als landesherrlicher Vertreter der Korporation die Landtagsproposition überreicht, am nächsten Tag als Landtagsteilnehmer bei den Ständen. Tatsächlich hat fast die Hälfte der Ritter des Weiteren Ausschusses eine Anstellung im landesherrlichen Dienst oder am Hof gehabt. Auch die eigens selbstauferlegte Verpflichtung, den Adel durch eine förmliche Ahnenprobe nachzuweisen, überging man bei den Räten.

Insofern ist dies ein weiterer Beleg für die große Heterogenität des sächsischen (Hof-)Adels. Diese ständische Ungleichheit innerhalb der Gemeinschaft und folglich das geringe Ehrkapital, das aus der Mitgliedschaft gezogen werden konnte, ist wichtig. Denn es kann die These Flügels plausibel machen, wonach der Landtag für die Rittergutsbesitzer zwar politisch-sozial bedeutsam gewesen sei, letztlich aber einen sehr geringen Stellenwert in der Selbstdarstellung des kur-sächsischen Adels gehabt habe.

Unklar bleibt bei dieser Studie, weshalb die Arbeit mit einer 60 seitigen Diskussion der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Landtagsgeschichte rund um die Dualismus-These beschließt, die sich als ein "Beitrag und Anstoß zur Wissenschaftsgeschichte der Landtagsforschung" (450) verstehen will. Denn der Autor räumt ein, dass "in der Forschung niemand mehr ernsthaft" (451) diesen Ansatz als Sichtweise vertritt.

Beide Bände konzentrieren sich mit ihrem prosopographischen Ansatz bzw. mit ihrer Fokussierung auf die "stillen Ereignisse" (A. Flügel) in erster Linie auf die personellen Konstellationen. Neben der Frage, 'wer' auf den Landtagen auftrat, liefern sie indes ebenso Antworten auf die Frage des 'Warum', und dies deutlich vielschichtiger als im Kontext neuerer kollektivbiographischer Studien bislang geschehen. Damit eröffnen sie zugleich weitere Perspektiven, etwa auf die Frage, wie auch die Dynamiken der politisch-sozialen Interaktion der Zusammenkünfte noch mehr in den Blick geraten könnten.


Anmerkung:

[1] Mit den kursächsischen Landtagsteilnehmern wird ein Gegenstand untersucht, der durch die Forschungen von Josef Matzerath und dem von ihm mit-initiierten Graduiertenkolleg "Geschichte sächsischer Landtage" schon länger im Fokus steht: https://tu-dresden.de/gsw/phil/ige/ma/forschung/geschichte-der-saechsischen-landtage/projektbeschreibung, (aufgerufen am 15.05.2018).

Elizabeth Harding