Rezension über:

Stefan Brakensiek / Axel Flügel (Hgg.): Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 34), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2000, 297 S., ISBN 978-3-506-79606-6, DM 59,00
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Rezension von:
Thomas Weller
SFB 496, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Weller: Rezension von: Stefan Brakensiek / Axel Flügel (Hgg.): Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2000, in: sehepunkte 1 (2001), Nr. 2 [15.02.2001], URL: https://www.sehepunkte.de
/2001/02/2283.html


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Diese Rezension erscheint auch in PERFORM.

Stefan Brakensiek / Axel Flügel (Hgg.): Regionalgeschichte in Europa

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Die Regionalgeschichte gehöre derzeit nicht zu den "Renommierstücken des Fachs", so räumen die Herausgeber des hier anzuzeigenden Sammelbands, der auf eine Bielefelder Tagung von Februar 1998 zurückgeht, gleich im Vorwort ein. Zweifellos ging die methodische Erneuerung der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik mit einem im Prinzip ungebrochenen Trend einher, sich kleineren, räumlich begrenzten Untersuchungsgebieten unterhalb von Territorialstaaten und Nationen zuzuwenden. Dies gilt nicht zuletzt für den Bereich der Frühen Neuzeit. Doch verstehen sich heute wohl die wenigsten Verfasser derartiger Arbeiten dezidiert als Regionalhistoriker. Der Begriff verweist von seiner Entstehung her auf eine Auseinandersetzung zurück, die in den Siebzigerjahren zwischen Vertretern der älteren Landesgeschichte und einer jüngeren Generation von bundesrepublikanischen Historikern geführt wurde. Unter dem Etikett "Regionalgeschichte" versuchten letztere sich mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen und Herangehensweisen bewusst von jener älteren landesgeschichtlichen Tradition abzugrenzen. Genau wie die "Historische Sozialwissenschaft" ist mittlerweile aber auch die "Regionalgeschichte" im Zeichen von microstoria und kulturalistischer Wende in die Defensive geraten und sieht sich von einem Trend hin zu räumlich immer kleineren Einheiten zunehmend ihres Gegenstandes beraubt, wie Stefan Brakensiek in seinem Beitrag "Regionalgeschichte als Sozialgeschichte" konstatiert.

Dies gilt erst recht, wenn man, wie das im Rahmen des Bandes geschieht, über den nationalen Tellerrand hinausblickt. In anderen westeuropäischen Ländern hat es eine vergleichbare Kontroverse zwischen Landes- und Regionalgeschichte nie gegeben und auch gegenwärtig, so Wolfgang Kaiser in seinem Überblicksbeitrag "Regionalgeschichte, Mikro-Historie und segmentierte Öffentlichkeiten", werde dort weniger über Regionalgeschichte als über Mikro-Historie diskutiert. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass, wie die Herausgeber schreiben, nicht jeder Kollege, den man seinerzeit um eine Teilnahme an der Tagung gebeten habe, "hocherfreut" gewesen sei, sich "derart direkt als Regionalhistoriker angesprochen zu sehen" (X).

Was also kann der Begriff "Region" als heuristisches Instrument angesichts der skizzierten Entwicklung (noch) leisten und wo liegen heute Möglichkeiten und Grenzen der "Regionalgeschichte" als eigenständiger Forschungsrichtung? Es ist das Verdienst der Herausgeber, auf diese Frage nicht eine, sondern eine ganze Fülle von zum Teil sehr unterschiedlichen Antworten zu präsentieren und dabei zugleich die engen Margen der angesprochenen innerdeutschen Kontroverse zu verlassen. Lediglich zwei Beiträge (von Stefan Brakensiek und Werner Trossbach) befassen sich mit der bundesdeutschen Forschungslandschaft. Der Rest des Bandes bietet einen Überblick über die neuere Forschung und Diskussion in Großbritannien (Pat Hudson und Steve A. King), Frankreich (Gérard Gayot und Wolfgang Kaiser), Spanien (Anja Huovinen und Antonio Sáez-Arance), den Niederlanden (Francois Hendrickx), der Schweiz (Dorothee Rippmann und Albert Schnyder), Tschechien (Václav Buzek) und Russland (Guido Hausmann).

Bei den Beiträgen von Huovinen und Sáez-Arance, sowie Buzek und Hausmann fällt zunächst ins Auge, welch enormen Stellenwert die Regionalgeschichte heute in Ländern hat, in denen autoritäre Regime die Entfaltung regionaler Identitäten lange Zeit zu unterdrücken versuchten. Die Beschäftigung mit Regionalgeschichte war dort nur unter erheblichen Schwierigkeiten oder gar nicht möglich, gleichzeitig stellte sie aber häufig das bevorzugte Betätigungsfeld für regimekritische Historiker dar, die sich oft auch interessiert an methodischen Neuerungen etwa der Annales-Geschichtsschreibung zeigten. Dies gilt gleichermaßen für Spanien während der Franco-Diktatur wie auch für die CSSR, wobei hier jedoch ähnlich wie in Russland eine Auseinandersetzungen mit neueren Strömungen der westlichen Geschichtswissenschaft erst später, das heißt nach 1989, einsetzte. Heute ist die Regionalgeschichte in den genannten Ländern vor einer ideologischen Indienstnahme unter umgekehrten politischen Vorzeichen nicht immer gefeit und dient nicht selten regionaler Identitätsstiftung, zum Teil auch auf Kosten wissenschaftlicher Standards und methodischer Innovation.

Ganz anders hingegen stellt sich die Situation beispielsweise in Großbritannien, aber auch in Frankreich oder der Bundesrepublik dar. Die wegweisende und für die regionalgeschichtliche Forschung gleichsam konstitutive Erkenntnis, dass demographische oder sozioökonomische Phänomene wie etwa die Protoindustrialisierung in der Regel nicht vor den Grenzen eines Staates, Territoriums oder einer anderen politischen Verwaltungseinheit halt machen, führte hier langfristig zu einer Relativierung des Regionenbegriffs. Vor allem unter Einbeziehung kultureller Wahrnehmungsmuster droht sich der Untersuchungsgegenstand langsam aufzulösen. Auch der Rettungsversuch, den Steve A. King in seinem Beitrag unternimmt, läuft letztlich auf ein fragwürdiges Primat von Demographie und quantifizierbaren ökonomischen Daten hinaus, die es nach Auffassung des Autors ermöglichen sollen, den "kulturellen Flickenteppich" auf "wirkliche Lebensresultate" zu reduzieren (152). Gemessen am Stand der Debatte über Kulturgeschichte, zumal im angelsächsischen Raum, muten derartige Überlegungen erstaunlich anachronistisch an. Der bereits angesprochene Trend zu immer kleineren Einheiten, der übereinstimmend von fast allen Autoren konstatiert wird, lässt sich dadurch wohl kaum aufhalten.

Die regionalgeschichtliche Forschung ist deswegen aber sicher nicht obsolet geworden. Denn trotz der inzwischen "prekär" gewordenen Verortung der Region zwischen den "territorial nicht mehr fassbaren Extremformen" (Werner Trossbach) des individuellen Erfahrungshorizonts auf der einen und überregionaler Personennetzwerke auf der anderen Seite bietet die Kategorie "Region" die nicht zu unterschätzende Chance, das zentrale Problem der Vermittlung von Makro- und Mikrostrukturen gleichsam auf einer mittleren Ebene zu lösen. Dass dies durchaus gelingen kann, wenn man von einem offenen Regionenbegriff mit fließenden, je nach Gesichtspunkt und Fragestellung unterschiedlich verlaufenden und historischem Wandel unterliegenden Grenzen ausgeht, dokumentiert der vorliegende Tagungsband auf eindrucksvolle Weise.

Thomas Weller