Rezension über:

Wilhelm Kühlmann / Anton Schindling (Hgg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 62), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, XII + 292 S., 28 Abb., ISBN 978-3-515-08551-9, EUR 50,00
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Rezension von:
Ivo Cerman
Tübingen / Prag
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Ivo Cerman: Rezension von: Wilhelm Kühlmann / Anton Schindling (Hgg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/6390.html


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Wilhelm Kühlmann / Anton Schindling (Hgg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance

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Die Beiträge des vorzustellenden Sammelbandes gehen aus dem gleichnamigen Arbeitsgespräch des 'Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung' und der 'Arbeitsgruppe für Renaissanceforschung' der Ungarischen Akademie der Wissenschaften hervor, das bereits im September 2001 stattfand. Die Verteilung der Beiträge ist klar strukturiert. Im ersten Teil werden die allgemeinen Rahmenbedingungen geschildert, im zweiten werden die einzelnen 'Personen und geistigen Strömungen' analysiert.

Im Beitrag von Franz Brendle (Tübingen) werden die allgemeinen politischen Zusammenhänge dargestellt. Für das Anliegen des Sammelbands bringt dieser Beitrag wichtige Informationen über die politischen Kontakte zwischen der ungarischen und der reichsständischen Opposition gegen die Habsburger im 16. Jahrhundert. Daneben wird auch die Verknüpfung von Politik und Religion verfolgt - der Beitrag schließt mit der gesetzlichen Absicherung der 'Religionsfreiheit' in Ungarn 1606/1608. Damit bereitet Franz Brendle den Boden für die weiteren Beiträge vor, die sich mit Einzelaspekten der ungarischen Reformation beschäftigen.

Im Beitrag von Matthias Asche (Tübingen) werden die Bildungsbeziehungen zwischen Ungarn, Siebenbürgen und den deutschen Universitäten untersucht. Der Verfasser spannt hier einen weiten Bogen vom Untergang der ungarischen Universitäten im Zuge der türkischen Eroberung bis zur jesuitisch-katholischen Erneuerung im 17. Jahrhundert. Der starke Zustrom ungarischer Studenten an die Universitäten im Reich sei eine Konsequenz des Mangels an eigenen Universitäten gewesen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die geografisch nahen Universitäten in den Erbländern (Olmütz, Wien, Prag), aber vor dem reformationsgeschichtlichen Hintergrund waren die lutherischen Universitäten im Reich wichtiger. Wittenberg und Heidelberg wurden zu bedeutenden Stationen der Bildungsreisen ungarischer Studenten. Auf der Grundlage einer sicheren Kenntnis der Geschichte der Universitäten im Reich schildert Matthias Asche sehr überzeugend, wie sich die Einstellung der Ungaren zu einzelnen Universitäten wandelte.

Er weist als Erster in diesem Band auf die Existenz des ungarischen Coetus in Wittenberg hin (1555-1609). Dessen Bedeutung wird dann in den meisten übrigen Beiträgen diskutiert. Wenn der Besuch von Reichsuniversitäten die lutherischen Strömungen förderte, bedeutete die Wiederbelebung der ungarischen Bildung im 17. Jahrhundert eine Stärkung des Katholizismus. Mit Gespür für die überregionalen Zusammenhänge zeigt Matthias Asche, welche Rolle die Universität Graz und ab 1623 auch Wien für diese Entwicklung spielten. Einerseits zogen sie die katholischen Studenten an, andererseits dienten sie als Vorbild für die neuen jesuitischen Lehranstalten in Ungarn (Tyrnau, Kaschau) und Kroatien (Agram).

Márta Fata (Tübingen) setzt sich in ihrem Aufsatz mit dem Einfluss der lutherischen und schweizerischen Reformation in Ungarn auseinander. [1] Einleitend fragt sie nach dem heuristischen Potenzial des Konfessionalisierungsparadigmas für die ungarische Geschichte. Auf der Basis einer breiten Kenntnis der ungarischen Historiografie schildert Fata den Stand der Diskussion in Ungarn und zeigt, dass das Paradigma hier nur sehr zögerlich aufgegriffen worden ist. Ihr selbst geht es vor allem darum, die Aspekte der 'konfessionellen Identität' nach 1526 zu untersuchen: die Rolle der Konfessionen bei der Identitätsbildung der Magyaren und Deutschen. Vielleicht wichtiger als die am Anfang vorgestellten Ergebnisse ist die Problematisierung von verschiedenen Aspekten, die sie in ihrer Argumentation diskutiert, wie zum Beispiel die Motivation der Städte für ihre Hinwendung zur Reformation, die konfessionelle Identität einzelner adeliger Magnaten oder die Zusammenhänge zwischen der ethnischen Entwicklung und den konfessionellen Verschiebungen.

Mihály Imre (Debrecen) befasst sich mit dem Topos des 'Bollwerks' gegen die Türken in der frühneuzeitlichen Rhetorik. Imres Analyse beruht auf prosaischen neulateinischen Texten. András F. Balogh (Budapest) widmet sich dem wandelnden Ungarnbild in der deutschsprachigen Literatur seit dem Humanismus. Eben hier kommt dem 'Bollwerk'-Topos eine große Bedeutung zu. Sehr anregend ist die einleitende Betrachtung zu den Unterschieden zwischen dem gegenwärtigen und frühneuzeitlichen Literaturverständnis, die die fließende Grenze zwischen der fiktionalen und sachkundigen Literatur thematisiert.

Daran schließen die Beiträge des zweiten Teils an. Ulrich Andreas Wien (Landau) untersucht die spezifische Ausrichtung der Reformation im siebenbürgischen Kronstadt, die von Johannes Honterus und Valentin Wagner durchgeführt wurde. Der Titel verwendet die Wortverbindung 'humanistische Reformation', und tatsächlich stellt der Beitrag die Wechselwirkung dieser zwei Strömungen als den spezifischen Aspekt der Reformationsbewegung in Kronstadt dar. Insbesondere Wagner habe wichtige Impulse von Melanchthon aufgegriffen, sei aber noch über seine Lehre hinausgegangen. Die Grundlage seiner Reformauffassung habe die Ethik gebildet, aber er habe bewusst die Melanchthon'sche Trennung von philosophischer und christlicher Ethik umgangen, um eine neue Synthese zu erreichen. Gerade diese Synthese gibt der Kronstädter Reformation eine spezifische Ausprägung, die in der 1571 gesetzlich abgesicherten 'Religionsfreiheit' ihren Abschluss fand.

An diese Themenstellung schließt auch der Beitrag von Krista Zach (München) an, die die Rezeption der 'evangelischen Katechismusmodelle' behandelt. Da sich Zach mit den Übersetzungen in Volkssprachen und mit den moralischen Auswirkungen der Katechismen beschäftigt, ergänzt und erweitert sie die Studien von Márta Fata und Ulrich Andreas Wien. Im Unterschied zu Fatas Beitrag wird hier die Aufmerksamkeit auch auf die slawische Bevölkerung gelenkt.

Die Studien von Bálint Keserü (Szeged) und Péter Ötvös (Szeged) setzen sich mit der Rolle der Universität Wittenberg für die Ausbreitung der Reformation in Ungarn auseinander. Bálint Keserü schildert das Schicksal von Imre Újfalvi und versucht seine Rolle in der Bildung der reformierten Opposition zu bewerten. Péter Ötvös behandelt die Lage der Wittenberger Absolventen in Oberungarn und widmet seine Aufmerksamkeit vorwiegend deren kulturellem Schaffen. Erwähnenswert ist seine kritische Ablehnung des Konfessionalisierungsparadigmas, das er als etatistisch und teleologisch verurteilt. Eine ähnliche Themenstellung verfolgt der Beitrag von Robert Seidel (Frankfurt am Main), der sich mit der Integration Ungarns in die 'kalvinistische Internationale' befasst. [2] Bei ihm geht es dabei aber vor allem um die Rolle der Universität Heidelberg.

Katalin Németh (Budapest) berichtet über einen Quellenfund aus dem Ulmer Stadtarchiv. Sie hat hier die Handschrift einer Reisebeschreibung Ungarns von 1588 entdeckt. Die Verfasserin beabsichtigt die Quelle herauszugeben und ins Ungarische zu übersetzen. András Szabó (Budapest) versucht die Spuren von Georg Joachim Rheticus in Kaschau zu verfolgen. Achim Aurnhammer (Freiburg i.Br.) befasst sich in seinem Aufsatz mit dem Aufenthalt von Martin Opitz in Siebenbürgen 1622-1623, der sich auch in seiner Dichtung niederschlug. Aurnhammer erläutert dabei vor allem die politischen Zusammenhänge klar und zeigt unter anderem, wie Opitz' Dichtung für die Politik einer restitutio Dalmatiae instrumentalisiert wurde.

Der Sammelband bringt insgesamt viele einzelne Beobachtungen zur Reformation in Ungarn hervor. Das bildungshistorische Thema kommt anscheinend zu kurz, aber man kann die Reformation von der Bildungsgeschichte im 16. Jahrhundert nicht trennen. Der deutschsprachige Leser kann diesen Sammelband als Ergänzung zu der großen Synthese von Thomas Winkelbauer heranziehen. [3] Winkelbauers umfangreiches Werk bringt den 'mitteleuropäischen Ansatz' zum Ausdruck. Er behandelt die Länder der Monarchie in ihren Wechselwirkungen und vergleicht die Unterschiede in ihren Entwicklungen. Damit werden die böhmischen und ungarischen Länder in ihren historischen Kontext gesetzt und nicht als 'Ostmitteleuropa' isoliert. Diese Perspektive fehlt in den meisten Beiträgen dieses Sammelbands. Insbesondere die Ausführungen über die einmalige 'Religionsfreiheit' lassen außer Acht, dass man parallele Entwicklungen in den habsburgischen Ländern beobachten kann. Natürlich, nach 1620 beziehungsweise 1648 schlugen die 'deutschen Erbländer' einen anderen Weg ein. Auf der anderen Seite veranschaulichen diese Beiträge den internationalen Kontext der ungarischen Reformation, der bei Thomas Winkelbauer vernachlässigt wird.

Man sollte auch darauf hinweisen, dass der Ausdruck der 'Religionsfreiheit' für das 16. Jahrhundert nur mit einigen Vorbehalten zu verwenden ist. In der Tat ging es in dieser Zeit entweder um ein erzwungenes Miteinander von Konfessionen / Religionen oder um die Privilegierung von einigen Konfessionen/ Religionen. Der Begriff der Toleranz und Religionsfreiheit passt erst für die Maßnahmen in der Zeit der Aufklärung.

Ein anderer interessanter Aspekt ist die skeptische Einstellung der ungarischen Historikerinnen und Historiker zum Konfessionalisierungsparadigma. In den Staaten der ehemaligen Habsburgermonarchie wird dieses Konzept kaum herangezogen. Das geschieht sicher nicht ohne Grund. Paradoxerweise war die Lage in der ungarischen Monarchie und in Siebenbürgen noch komplexer und weniger überschaubar als im Alten Reich. Man hatte hier nämlich keine Reichsunmittelbarkeit, die Entscheidungen und 'Konfessionalisierungen' spielten sich auf der Ebene von Herrschaften, Städten und so weiter ab. Für die Beiträger in diesem Band lässt sich jedenfalls eine ablehnende Haltung zum Konfessionalisierungsparadigma feststellen. Manche berufen sich auf die konzeptuellen Schwächen des Konzepts, wie sie 1997 von Anton Schindling dargelegt wurden. [4] Als Gegenstück zu dieser Ansicht kann der Sammelband 'Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa' von Joachim Bahlcke und Arno Strohmeyer dienen. [5] Wie sich zeigt, sind offensichtlich beide Zugangsweisen plausibel.


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu auch ausführlicher Márta Fata: Ungarn, das Reich der Stephanskrone, im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Multiethnizität, Land und Konfession 1500-1700, Münster 2000.

[2] Dazu zuletzt Graeme Murdock: Calvinism on the Frontier 1600-1660. International Calvinism and the Reformed Church in Hungary and Transylvania, Oxford 2000.

[3] Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, 2 Bde., Wien 2004.

[4] Anton Schindling: Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: ders. / Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Alten Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 7, Münster 1997, 9-44.

[5] Joachim Bahlcke / Arno Strohmeyer (Hg.): Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur, Stuttgart 1999.

Ivo Cerman