Michael Viktor Schwarz / Pia Theis (Hgg.): Giottus Pictor. Band 1: Giottos Leben. Mit einer Sammlung der Urkunden und Texte bis Vasari, Wien: Böhlau 2004, 412 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77243-9, EUR 49,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Gabriele Köster (Hg.): Der Magdeburger Reiter. Bestandsaufnahme - Restaurierung - Forschung, Regensburg: Schnell & Steiner 2017
Anne Derbes / Mark Sandona (eds.): The Cambridge Companion to Giotto, Cambridge: Cambridge University Press 2004
Veronika Wiegartz: Antike Bildwerke im Urteil mittelalterlicher Zeitgenossen, Weimar: VDG 2004
Wilhelm Maier / Wolfgang Schmid / Michael Viktor Schwarz (Hgg.): Grabmäler. Tendenzen der Forschung an Beispielen aus Mittelalter und früher Neuzeit, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2000
Michael Viktor Schwarz: Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2002
Giottos Leben ist der erste Teil eines dreibändig angelegten Werks, dessen folgenden Bände "Giottos Werke" und "Giottos Nachleben" behandeln werden (7). Die Publikation bietet nach einer Einleitung und zwei Kapiteln - "Giottos Leben und Werk bei Ghiberti und Vasari" (13-34) sowie "Giottos Leben quellenkritisch" (35-76) - eine Quellensammlung, die den Zeitraum bis Vasari berücksichtigt (77-410, einschließlich eines Registers). Die im Titel angekündigte Darstellung der Lebensgeschichte des Malers umfasst also nur circa zehn Prozent des Gesamtumfangs. Die Einleitung ist von Michael V. Schwarz unterzeichnet. Pia Theis ist als "Mitautorin" ausgewiesen.
Die Einleitung informiert über die Ziele der beiden Kapitel: das erste ist der "Dekonstruktion jenes Giotto gewidmet, den die Renaissance imaginierte", das zweite liefert dann den "Rekonstruktionsversuch des historischen Giotto" (10). Beide Anliegen werden von einem zu polemischen Unterstellungen und Pauschalisierungen neigenden Unmut gegen die Giotto-Forschung getragen. Wiederholte Mahnungen zur Quellenkritik vermitteln den Eindruck, die Kunstgeschichte stecke auf diesem Gebiet immer noch in den Windeln. Als Quelleninterpreten positiv hervorgehoben werden nur Lionello Venturi, Peter Murray, Creighton Gilbert und Irene Hueck. Deren Beiträge änderten jedoch "nichts an dem Eindruck, dass der kunsthistorischen Giottoforschung eine realitätsabgewandte Grundtendenz eingelagert ist und sogar an Boden gewinnt" (78).
Die Dekonstruktion widmet sich im ersten Teil Ghiberti. Es handelt sich um einen als Fließtext präsentierten Stellenkommentar zu dem Giotto-Abschnitt der 'Commentarii'. Einschlägig Bekanntes wird zusammengefasst und durch vereinzelte Rekurse auf Jan Assmann und Wolfgang Iser mit zusätzlichen theoretischen Reflexionen versehen. Eine intensive Auswertung der älteren Literatur wurde nicht angestrebt und hätte auf den wenigen Seiten auch nicht dargelegt werden können. Die abschließende Würdigung Ghibertis ist wenig ambitioniert. Seine Ausführungen seien "keine Vita im eigentlichen Sinne": "Eine Nicht-Vita, sagen wir eine Laudatio, steht demnach am Anfang der Giotto-Viten" (27). Eine solche, die Problematik der Genese der neuzeitlichen Künstlervita eher enigmatisch verkürzende Bemerkung befremdet. Zur Kommentierung der Angaben zum Campanile des Florentiner Doms scheint ein Hinweis auf eine nicht berücksichtigte Textstelle wichtig. Ghiberti präzisiert die Nachricht, Giotto habe die ersten Reliefs gemeißelt, einige Seiten später mit der Variante: "Giotto si dice sculpì le prime due storie." [1]
Quellenkritisches Vasari-bashing reicht bis in die Anfänge der modernen Kunstgeschichtsschreibung zurück. Diese Tradition wird in Teil zwei der Dekonstruktion fortgesetzt. Was Vasari in den beiden Versionen seiner Giotto-Vita "literarisch gestalte", sei "weniger eindrucksvoll als durchschaubar" (27). Die neuere Vasari-Forschung könne denken, was sie wolle, das Ganze sei "für sich gesehen ein schlichtes Gebilde" (28). Auf sechs Seiten werden nur Ausschnitte des Forschungsstandes berücksichtigt. Neue Ergebnisse kritischer "Dekonstruktion" waren hier kaum möglich, da sich bereits im 19. Jahrhundert spätestens seit Gaetano Milanesi die ältere Forschung darum bemühte, nahezu jede urkundlich nicht überprüfbare Aussage anzuzweifeln.
Die abschließende Selbsteinschätzung des Dekonstruktions-Kapitels überrascht. Die "kritische Untersuchung der Viten Ghibertis und Vasaris" zeige, dass "hinter" diesen weniger "Realität" vermutet werden dürfe, "als sich das die Mehrheit der Giotto-Forscher vorstellt" (33). Wer die materialreichen und in einigen Problempunkten informativeren Giotto-Artikeln jüngerer Nachschlagewerke zur Hand nimmt, wird sich vergeblich fragen, wo diese Mehrheit bibliografisch zu greifen ist. [2]
Das folgende Kapitel der Rekonstruktion basiert auf einer Auswertung der im Quellenteil abgedruckten Texte. Es ist daher sinnvoll erst auf diesen einzugehen: Eine Zusammenstellung der biografischen Quellen zu Giotto hat es bisher nicht gegeben. Das Buch wird viele dankbare Leser finden und die Kenntnis der Giotto-Quellen auch über den Kreis der Spezialisten hinaus fördern. Es sind freilich nicht alle Quellen, die für Giotto und sein Schaffen wichtig sind, berücksichtigt: "Weggelassen" wurden "alle Schriftquellen, die sich auf Werke unseres Malers beziehen, aber den Namen Giottos nicht nennen". Im zweiten Band, in dem es um "Giottos Werke" geht, soll "einiges nachgereicht werden" (85). Es wurden aber auch einige literarische Quellen, die Giotto direkt erwähnen, nicht erfasst. Sie lassen sich in den vorhandenen Giotto-Bibliografien leicht auffinden
Die Gesamtzahl der Urkunden und Texte beeindruckt und lässt den enormen Umfang der quellenkritischen Aufgabe erahnen: Es sind 212, davon 153 Urkunden und Akten, 52 literarische Texte sowie 7 "zweifelhafte Quellen". Wer sich bisher mit den Urkunden eingehender befassen wollte, musste etliche, außerhalb Italiens in Bibliotheken zum Teil wenig verbreitete Publikationen zur Hand nehmen. Einige literarische Quellen, zu denen auch sehr bekannte Texte der frühen italienischen Kunstliteratur gehören, sind bereits in verschiedenen Anthologien in der Originalsprache (Latein, Italienisch) oder in Übersetzungen (Deutsch, Englisch) greifbar, aber immer nur in unzureichender Auswahl.
Auf eine chronologische Reihenfolge der Quellen wurde verzichtet. Man mag das bedauern, aber es ist auch nicht zu leugnen, dass eine ganze Reihe von Texten nicht hinreichend sicher datierbar sind. In Anlehnung an Johann Gustav Droysens "Historik" wurde das altehrwürdige Einteilungsschema in "Überrestquellen" und "erzählende Quellen" gewählt und jeweils in verschiedene Quellenarten weiter untergliedert (Überrestquellen: 126 Notariatsprotokolle, 7 Neapler Urkunden, 9 Verzeichnisse, 7 Testamente / Memoria, 2 Ernennungen, 2 Selbstzeugnisse - Erzählende Quellen: 10 Historiografien ("Florentiner Observanz"), 5 Historiografien (andere Orte), 10 Traktatliteratur, 6 Dichtungen, 8 Dante sowie seine Kommentatoren und Biografen, 4 Briefe, 6 Reiseführer / Ortsbeschreibungen, 3 Inschriften).
Die Ankündigung der Einleitung: "Die Quellen werden in Form von Kommentaren ausführlich kommentiert und auf ihre Genese und Aussagekraft hin bewertet" (10), weckt Erwartungen, die nicht in vollem Umfang eingelöst werden. Zwar wird man bei den Urkunden und Akten über die jeweiligen Anlässe, Verfahrensformen und Inhalte zumeist ausreichend informiert, aber die zum Teil sehr umfangreichen "erzählenden Quellen" werden nur in kurzen Textabschnitten erläutert (1/4 - 2 Seiten). Auf fortlaufende Stellenkommentare wurde zu Gunsten selektiver Bemerkungen zu überwiegend biografischen Aspekten verzichtet. Vieles, was von der bisherigen Forschung kommentiert und diskutiert wurde, bleibt dadurch unberücksichtigt. Wer sich mit diesen Texten kritisch auseinandersetzen möchte, wird dies auch weiterhin vorrangig mithilfe der ausführlichen Kommentare bisheriger Editionen tun müssen. Der Versuch einer Aufarbeitung der forschungsgeschichtlichen Rezeption der einzelnen Quellen ist - von vereinzelten Hinweisen abgesehen - unterblieben. Bedauerlicherweise werden vorhandene Beiträge der Forschung auch nur in spärlichem Umfang bibliografisch erschlossen. Einschlägige und für mehrere Texte wichtige Titel werden häufig nur einmal zitiert und nicht immer an den Stellen, wo man es erwarten könnte. Auf ein Verzeichnis der Forschungsliteratur wurde verzichtet. Aber vielleicht wird auch dieses in den späteren Bänden noch nachgereicht.
Die Anzahl der 153 schriftlichen "Überrestquellen" ist erstaunlich groß. Quellenkritische Recherchen zur Überprüfung von Vasaris Giotto-Vita setzten im 17. Jahrhundert mit Filippo Baldinucci ein. Er stellte bereits 28 Urkunden zum Leben des Malers zusammen (10-11). Weitere 34 wurden seit dem 19. Jahrhundert bekannt durch Funde von Carl Friedrich von Rumohr, Gaetano Milanesi, Heinrich Wilhelm Schulz, Camillo Minieri-Riccio, Matteo Camera, Nicola Barone, Carl Frey, Eugène Müntz, Iodoco del Badia, Giuseppe Baccini, Robert Davidsohn, Pietro Egidi, G. Mollat, Luigi Chiappelli, Igino Supino, Riccardo Filangieri, Robert Oertel, Valentino Martinelli, Marvin B. Becker, Creighton E. Gilbert, George. W. Dameron. Das bisher bekannte und ausgewertete Material wurde nun um 91 Neufunde vermehrt, die von Pia Theis im Rahmen eines Forschungsprojekts, gemacht wurden (7). Sie betreffen nahezu ausschließlich Grundstücksangelegenheiten Giottos und seiner Familie. Für die das Verständnis zahlreicher Werke belastenden Unsicherheiten bezüglich der Frage, wann sich Giotto wo aufhielt, liefern sie keine neuen Aufschlüsse, verdichten aber das Netz der Belege, die bezeugen, dass er 1318-1326 überwiegend in Florenz und Umgebung präsent war.
Dass gerade in der Behandlung der 52 literarischen Quellen das Bemühen um eine Erfassung des Forschungsstandes sehr gering blieb, erstaunt, da nicht nur die beiden von Salvini und De Benedictis erarbeiteten Giotto-Bibliografien, sondern zum Beispiel auch der kenntnisreiche und vollständigere Überblick von Enid T. Falaschi als Vorarbeiten genutzt werden konnten. [3] Konkrete Hinweise auf Weglassungen wären nützlich gewesen. Beachtung verdient hätte zum Beispiel eine Quelle, die erst in der jüngeren Literatur berücksichtigt wurde. In seinen Ricordi gibt der Florentiner Kaufmann Giovanni di Pagolo Morelli (1371-1444) eine Beschreibung seiner Schwester Mea di Pagolo, in der er die Schönheit ihrer Hände mit einem Hinweis auf Giotto hervorhebt ("tanto bene fatte che pareano dipinte pelle mani di Giotto"). [4]
Zurück zum zweiten Kapitel, in dem das Kernstück des gesamten Buches enthalten ist. Vorab wird gefragt: "Ist es sinnvoll, eine weitere Lebenserzählung zu entwerfen und so zu tun, als könnte man aus ca. 150 überwiegend dürren, teils fast aussagelosen Schriftquellen die Lebensgeschichte eines Menschen wiederherstellen?" (35). Es gibt Gründe für eine negative Beantwortung dieser Frage, weil das vorhandene schriftliche Material die künstlerischen Aktivitäten Giottos völlig unzureichend dokumentiert und vorrangig seine Belange als Grundstücks- und Immobilienbesitzer betrifft. Schwarz und Theis halten solche Bedenken nicht für ausreichend. Das Ergebnis ihrer Rekonstruktion ist daher ein "Wirtschaftssubjekt" (398), ein "Kapitalist und Spekulant von kleinem bis mittlerem Zuschnitt" (41) bzw. ein "Kleinkapitalist mit Grundbesitz" (69), der von ihnen zudem auch noch als eigenartiger Normal-Homunkulus präsentiert wird: "eine Normalexistenz, solange er keinen Pinsel in der Hand hatte", ein "Durchschnittsmensch" (9), "eine erfolgreiche Normalexistenz des 14. Jahrhunderts" (Klappentext). Sie haben zumindest teilweise die Problematik des Quellenbestands im Blick, denn sie hoffen "im zweiten Band, sobald es um Giottos Werke geht," zeigen zu können, "dass der Schnitt zwischen Biographie und Œuvre weniger schmerzhaft verläuft, als es jetzt scheinen mag" (85).
Der auf dem Klappentext formulierte Anspruch: "Auf der Grundlage teils unpublizierter Quellen aus der Lebenszeit des Malers wird die Biographie kritisch erarbeitet", erschöpft sich letztlich in einigen Ergänzungen und Präzisierungen, die neben den "Aktivitäten der Giotto-Familie als Grundbesitzer" (49) vor allem die Herkunft des Malers bzw. die seines Vaters betreffen. Der mit oder ohne quellenkritischen Vorbehalten in der Literatur tradierten Auffassung von der ländlichen Herkunft des Malers werden Dokumente entgegengehalten, die wahrscheinlich machen, dass dessen Vater Bondone ein in Florenz ansässiger Schmied war. Das reicht zwar nicht aus, um hinreichend zu belegen, dass Giotto "aller Wahrscheinlichkeit nach in der Metropole Florenz aufwuchs" (35). Es lässt sich nach wie vor nicht ausschließen, dass er seine frühe Kindheit in Vespignano (Mugello) verbrachte, zumal es damals offenbar durchaus üblich war, Stadtkinder zu einer Amme aufs Land zu geben. [5] Aber die neue Quellenlage spricht für die Herkunft aus einer städtischen Handwerkerfamilie, was für einen bildenden Künstler der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich ist (35). Alle weiteren Überlegungen zur möglichen Bedeutung des Florentiner Umfelds bleiben so unsicher wie bisher, da "mehr als die erste Hälfte des Lebens des Malers in Florenz nicht auf primäre Weise dokumentierbar ist" (40). Die erste Urkunde, die ihn in Florenz bezeugt, stammt vom 13. Dezember 1311 (103). Schwarz und Theis beurteilen die Problemlage optimistischer: "Dass das für Giottos Kindheit charakteristische Hintergrundgeräusch nicht, wie Ghiberti wollte, das Blöken von Schafen, sondern das Klingen der Hämmer war, ist kein nebensächlicher Umstand" (36). Einsichten in psycho-soziale Zusammenhänge der Art wie: "in einer Schmiede aufwachsen [hieß,] einen Glauben an Machbarkeit zu entwickeln", wecken allerdings eher Skepsis (36). Ansonsten folgt die "Rekonstruktion des historischen Giotto" im Wesentlichen den von der Giotto-Forschung erarbeiten Ergebnissen. Gesondert behandelt werden dann aber noch zwei literarische Zeugnisse: das unter Giottos Namen überlieferte "Lied gegen die Armut" und die den Maler betreffende Novelle aus Boccaccios Dekameron.
An Giottos Autorenschaft der Canzone "Molti sono que che lodan povertate" hat die Forschung im 20. Jahrhundert überwiegend gezweifelt, nachdem sie im 19. Jahrhundert glaubhaft angesehen worden war. Das Problem besteht darin, dass das Gedicht selbst keinen Anhaltspunkt für die Autorschaft Giottos oder überhaupt eines Malers liefert, und dass die überlieferte Zuschreibung durch kein anderes Dokument bestätigt wird. Giovanni Previtali, der seine Auffassung von Giottos Weltbild durch die Canzone bestätigt sah, diskreditierte die vorherrschende Skepsis kurzerhand mit der - anhand der älteren Giotto-Forschung kaum belegbaren - Behauptung, diese resultiere aus der "legenda romantica dell'artista mistico". [6] Schwarz und Theis variieren und konkretisieren diese Argumentation (ohne Hinweis auf Previtali), indem sie erneut der Giotto-Forschung eine Tendenz zu quellenkritischer Ignoranz zuschreiben. Die Canzone würde "selten zitiert und interpretiert - oft [...] ignoriert", weil "man Giotto-Mythen der historischen Überlieferung zu Giotto" vorziehe (69). Verantwortlich hierfür sei Henry Thodes Buch "Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance". Es fällt schwer, dieser Sicht zu folgen. Zu einem hat sich Thode in dieser Publikation ausdrücklich für Giottos Autorschaft ausgesprochen und auch in seinem Giotto-Buch hat er die Bedeutung des Gedichts als Zeugnis für die Kenntnis der Persönlichkeit des Malers hervorgehoben. Zum anderen ist es in der neueren Literatur keineswegs üblich, Thodes Glauben an die "sittlich hohe Anschauung" des Malers als eine "bedeutsame Vertiefung" unserer Kenntnisse zu zitieren. [7] Schwarz und Theis vertreten die Auffassung, Giotto habe mit seinem Gedicht kaum etwas anders ausdrücken wollen, als einen "Anspruch auf Zugehörigkeit zur kommunalen Elite", und da er zu den "Kleinkapitalisten mit Grundbesitz" gehört habe, sei es nicht erstaunlich, dass er "franziskanische Wertvorstellungen mit einiger Böswilligkeit ablehnte" (69). Es ist fraglich, ob mit Interpretationsansätzen dieser Art bereits ein Niveau kritischer Reflexion erreicht ist, das angemessene Perspektiven zu einem neuen Verständnis des "historischen Giotto" ermöglicht.
Angesichts der in quellenkritischer Orthodoxie fundierten Fixierung auf die vorhandenen 150 urkundlichen Primärquellen überrascht auch die Einbeziehung von Boccaccio. Sie wird mit dem Hinweis begründet, Giotto habe in der Novelle einen "wirklich sprechenden Auftritt als literarische Figur". Es sei wahrscheinlich, dass "Ähnlichkeit" mit dem realen Giotto intendiert sei (73). Die Geschichte schildert den Maler als hässlichen Mann, der in einem Gespräch mit Forese da Rabatta Witz und Schlagfertigkeit unter Beweis stellt. Es ist bisher bekannt, dass Forese tatsächlich existierte und im Mugello über Grundbesitz verfügte. Schwarz und Theis können ihn nun anhand einer neu gefundenen Urkunde sogar im "nachbarlichen Umfeld der Giotto-Familie in Vespignano" lokalisieren (73 und 203). Das und die Überzeugung, Boccaccio habe Giotto "mit ziemlicher Sicherheit persönlich gekannt" (73), lassen sie nun annehmen, dass das "Giotto-Bild im Dekameron Realität wiedergibt" (75). Unverständlich bleibt, warum sie in diesem Zusammenhang nicht erwähnen, dass hässliches Aussehen und insbesondere auch Witz zu den geläufigen Elementen der Charakteristik bildender Künstler gehörten und im Trecento offenbar vor allem durch eine Anekdote des Macrobius (Saturnalien II, 2, 10) bekannt waren. [8] Ebenso hätte man gerade auch hier eine angemessene Würdigung der bisherigen Forschungsdiskussion oder doch wenigstens einen Hinweis auf die vielbeachtete Studie von Andrew Ladis [9] erwarten können.
Das Buch hat durch die Neufunde von Pia Theis die Kenntnisse zu "Giotto als Wirtschaftssubjekt" bereichert, und die vorgelegte Urkunden- und Textsammlung wird für jeden, der die zahlreichen Quellentexte zu Giotto bequem konsultieren möchte, ein willkommenes Hilfsmittel sein. Für die nächsten beiden Bände wünscht man sich vom Hauptautor Michael V. Schwarz einen sorgfältigeren und offeneren Umgang mit der Forschungsliteratur.
Anmerkungen:
[1] Lorenzo Ghiberti: I commentarii, hrsg. von Lorenzo Bartoli, Florenz 1998, 90.
[2] Alessandro Tomei: Giotto, in: Enciclopedia dell'arte medievale, Bd. 6, Rom 1995, 649-675; Creighton E. Gilbert: Giotto, in: Dictionary of Art, ed. Jane Turner, Bd. 12, Chicago 1996, 681-696.
[3] Enid T. Falaschi: Giotto. The Literary Legend, in: Italian Studies 27 (1972), 1-27.
[4] Bruce Cole: Morelli Mea e Giotto, in: Apollo 113 (1981), 113-114; Giuliano Ercoli: Una precisazione per Giotto, Boccaccio e Giovanni di Pagolo Morellli, in: Scritti di storia dell'arte in onore di Roberto Salvini, Florenz 1984, 197-201.
[5] Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, 47 (mit Hinweisen auf die sozialhistorische Forschungsliteratur).
[6] Giovanni Previtali: Giotto e la sua bottega, 3. Aufl., Mailand 1993, 134; Previtali stützt sich auf Ausführungen von Natalino Sapegno: Poeti minori del Trecento, Mailand / Neapel 1952, 439-442.
[7] Henry Thode: Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien (1885), Wien 1934, 512-513; ders.: Giotto, Bielefeld / Leipzig 1910, 97.
[8] Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler (1934), Frankfurt 1980, 131 und 147.
[9] Andrew Ladis: The Legend of Giotto's Wit and the Arena Chapel, in: Art Bulletin 68 (1986), 581-596.
Peter Seiler