Esther Lehnert: Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie "minderwertig" im Nationalsozialismus. Öffentliche Fürsorgerinnen in Berlin und Hamburg im Spannungsfeld von Auslese und "Ausmerze" (= Wissenschaft; 69), Frankfurt/Main: Mabuse 2003, 334 S., ISBN 978-3-935964-32-6, EUR 33,00
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Auf der Basis des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" von 1933 wurden bis zum Ende des NS-Regimes etwa 400.000 Menschen im Deutschen Reich sterilisiert - in aller Regel gegen ihren Willen. Wesentliche Voraussetzung für die rigorose Umsetzungspraxis war die Erfassung der so genannten "Erbkranken", also das Aufspüren und Registrieren potenziell Betroffener, die als genetisch "minderwertig" eingestuft und zur Sterilisation gemeldet werden konnten. Dieser für das NS-Sterilisationsprogramm zentrale Vorgang und die dafür Verantwortlichen wurde bislang nur hinsichtlich beteiligter Institutionen (staatliche Gesundheitsämter, Jugendämter) oder mit Blick auf die mitwirkenden Ärzte (Amtsärzte, Fürsorgeärzte des psychiatrischen Außendienstes usw.) untersucht. Bisher keine Beachtung fanden dagegen die zahlreichen medizinischen Laien aus Verwaltung, Wohlfahrt, Sozialfürsorge, kirchlichem Bereich etc., die bei der Erfassung mithalfen.
In der erziehungswissenschaftlichen Dissertation von Esther Lehnert über die "Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie 'minderwertig' im Nationalsozialismus" wurde nun erstmals eine solche Berufsgruppe in den Blick genommen. Tatsächlich spielten die im alltäglichen Kontakt mit der Klientel der kommunalen Wohlfahrtsämter stehenden Sozialfürsorgerinnen bei der Durchführung des Sterilisationsgesetzes eine nicht unbedeutende Rolle: Wie die Rezensentin in Einzelfallakten aus Sterilisationsprozessen selbst feststellte, wurden die Berichte von Fürsorgerinnen in Erbgesundheitsverfahren nicht selten bis in oberinstanzliche Gerichtsurteile hinein als Belege für die "erbbiologische Minderwertigkeit" der betreffenden Sterilisationskandidaten zitiert. Lehnerts Buch verspricht daher spannende neue Befunde über die konkrete Mitwirkung dieser Nicht-Medizinerinnen an der eugenischen Zwangssterilisation im "Dritten Reich".
Leider werden diese Erwartungen nur teilweise erfüllt. Auf über 200 von knapp 280 Seiten des Haupttextes legt Lehnert zunächst auf der Basis der Sekundärliteratur die Geschichte des Fürsorgeberufs, die Entwicklung des Wohlfahrtssystems, die Entstehung und Inhalte der Eugenik, wichtige Maßnahmen der NS-Erbgesundheits- und Sozialpolitik sowie die Konkurrenzsituation zwischen kommunalen Fürsorgeeinrichtungen und Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt (NSV) dar. Geschichte und Bedeutung des - immerhin prominent im Buchtitel genannten - Begriffs "Minderwertigkeit" als soziale und medizinische Kategorie erläutert sie dagegen nicht. Der Rolle der Fürsorgerinnen bei "Bildung und Umsetzung" dieser Kategorie geht Lehnert dann auf der Basis von sieben "fürsorgerischen Gutachten" aus Hamburg nach, die sie in Auszügen präsentiert und qualitativ analysiert.
Dass in Hamburg Familienfürsorgerinnen "direkt und unmittelbar als Gutachterinnen" (196) bei der Zwangssterilisation mitwirkten, stellt offenbar eine regionale Besonderheit dar: Wurden andernorts lediglich Standardberichte von Fürsorgerinnen etwa über Hausbesuche in die erbgesundheitsgerichtliche Ermittlungsarbeit einbezogen, so ließ man in Hamburg jeweils gezielt durch die Familienfürsorge prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Sterilisationsantrag gegeben schienen. In ihren Gutachten nahmen die Fürsorgerinnen sowohl zur sozialen Situation als auch zur körperlichen und geistigen Entwicklung ihrer Klienten Stellung, und orientierten sich bei ihrem Urteil - wie Lehnerts Fallbeispiele nahe legen - vor allem an vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und persönlichen Vorlieben. So stuften die Fürsorgerinnen stets solche Menschen als "minderwertig" ein, deren Verhalten den eigenen Vorstellungen nicht entsprach, weshalb sich ihr diagnostisches Vorgehen letztlich kaum von dem der ärztlichen Gutachter unterschied. Von besonderem Interesse ist der von Lehnert als siebtes Beispiel präsentierte Fall einer wegen "Erbminderwertigkeit" zur Sterilisation vorgesehenen "nationalsozialistische[n] Musterfamilie" (259-263), denn er zeigt, dass sich die soziale und die medizinische Kategorie der "Minderwertigkeit" keineswegs völlig deckten.
Die im Hinblick auf die Wirkmacht fürsorgerischer Minderwertigkeits-Vorstellungen nicht uninteressante Frage nach den Auswirkungen dieser Gutachten auf den Ausgang der Gerichtsverfahren spart Lehnert bewusst aus. Sie hätte sich mit der geringen Zahl von ihr gefundener Gutachten auch kaum zufriedenstellend beantworten lassen. Was ihre Studie gleichwohl bietet, ist eine eindrucksvolle Schilderung der Schlüsselfunktion, welche die in Fremd- und Selbstwahrnehmung häufig als "unpolitische Helferinnen" empfundenen Fürsorgerinnen in der nationalsozialistischen Sterilisationspolitik innehatten. Mit der Familienfürsorge und dem Pflegeamt präsentiert Lehnert zudem zwei wichtige fürsorgerische Tätigkeitsbereiche, in denen die Fürsorgerinnen an der "Umsetzung" eugenischer Kategorien mitwirkten.
Astrid Ley